Interview mit Judit Polgar

von Manuel Weeks
28.09.2016 – Judit Polgar war ein Schachwunderkind und die einzige Frau, die es im Schach bis in die Weltspitze geschafft hat. Nach der Schacholympiade in Tromsö zog sie sich vom aktiven Turnierschach zurück, blieb dem Schach aber natürlich treu. Seit ein paar Jahren ist sie Cheforganisatorin eines großen Schachfamilienfestes in Budapest. Bei der Schacholympaide in Baku war sie Kapitän der ungarischen Mansnchaft. Manuel Weeks sprach mit der berühmtesten Schachspielerin der Welt. Mehr...

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Legendäre Spielerin, Organisatorin und nun auch Kapitän: Interview mit Judit Polgar

Fotos, wenn nicht anders angegeben: Judith Polgar und Global Chess

Beim Captain's Meeting zu Beginn der Schacholympiade in Baku 2016 sah man die Gesichter vieler berühmter Großmeister, die jetzt als Mannschaftsleiter tätig waren. Eine der berühmtesten dieser vielen Schachpersönlichkeiten war Judit Polgar, die zu einer ganzen Reihe von Themen dezidierte Ansichten vertritt. Eins war klar: Judit war nicht nach Baku gekommen, um hier Urlaub zu machen!

Im weiteren Verlauf der Olympiade sah man, wie sehr sie ihr Team unterstützte. Bei den Kämpfen stand sie hinter ihren Spielern und wirkte so konzentriert, als würde sie selber spielen. Brauchte jemand Kaffee, dann holte Judit Kaffee! Hatte einer ihrer Spieler eine schlechte Stellung, dann schien sie mitzuleiden.

Jetzt, nach Ende der Olympiade, wollte ich die Gelegenheit nutzen, um Judit in einem Interview über Baku und ihr Team zu befragen. Aber natürlich auch über ihre andere große Leidenschaft, das Jugendschach und ihr Global Chess Festival, das ihr sehr am Herzen liegt. Judit hat sich vom Turnierschach zurückgezogen, aber sie ist immer noch so aktiv wie früher!

Judit, wie bist du Kapitän der ungarischen Mannschaft in Baku geworden?

Nach der Schacholympiade in Tromso 2014 habe ich mich vom Turnierschach verabschiedet. In Tromso habe ich mit der ungarischen Mannschaft im Open Silber gewonnen und das war wunderbar! Kurz darauf fragte mich der Ungarische Schachverband, ob ich die ungarische Mannschaft als Kapitän unterstützen wollte – ich kannte die Mitglieder der Nationalmannschaft sehr gut, denn ich habe schon Jahrzehnte mit ihnen und gegen sie gespielt. Doch es fiel mir nicht leicht, dieses Angebot zu akzeptieren, denn wenn ich mich für etwas entscheide, will ich immer mein Bestes geben. Aber schließlich habe ich „Ja“ gesagt.

Ich tue alles, um den Spielern zu helfen, aber während der Partien scheint mir die emotionale Unterstützung das Wichtigste zu sein, den Spielern das Gefühl zu geben, man kümmert sich um alles, damit sie sich voll und ganz auf die Partie konzentrieren können. Als die Mannschaft im November 2015 nach großem Kampf Bronze gewonnen hat, war ich wirklich stolz auf mein Team!

Hat sich das nach all den Jahren als aktive Spielerin wie eine natürliche Entwicklung angefühlt?

Nicht unbedingt.

Diese Frage muss ich stellen. Hattest du während der Partien je den Wunsch (den viele Kapitäne haben!) dich ans Brett von einem der Spieler zu setzen, um ihm zu zeigen, wie es geht!

Interessanterweise hatte ich während der Partien nie den Wunsch, mich bei jemandem ans Brett zu setzen, um den richtigen Zug zu machen (lächelt). Als Kapitän muss man das Gesamtgeschehen im Auge behalten. Außerdem hat man andere Aufgaben, bei denen Fehler verhängnisvoll sein können – zum Beispiel, wenn man vergisst, die Aufstellung rechtzeitig abzugeben. Aber nach den Partien habe ich natürlich mit den Spielern analysiert.

Hast du dich auch manchmal aktiv an der Vorbereitung beteiligt? Wenn die Frage erlaubt ist … hast du z.B. Richard Rapport je gesagt, dass er seinen h-Bauern eine gewisse Zahl von Zügen einfach nicht anfassn soll? Schließlich ist die Olympiade ein Mannschaftswettbewerb!

Judit Polgar, Foto: André Schulz

Ich war immer der Ansicht, dass Schach eine Einzelsportart ist, aber bei der Olympiade spielt man natürlich als Mannschaft. Normalerweise kämpfen Schachspieler alleine. Und bei Mannschaftswettbewerben im Schach gibt es ein Phänomen, das manche Spieler leicht vergessen: wenn man ein schlechtes Turnier spielt, aber deine Mannschaftskollegen gut in Form sind, dann kann man trotzdem zum Helden avancieren, wenn man eine einzige entscheidende Partie gewinnt (lächelt). (MW: Wer errät, auf welche Partie Judit hier anspielt?) Ich betrachte es vor allem als meine Aufgabe, meine Mannschaft psychologisch zu unterstützen, allerdings helfe ich manchmal natürlich auch bei der konkreten schachlichen Vorbereitung.
Die ungarische Mannschaft wirkt wie ein eingeschworenes Team. Kannst du uns ein bisschen mehr über Spieler und Mannschaft verraten?

Leider fehlte Peter Leko in Baku. Aber trotzdem sind wir mit einem großartigen Team an den Start gegangen. Rapport ist phantastisch talentiert, aber leider hat er während der Olympiade gerade eine sehr schwierige Phase durchgemacht. Aber ich bin sicher, dass in er Zukunft noch phantastische Turniere spielen wird. Die Olympiade kam für ihn einfach zur falschen Zeit.

Berkes hat am zweiten Brett sehr solide gespielt, und Almasi, für den es bereits die elfte Olympiade war, hat dieses Mal aus taktischen Gründen an Brett drei gespielt. Wie sich gezeigt hat, war das genau richtig für ihn – mit seinem starken und energischen Spiel hat er die Silbermedaille für das zweitbeste Ergebnis am dritten Brett gewonnen.

Auch Balogh hat ein gutes Turnier gespielt. Newcomer in der Mannschaft war Gledura. Er ist erst 17 Jahre alt, aber er ist sehr motiviert und hat die richtige Einstellung für Mannschaftswettbewerbe. Natürlich muss er noch stärker werden und Erfahrungen sammeln, um bessere Ergebnisse zu erzielen und seine Elo-Zahl zu steigern.

Zurab Azmaiparashvili, Kirsan Ilyumzhinov, Zurab Pataradze, Vorsitzender der Bezirksverwaltung von Adjarien und Judith Polgar, Foto: Maria Emelianova

Zoltan (Almasi), der zu deiner Generation von Spielern gehört, war der beste Spieler im ungarischen Team. Viele “reife” Spieler haben bei der Olympiade in Baku sehr gut gespielt. Zählt Erfahrung in diesen Zeiten noch etwas?

Ja, tatsächlich ist es interessant, welche Rolle Wissen und Erfahrung beim Schach spielen. Wenn ein Spieler mit viel Erfahrung physisch gut in Form und mental gut vorbereitet ist und er oder sie ausreichend Schlaf bekommt, dann kann er oder sie phantastische Ergebnisse erzielen. Natürlich braucht man eine Menge Energie, um gut zu spielen. Manche älteren Spieler vermeiden theoretische Duelle und forcierte Varianten und streben stattdessen in der Eröffnung einfach nach einer spielbaren Stellung. Vielleicht zeigt sich dann, dass sie mehr vom Schach verstehen.

Kannst du uns noch mehr über Benjamin Gledura verraten?

Er ist 17 Jahre jung, liebt das Schach, arbeitet sehr hart und ist sehr ehrgeizig. Seine Einstellung ist für das Turnierschach sehr gut geeignet. Ich glaube, er wird seine Elo-Zahl noch weiter verbessern und auf mindestens 2650 kommen.
Welchen Eindruck hattest du von der Stadt Baku? Bist du vorher schon einmal dagewesen?

Ich war zum zweiten Mal da und die Stadt ist wundervoll. Ich würde mich freuen, noch einmal als Touristin mit mehr Zeit nach Baku zu kommen.

Welchen Eindruck hattest du von der Organisation der Olympiade? Wie war diese Olympiade im Vergleich zu den vielen anderen Olympiaden, bei denen du schon dabei warst?

Ich habe in zehn Olympiaden gespielt. An Thessaloniki habe ich sehr gute Erinnerungen, weil wir so gut abgeschnitten haben. Die Olympiade in Bled habe ich geliebt, weil ich ein Teil der Mannschaft war, die die Silbermedaille im Open gewonnen hat. Was die Spielbedingungen und die Organisation betrifft, war Khanty-Mansysk meiner Meinung nach phantastisch und auch Baku hatte phantastische Spielbedingungen. Der Spielsaal war großzügig, man hatte viel Platz.

Ich bin sicher, du hast die Partien vieler anderer Mannschaften und Spieler verfolgt. Wer hat dich in Baku besonders beeindruckt?

Torre und Almasi (lächelt)

Nach der Olympiade in Tromsö hast du deinen Rückzug vom Turnierschach verkündet. Aber seitdem arbeitest du mehr denn je. Du bist z.B. die treibende Kraft beim Global Chess Festival in Budapest, das sich bereits einen Namen gemacht hat. Wie ist die Idee zu diesem Festival entstanden?

Das fing vor zehn Jahren mit einem schönen Nachmittagssimultan an. Meine beiden Schwestern, Susan und Sofia, und ich waren gleichzeitig in Budapest und spielten ein Simultan an Hundert Brettern. Ein Jahr später wiederholten wir dieses Simultan und auch die Jahre danach. Aber irgendwann genügte mir das nicht mehr und ich wollte mehr mit dem Schachbrett anfangen als nur Schach darauf zu spielen. Deshalb fing ich 2011 an, zu überlegen, welche Möglichkeiten das Schach Kindern noch bietet. So entstanden das interaktive Brett, die handgearbeitete Schachkrone, das Vertrauensschach, bei dem alle Figuren die gleiche Farben haben oder die Idee, einen Künstler zu bitten, mich während eines Simultans zu malen. Oder Lebendschach mit Kindern, die Kostüme tragen, Schachanfängerkurse für Kinder, Begegnungen zwischen den Generationen, bei denen Mutter, Sohn und Enkel ein Team bilden, ein Turnier für Kinder, Schachpuzzle, usw.
Ich möchte möglichst viele Dinge zeigen, bei denen Schach eine Rolle spielt, z.B. Schachschokolade, Schachmarzipan oder eine handgemalte Schachfigur. Wir veranstalten auch eine Fundraising-Gala, bei der alle Künstler, mit denen ich arbeite, ein Kunstwerk mit Schachmotiven anfertigen.

Sofie Polgar

Welche zukünftigen Ziele hast du in Bezug auf das Festival?

Ich möchte zeigen, wie nachhaltig das Schach in vielen ganz unterschiedlichen Bereichen wirkt: “Schach verbindet” und das stimmt für viele von uns. Durch Erziehung, Geschichte, Kunst, Sport, als Spiel, Wissenschaft. Schach ist eine gemeinsame Sprache, eine Form der Kommunikation, Schach hilft Kindern, denken zu lernen und Schach ist auf die eine oder andere Weise Teil jeder Kultur.

Auf der Schachlandkarte auf der offiziellen Webseite des Global Chess Festivals würde ich gerne Millionen von Menschen sehen. Außerdem würde ich gerne jedes Jahr den zweiten Samstag im Oktober zu einem Tag werden lassen, an dem das Schach gefeiert wird. Auf unserer Seite zeigen wir so viele Veranstaltungen wie möglich, um zu zeigen, wie viele Leute am gleichen Tag Schach spielen. Millionen von Menschen spielen dieses Spiel oder schauen zu. So viele Menschen lieben es – es hat so viele Facetten.

Was passiert während des Festivals in Budapest und an anderen Orten?

Das Global Chess Festival findet in Budapest statt und wir erwarten wieder Tausende von Gästen. Das Festival findet an einem arbeitsfreien Tag statt und bietet für die ganze Familie und jeden Einzelnen etwas, denn für viele der Aktivitäten muss man gar kein Schach können. Teil des Programms sind der Schachpalast, in dem Kinder zahlreiche Spiele ausprobieren können, die auf Schachregeln basieren, außerdem spielen meine Schwester Sofia und ich simultan und es gibt den Highlander Cup, wo der Vorjahressieger GM Rustam Kasimdzhanov und Boris Gelfand die Stars sind. Almasi, Gledura, Berkes, Thanh Trang Hoang, unser erstes Brett bei den Frauen, Gabor Papp and Gergely Antal nehmen ebenfalls teil.
Dieses Turnier zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass „Winner takes all“ gilt – der Sieger bekommt das gesamte Preisgeld! Gespielt wird mit einer Bedenkzeit von 10 Minuten für die gesamte Partie plus einem Bonus von 5 Sekunden pro Zug. Das verspricht Spannung und gefällt dem Publikum.

Dann gibt es Vorführungen auf der Bühne, unseren Schachsong, eine Reihe von Schulen zeigen Vorführungen, bei denen Schach Thema ist. Außerdem kommen eine ganze Reihe von Sportlegenden und Olympiastars auf die Bühne, es gibt ein Schachquiz, Schachunterricht von Sofia, ein Frage & Antwort Spiel, und noch viel mehr.

Es gibt Essen, Kuchen, Workshops, Keramikmalerei, ein Schachpalast-Cup für Kinder, einen Internet-Wettkampf zwischen Jugendlichen aus den USA und aus Ungarn und noch weitere Aktivitäten. Wichtig ist, dass die Kinder und ihre Familien mit dem Gefühl nach Hause gehen, dass sie etwas Denkwürdiges erlebt haben und sagen, “Wow, Schach ist nicht langweilig, Schach macht Spaß.” Schach hat viele Gesichter. Ist es ein Spiel? Ein Sport? Kunst? Ich glaube, Schach ist etwas Besonderes, denn es ist ein altes Spiel, das Millionen von Menschen interessant und inspirierend finden. Ganz unterschiedliche Menschen spielen Schach: Künstler, Filmemacher, Handwerker, usw. All das wird LIVE auf Ungarisch und Englisch übertragen, damit auch die, die selber nicht in Budapest beim Festival dabei sein können, einen Eindruck von der Veranstaltung bekommen.

Welche Ziele würdest du gerne langfristig erreichen?

Ich möchte die 1000 unterschiedlichen Gesichter des Schachs zeigen, die enorme Vielfalt des Spiels.

Hoffst du, das nächste “Wunderkind” zu entdecken und zugleich weltumspannend das Schach zu feiern?

Mir gefällt es, dass die Leute, die das Festival besuchen, sich freuen, lächeln und glücklich sind, denn ich glaube, diese Erfahrung ist das Schönste und Wertvollste, was man geben kann, denn man wird sich immer an dieses Gefühl erinnern. Und ich kann durch das Spiel, das ich am meisten liebe, zu diesem großartigen Gefühl beitragen. Deshalb gefallen mir alle die kleinen Details des Festivals.

Was können Veranstalter und Organisatoren auf der ganzen Welt tun, um sich am Festival zu beteiligen?

Wir bieten eine Plattform für Leute, die Teil einer Gemeinschaft werden wollen, die wir auf der Landkarte des Schachs errichten. Man kann sich als Teil der Schachgemeinschaft fühlen. Jeder, der ein Turnier am gleichen Tag organisieren möchte, ist willkommen, und wir freuen uns, das auf unserer Webseite mit der Welt zu teilen. Ich würde mich freuen, wenn Vereine oder kleine Orte dadurch inspiriert werden, sich an der Veranstaltung zu beteiligen, damit sie durch unsere Webseite bekannter werden. Wir hoffen, dass dies eine Möglichkeit ist, mit der kleinere Veranstaltungen auf sich aufmerksam machen können.

Welche Botschaft möchtest du vermitteln?

Ich möchte die Botschaft senden, dass Schach etwas ist, das die Menschen lieben, und wenn Schach schön “serviert” wird, dann spricht es auch Leute an, die kein Schach spielen.

Ich wünsche mir sehr, jungen Menschen zu zeigen, dass Schach Spaß macht. Dass es Spaß macht, zu denken und zu spielen, sich selbst herauszufordern, kreativ zu sein. Schach kann der ganzen Familie Spaß machen, den unterschiedlichen Generationen, Schach kann aufregend sein. Schach ist ein phantastisches Strategiespiel, ein Spiel, das zu kennen sich lohnt, da es Teil der Kultur ist. Wenn Schach kreativ organisiert und mit anderen Elementen verbunden wird, dann kann es phantastisch viel Spaß machen und einen Ort bieten, an dem sich viele Menschen begegnen.

Judit, vielen Dank für das Gespräch!

Die offizielle Seite des Global Chess Festivals: www.globalchessfestival.com

Falls Sie in Verbindung mit dem Festival treten wollen, können Sie Ihren Platz auf der “Schachlandkarte” einnehmen – Sie bekommen dann interessante Fragen gestellt. Außerdem können Sie Judit Polgar Fragen stellen. Die interessantesten Fragen beantwortet sie in der LIVE-Übertragung.

Postscript von Manuel Weeks:

Ich habe Judit zum ersten Mal getroffen, als sie zehn Jahre alt war und mit ihren Eltern nach Australien gereist ist. Seitdem habe ich sie im Laufe der Jahre – fast drei Jahrzehnte lang! – immer wieder bei Turnieren getroffen! Als Förderer des Jugendschachs in Australien und auf der ganzen Welt unterstütze ich Initiativen wie das Global Chess Festival gerne. Ich selbst habe meine engsten und längsten Freunde durch das Schach kennengelernt und jetzt kann ich Judit in Budapest während des Global Chess Festivals besuchen, was zeigt, dass die Welt wirklich klein ist, und dass Schach uns alle verbinden kann!

Übersetzung: Johannes Fischer

 


Manuel war Internationaler Schiedsrichter, Nationaltrainer bei einer Reihe von Juniorenweltmeisterschaften, Pressesprecher, Turnierleiter bei zahlreichen Turnieren und hat das australische Open Team in elf Olympiaden als Kapitän begleitet. Direkt nach der letzten Olympiade in Tromso, ist er nach Mainz gefahren, um dort seine deutsche Frau Brigitta zu heiraten. Die beiden leben in London.

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