Interview mit Karpov

von ChessBase
17.11.2004 – Neben Dreevs Schwarzsieg gegen Morozevich war gestern im Moskauer Hotel Rossija das Auftauchen von Anatoli Karpov (Foto: Karpov mit Ehefrau Natalia) die größte Überraschung der zweiten Runde. Einen Tag vor Beginn des Turniers hatte der 12. Weltmeister sich wegen dringender "geschäftlicher Verpflichtungen" noch entschuldigen lassen. Im Interview mit Dagobert Kohlmeyer machte er nähere Ausführungen dazu und deutete außerdem an, dass seine fehlende Form möglicherweise eine weitere Rolle gespielt haben könnte. Von Kramniks Absage zeigte sich Karpov wenig überrascht. Wer gerade einen WM-Kampf bestritten hätte, könne nicht kurz danach noch ein Turnier spielen. Interview mit Karpov...

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

„Ich verstehe, dass ich meine Fans enttäuscht habe“
Interview mit Anatoli Karpow

Von Dagobert Kohlmeyer


Märchenhaftes Russland: Die Basilius-Kathedrale auf dem Roten Platz

Die Überraschung der zweiten Runde in Moskau war neben Alexander Morosewitschs Weiß-Niederlage gegen Alexej Drejew das Auftauchen von Anatoli Karpow im Turniersaal. Er hatte mit seiner kurzfristigen Absage einen Tag vor Beginn der russischen Supermeisterschaft für großen Wirbel gesorgt und von allen Seiten scharfe Kritik einstecken müssen. Nichtsdestoweniger präsentierte sich Karpow am Dienstag gemeinsam mit Ehefrau Natalja gut gelaunt vor den Zuschauern und Medienleuten. Dagobert Kohlmeyer nutzte die Gelegenheit und bat den viel Gescholtenen, sein Verhalten zu erklären.


Anatoli Karpow mit Ehefrau Natalja

Anatoli, warum erfolgte dein Rückzieher so kurz vor der Meisterschaft?

In letzter Minute habe ich verstanden, dass ich nicht Schach spielen kann. Ich bin nicht in guter Form, und mir fehlt auch die Zeit. Es warten zu wichtige andere Dinge auf mich. 

Welche Dinge sind das?

Verschiedenste Aufgaben geschäftlicher und gesellschaftlicher Art, die am Ende eines langen und stressigen Jahres noch zu bewältigen sind. Da kann man Schachwettkämpfe auf höchstem Level einfach nicht mit der notwendigen Konzentration bestreiten.

Was für Aufgaben sind das genau: Hängen sie vielleicht mit deinem Einstieg ins Autogeschäft zusammen?

Ja, auch. Seit einiger Zeit unterstütze ich maßgeblich eine Firma, die einen russischen Kleinwagen herstellt. Er wird im Autowerk von Tula gebaut, und wir haben derzeit alle Hände voll zu tun.

Nun gut, aber man kann doch unabhängig davon seine Schachwettkämpfe langfristig planen...

Der Zeitpunkt des Turniers war aus meiner Sicht ungünstig. Das Jahr geht zu Ende, und es bleibt nicht mehr viel Zeit, die notwendigsten Dinge zu erledigen. In Russland feiern die Leute den Jahreswechsel praktisch von Mitte Dezember an bis in den Januar hinein. Keiner geht in dieser Zeit arbeiten. Deshalb bin ich, was meine geschäftlichen Dinge angeht, im Moment unabkömmlich. Es wäre besser gewesen, das Superfinale der Landesmeisterschaft in der Jahresmitte, im Sommer durchzuführen.

Dennoch: Für viele Schachfreunde war und ist deine Absage fünf Minuten vor ultimo ein Skandal. Warum hast du ihn riskiert?

So nennt ihr Journalisten es. Ich habe nur realisiert, dass bei mir alle anderen Dinge den Bach herunter gehen würden, wenn ich 14 Tage lang nur Schach spiele. Was für die Presse und die Öffentlichkeit ein Skandal ist, war für mich in der augenblicklichen Situation eine logische Entscheidung.

Und was ist mit dem Schachpublikum?

Natürlich verstehe ich die Reaktion meiner Fans, deren Zahl in Russland und anderswo noch immer sehr groß ist. Ich bedaure auch, sie enttäuscht zu haben, keine Frage. Aber ich konnte nicht anders handeln.

Du hast ja nicht allein für Schlagzeilen gesorgt. Vor dir hat auch schon Wladimir Kramnik das Handtuch geworfen und abgesagt. Jetzt spielt mit Garri Kasparow nur noch ein Weltmeister im Turnier, was die Schachwelt mehr als betrübt.

Es gibt manchmal objektive Gründe, nicht anzutreten. Im Falle von Wladimir Kramnik kann ich es gut verstehen. Ich hätte mich sogar gewundert, wenn er jetzt in Moskau spielen würde.

Warum das?

Boris Spasski hat immer betont, dass eine Schachweltmeisterschaft so viel Energie kostet wie ein ganzes Lebensjahr. Und nach dem schweren Match in Brissago gegen Peter Leko konnte Wladimir in drei Wochen einfach nicht genügend regenerieren. Er wollte ja an der Landesmeisterschaft teilnehmen, aber es gibt eben hin und wieder Gründe, die es einem unmöglich machen, an den Start zu gehen. Mir war klar, dass Kramnik nicht spielen wird.

Dennoch wäre es nicht schlecht, wenn sich die Spitzenspieler mehr in die Rolle ihrer  Zuschauer und Fans versetzen würden. Und sie sollten auch an die Sponsoren denken, die viel Geld für die großen Turniere bereitstellen.

Das stimmt. In diesem Punkt kann ich nicht widersprechen.

Wie steht es überhaupt mit deiner Motivation, noch weiter Schach zu spielen?

In letzter Zeit fällt es mir, ehrlich gesagt, zunehmend schwerer, mich für einen Wettbewerb zu motivieren. Wenn man wie ich schon 158 Turniere - ob einzeln oder mit der Mannschaft - gewonnen hat, dann ist das ein einsamer Rekord. Langfristig würde ich mich nur noch auf eine Weltmeisterschaft vorbereiten. Doch im Augenblick herrscht noch immer Chaos in der Schachwelt, dass es sich wohl nicht lohnt.

Kommen wir noch einmal zur russischen Landesmeisterschaft. Vitali Zeschkowski kennst du ja schon sehr lange. Was sagst du dazu, dass er mit 60 Jahren noch einmal im Konzert der jungen Garde mitspielt?

Da ist großartig für ihn. Er hat die Qualifikation sehr gut gespielt, weil er sehr pragmatisch agierte. Hier in diesem Klassefeld hat er es verständlicherweise nicht leicht und könnte einige Federn lassen. Aber Vitali ist ein interessanter Spieler und wird versuchen, sich so teuer wie möglich zu verkaufen.

Wer gewinnt die russische Landesmeisterschaft 2004?

Es gibt einige, die dafür in Frage kommen. Wer in ausgezeichneter Form ist, kann man nach so wenigen Spieltagen noch nicht sagen. Wir haben schon sehr kämpferische Partien gesehen. Kasparow wird sicher ein Spitzenergebnis erreichen oder Swidler, der schon öfter Landesmeister war. Aber man darf auch Morosewitsch und Grischuk nicht vergessen. Wenn sie in entsprechender Spiellaune sind und stabil bleiben, können sie viele Punkte machen. Die nächsten Runden werden es zeigen.

 

 

 

 

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

Diskutieren

Regeln für Leserkommentare

 
 

Noch kein Benutzer? Registrieren