Der Schachkönig wollte in die Sauna
Von Dagobert Kohlmeyer
Das Sparkassen Chess-Meeting in Dortmund ist Geschichte. Nach knapp zwei Wochen
Aufenthalt im Revier wurde meine Rückfahrt mit der Bahn nach Berlin zu einer
Reise mit Hindernissen. Der ICE rollte erst 40 Minuten später in den Bahnhof
ein, unterwegs stand dann auch noch eine Schafherde auf den Gleisen. Genügend
Zeit, im Großraumabteil das Notebook aufzuklappen, um dort Notizen und
Reminiszenzen festzuhalten sowie zahlreiche Fotos zu bearbeiten. Hier sind
einige Erinnerungen in Wort und Bild an die 39. internationalen Dortmunder
Schachtage, bei denen ein gewisser Kramnik dem Turnier wieder seinen Stempel
aufdrückte.

Samstagnachmittag, 30. Juli 2011: Nach dem Remis gegen den Holländer Anish Giri
ist Wladimir Kramnik am Ziel seiner Wünsche. Schon eine Runde vor dem Ende des
Chess-Meetings hat der Russe so viele Punkte gesammelt, dass er von keinem
Gegner mehr eingeholt werden kann. 7 aus 9 und zwei Zähler Vorsprung - eine
galaktische Distanz für so ein Turnier. Der 10. Sieg Kramniks in „seinem Revier“
war perfekt.

Stefan Koth, Vladimr Kramnik
Der dreifache Weltmeister wollte dann nur noch weg. Schnellen Schritts verließ
er das Schauspielhaus und wurde an diesem Tag nicht mehr gesehen. Gern hätten
wir Journalisten einen O-Ton von ihm gehabt, aber Kramnik blieb verschwunden.
„Wo ist er nur?“, fragten sich alle. „Ich wollte den Erfolg erst einmal still
genießen und mich in der Sauna des Spielerhotels entspannen“, verriet der
Figurenkünstler später. Tags darauf endete Kramniks letzte Partie gegen Hikaru
Nakamura (USA) dann zwar mit einer unerwarteten Niederlage, weil der Russe als
Weißer mit einem Figurenopfer nicht durchkam, das schmälerte jedoch seine
historische Leistung in keiner Weise.

Beide Cracks analysierten dann noch über eine Stunde lang auf der Bühne die
turbulente Partie. Schnell flogen die Figuren über das Brett, eine große Traube
stand um den Tisch herum: Schiedsrichter, Kommentatoren, Schachjournalisten und
Kiebitze. Mitten unter ihnen der junge Anish Giri, der hin und wieder einen Zug
vorschlug. Nicht immer gab ihm Kramnik recht. Zu gern wollte er die Berechtigung
seines Springeropfers nachweisen, was ihm allerdings nicht leicht fiel. Wieder
und wieder suchte Kramnik nach überzeugenden Gewinnwegen für Weiß. Nakamura
folgte dem Treiben seines Gegenübers geduldig, lächelte still in sich hinein und
sagte viel weniger zur Partie oder einzelnen Stellungsbildern, als der gerade
von ihm bezwungene Turniersieger.

War es asiatische Höflichkeit oder diebische Freude nach dem Motto: „Jetzt habe
ich dir aber gezeigt, wie man dich vom Brett fegen kann!“ Wie dem auch sei,
irgendwann war die extrem lange Analyse dann doch zu Ende. Nach einem Shakehands
der beiden ging es zur Siegerehrung ins nahe gelegene Rathaus, wo Kramnik dann
wieder sehr entspannt war und sich mit Recht feiern ließ.
Der diesjährige Sieg des Schachkönigs von Dortmund ist in der Tat ein ganz
besonderer. Zum 10. Mal hat Wladimir Kramnik das stärkste Schachturnier auf
deutschem Boden in seinem Revier gewonnen. Das ist eine Marke fürs Guinness-Buch
der Rekorde. Mit 36 Jahren inzwischen Senior des Feldes, bewies der Russe erneut
seine Ausnahmestellung. Seit 1995 konnte nur selten ein anderer Denksportler
Kramnik in dessen Wohnzimmer das Wasser reichen. Selbst die anderen Großen der
Zunft wie Kramniks Landsmann Garri Kasparow, der im spanischen Linares, dem
Wimbledon des Schachs, neunmal gewann (acht Siege, einmal Co-Sieger) oder der
amtierende Weltmeister Viswanathan Anand mit fünf Erfolgen im holländischen Wijk
aan Zee haben eine so hohe Erfolgsquote bei einem Superturnier nicht
aufzuweisen. Dortmunds Veranstaltungsleiter Gerd Kolbe nannte Kramniks Leistung
denn auch „einen Rekord für die Ewigkeit“.
Zweiter wurde der Vietnamese Le Quang Liem, der im Schauspielhaus als Einziger
unbesiegt blieb und Kramnik in der achten Runde arg zugesetzt hatte.

Doch der Russe konnte mit Glück und Geschick alle Angriffe des Großmeisters aus
Ho-Chi-Minh-Stadt parieren und sich mit der weiteren Punkteteilung gegen Giri
seinen einmaligen Triumph vorzeitig sichern.
Der Vorjahressieger von Dortmund, Ruslan Ponomarjow, erlebte Licht und Schatten.

Drei Siegen des Ukrainers standen auch drei Niederlagen gegenüber. Für die
positive Überraschung des Turniers sorgte Anish Giri. Der erst 17-jährige
Großmeister teilte in diesem Klassefeld mit „Pono“ den dritten Rang, was vorher
nicht unbedingt zu erwarten war. Zum Turnier-Ende kam die Familie Giri nach
Dortmund.

Vater Sanjay, Mutter Olga und Schwesterchen Ayusha freuten sich gemeinsam mit
Anish.

Auch Giris Trainer Wladimir Tschutschelow konnte mit dem jungen Großmeister
sowie seinem zweiten Schützling, dem Holländer Robin van Kampen, anstoßen.

Der erst 16-jährige Internationale Meister hatte das Helmut-Kohls-Turnier
gewonnen und dabei seine dritte GM-Norm erzielt.


Das Open im Rathaus

Opensieger Michail Saizev
Für den deutschen Teilnehmer Georg Meier war das Chess-Meeting eine wertvolle
Erfahrung. Der Großmeister aus Trier konnte aber manchen Stellungsvorteil nicht
nutzen und einige Angriffe seiner Gegner nicht abwehren. Es war das erste
Kategorie-20-Turnier seiner Karriere. In Erinnerung bleibt uns besonders Georgs
Seeschlange, die er mit Hikaru Nakamura austrug. In Runde 5 spielten die beiden
sage und schreibe acht Stunden und absolvierten dabei 150 Züge! Ganz sicher auch
eine Konsequenz der Anti-Remis-Regel, die zu vielen umkämpften Duellen führte.
So eine lange Partie hat es jedenfalls in der Geschichte der Dortmunder
Schachtage noch nicht gegeben. Sie dauerte bis 23 Uhr abends, und nicht alle
Beteiligten bzw. Augenzeugen bekamen danach noch etwas zu essen. Nakamura zum
Beispiel wurde um 23.30 Uhr im Spielerhotel freundlich darauf hingewiesen, dass
längst Küchenschluss sei. Dortmund-Kundige wie Klaus Bischoff und der Reporter
liefen dann quer über die Hohe Straße, wo wir in einer Nachtbar mit einem
Strammen Max gerettet wurden. Nakamura weiß inzwischen auch, wo er zu
nächtlicher Stunde im Revier noch etwas zu essen erhält…
Was Mammut-Partien in Dortmund angeht, habe ich mich sogleich an Boris Gelfand
erinnert. Ein Blick in die Big Database brachte schnell die Bestätigung: Vor
fünf Jahren spielte der israelische Großmeister beim Chess-Meeting 117 Züge mit
Schwarz gegen den Engländer Michael Adams und verlor sowie zwei Tage später 113
Züge mit Weiß gegen den Georgier Baadur Jobava und gewann. Wegen dieser
kämpferischen Einstellung wurde Boris im Jahr darauf wieder eingeladen. Wie
Georg Meiers Kämpfe auf den 64 Feldern künftig aussehen, wird sich zeigen.
Seinen Start beim bevorstehenden ZMD-Turnier in Dresden hat der Trierer erstmal
abgesagt. Im Herbst will er dann ein Wirtschaftsstudium in den USA aufnehmen.

Georg Meier, Vladimir Kramnik
Zur Schlussrunde kam DSB-Präsident Herbert Bastian noch einmal im Schauspielhaus
vorbei.

Er
ging zu den Kommentatoren, begrüßte die Zuschauer über Kopfhörer und verfolgte
alle Partien bis zum Ende. Auch Bastian stand am Abend in der Kiebitz-Traube auf
der Bühne, als Kramnik und Nakamura ihr aufregendes Duell analysierten. Zum
Eröffnungsbankett in Dortmund hatte der neue Mann an der Spitze des Deutschen
Schachbundes ja quasi seine Regierungserklärung mit einem klaren Bekenntnis zum
Schach als Leistungssport abgegeben (siehe unser am 23.7. veröffentlichtes
Interview).
Was nun noch fehlt, sind natürlich die Gedanken des Schachkönigs von Dortmund.
„Michail Botwinnik hatte sehr viel Humor“
Interview mit dem Dortmunder Rekordsieger Wladimir Kramnik
Von Dagobert Kohlmeyer
Glückwunsch, Wladimir, zum 10. Titel! Wann hatten Sie jemals
einen solchen Lauf?
In
einem Turnier dieser Güte noch nicht. Ich kann mich gar nicht erinnern. Der
Start war natürlich optimal. Auch in Dortmund hatte ich nach fünf Runden noch
nie 90 Prozent der möglichen Punkte auf dem Konto.
Ihre Stimmung dürfte entsprechend gut sein?
Das stimmt, ich bin sehr zufrieden, auch wenn die letzte Partie verloren ging.
Aber mir war schon vorher klar, dass die Rückrunde bedeutend schwieriger werden
würde.

Waren Sie nach der Partie gegen Ruslan Ponomarjow am sechsten
Spieltag sicher, das Turnier zu gewinnen?
Noch nicht ganz. Ich wollte einfach gut spielen und sehen, was möglich ist. Auf
Remis war ich gegen ihn nicht unbedingt aus, das erschien mir zu Beginn der
zweiten Turnierhälfte zu früh. Aber dann kam es so. Das Unentschieden war ein
wichtiges Ergebnis, zumal die anderen an diesem Tag auch alle remis spielten.
Von da an konnte nicht mehr sehr viel schief gehen.
Haben Sie Ihr Spiel dann auf Verteidigung umgestellt?
Nicht in jeder Partie. Wenn sich die Gelegenheit bot, habe ich den Gegner
attackiert. Ich wusste, dass die letzten Runden noch schwierig werden würden.
Deshalb bin ich bis auf das letzte Spiel nicht mehr volles Risiko gegangen.
Gegen Le Quang Liem hatte ich mit Schwarz noch große Probleme und bange Momente
zu überstehen. Gegen Nakamura wollte ich dann zaubern, weil ich schon als Sieger
feststand.
Welche Partie war dieses Jahr Ihre beste in Dortmund?
Ich hatte während des Turniers noch nicht genug Zeit, meine Spiele gründlich zu
analysieren. Das kann ich erst jetzt tun und dann eine genauere Aussage treffen.
Bei 17 Starts in Dortmund haben Sie unglaubliche zehn Siege
geschafft - eine stolze Bilanz und eine magische Zahl. Sind Sie jetzt noch
motiviert, auch im nächsten Jahr wieder im Revier zu spielen?
Ja
sicher. Dortmund ist ein ganz wichtiger Bestandteil meiner Schachkarriere. Hier
begann 1992 quasi mein Einstieg ins Große Schach. Außerdem gibt es nächstes Jahr
die 40. Dortmunder Schachtage, also ein denkwürdiges Jubiläum. Warum sollte ich
dann nicht wiederkommen?
Im Mai sind Sie im WM-Kandidatenturnier von Kasan zur
Überraschung vieler sehr früh ausgeschieden. Hinterher forderten Sie eine
Änderung des Reglements. Was stört Sie am aktuellen Modus der FIDE?
In
wenigen Worten ist das nicht zu erklären. Ich habe dazu bereits ein langes
Interview gegeben. Wichtig erscheint mir vor allem, dass in dem Format
klassisches Schach mit Schnell- und Blitzschach nicht zu sehr vermischt werden
darf. Der Akzent sollte schon auf den Partien mit normaler Bedenkzeit liegen.
Aber durch die Schnelligkeit kommt mehr Spannung auf.
Sicher, doch andererseits leidet auch die Qualität der Partien darunter. Ich
habe nichts dagegen, dass die Spiele mehr ausgekämpft werden, so wie hier in
Dortmund. Sie sollen ja für die Zuschauer interessant sein. Ich finde die
Anti-Remis-Regel in Ordnung. Sie erhöht die Spannung der Partien, es wird bis
zum Schluss gekämpft. Das ist auch gut für das Publikum. Doch nochmal zurück zum
Kandidatenturnier. Wenn es um die Weltmeisterschaft im klassischen Schach geht,
muss dieses Format der Schwerpunkt sein. Die Mehrzahl der Schachprofis teilt
übrigens meine Meinung.
Was sind Ihre nächsten Pläne?
Ich spiele ab dem 8. August das Superfinale der russischen Meisterschaft in
Moskau mit. Dort bin ich bisher nur einmal gestartet, habe die
Landesmeisterschaft aber nicht gewonnen. Dies zu schaffen, ist ein neuer, großer
Anreiz für mich.
Ebenfalls in Moskau findet Anfang September ein Memorial zu Ehren
von Michail Botwinniks 100. Geburtstag statt. Dort spielen auch Anand, Carlsen
und Aronjan. Als ehemaliger Schüler des legendären Weltmeisters nehmen Sie daran
teil. Mit welchen Gedanken?
Ich habe viele gute Erinnerungen an Michail Moisejewitsch, obwohl es schon sehr
lange her ist, dass ich bei ihm Unterricht hatte. Damals war ich ein 12-jähriger
Schüler und übrigens einer seiner letzten Zöglinge.
War Botwinnik ein strenger Lehrer?
Das würde ich nicht sagen. Es ist wohl mehr eine Legende. Er war gütig und
verhielt sich auch so zu uns Schülern. Michail Botwinnik hatte ein ganz feines
Gefühl für Humor. Das sind meine stärksten Erinnerungen.
Was hat die Schule Ihnen gebracht?
Sehr viel. Dort arbeitete ja nicht nur der Patriarch des sowjetischen Schachs,
sondern in den letzten Jahren unterrichtete auch Garri Kasparow gemeinsam mit
ihm in der Schule. Das war für uns alle sehr wertvoll.
Welche nachhaltigen Erinnerungen haben Sie noch, und welche
Eindrücke von der Schule werden für immer bleiben?
Allein Michail Botwinniks Anwesenheit war wichtig. Seine interessanten
Erzählungen über das Schach, das alles hat mich sehr bereichert. Es war nicht
so, dass ich nach seinen Lektionen in Moskau in diesem zarten Alter sofort viel
besser spielte. Das kam erst später. Aber der instruktive Unterricht von
Botwinnik und Kasparow gab einem als jungem Schachspieler für die Karriere
natürlich sehr viel.