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Das Interview erschien in
Nachdruck mit freundlicher Genehmigung
DAS CHAOS UNTER KONTROLLE HALTEN
Spannend wie ein Ausflug mit Indiana Jones können Schach und Mathe sein. Das ist das Credo von Professor CHRISTIAN HESSE (47), der an Stuttgarts Universität im Institut für Stochastik arbeitet. Außerdem wirbt der Wissenschaftler als Botschafter für die Schacholympiade 2008 in Dresden. ND-Autor RENÉ GRALLA hat nachgefragt.
ND: Erklären Sie uns Laien bitte, was Stochastik
ist.
CHRISTIAN HESSE: Das ist die Mathematik des Zufalls, zu der Teilbereiche wie
Statistik und Wahrscheinlichkeitsrechnung gehören.
ND: Sie suchen also nach Strukturen im Chaos?
HESSE: Die Chaostheorie spielt mit hinein. Stochastische Methoden können da
Orientierungshilfen geben.
ND: Ihr Spezialgebiet Stochastik dürfte Sie fit machen für Schach, das auch Meister nach jahrelangem Training nicht ausloten können.
HESSE: Jeder Zug, den Sie ausführen, produziert Stärken, aber auch Schwächen. Auf diese Weise entstehen Rückkoppelungseffekte, die sogenannten Feedback-Schleifen, und Sie müssen versuchen, das daraus resultierende chaotische System unter Kontrolle zu behalten. Das ist tatsächlich ein möglicher Anwendungsbereich für die Stochastik.
ND: Wann haben Sie Schach gelernt?
HESSE: Im Alter von sieben bis acht Jahren, mein Vater hat mir das Spiel beigebracht. Kurzfristig schloss ich mich einem Verein an, habe das aber wegen meines Studiums bald wieder aufgegeben. Heute trage ich Fernschachpartien mit zwei Freunden aus; der eine ist Mathematiker wie ich und arbeitet in Washington, der andere lebt in Spanien. Wir verzichten auf den Einsatz von Computern; manchmal dauert ein Zugwechsel nur zwei Tage, manchmal einen ganzen Monat.
ND: 1991 wurden Sie als 31-jähriger zum jüngsten Professor in Deutschland berufen, gehören also zu den ganz Fixen in der Republik. Wie passt das zu Ihrer Leidenschaft für das behäbige Schach?
HESSE: In Wahrheit ist auch Schach sehr schnell. Die Bewegungen der Figuren über das Brett wirken vordergründig eher sparsam. Aber hinter den Kulissen, nämlich in den Köpfen der beiden Gegner, passiert extrem viel. Deswegen bezeichne ich Schach auch als das "unsichtbare" Spiel.
ND: Bildungspolitiker klagen über einen neuen Bildungsnotstand, insbesondere auf dem Sektor Mathematik. Nun ist in Hamburg jüngst der Modellversuch "Schach statt Mathe" angelaufen, das heißt, eine Wochenstunde Mathematik fällt weg, stattdessen wird Schach geübt. Ist das nicht etwas gewagt?
HESSE: Ich hätte mir lieber die Überschrift "Schach/ und /Mathe" gewünscht, ansonsten ist das eine positive Initiative. Schach fördert Dinge, die auch in der Mathematik eine Rolle spielen: Konzentrationsfähigkeit und Gedächtnis, logisches Denken und planerische Phantasie. Abgesehen davon hilft Schach, soziale Schranken zu überwinden. Sie können gegen jeden antreten, ganzgleich, ob sie oder er körperlich stark sind oder schwach, jung oder alt, behindert oder nicht behindert. Und Kinder werden relativ rasch in die Lage versetzt, gegen ungeübte Erwachsene zu gewinnen. Wer früh zum Schach findet, lernt etwas für das Leben.
ND: Das entnehmen wir auch Ihrem Buch "Expeditionen
in die Schachwelt".
HESSE: Mich interessieren gerade die Begebenheiten am Rand, die über das
Spiel als solches hinausgehen. Außerdem finde ich die Bezüge zu Psychologie,
Philosophie, Physik und Literatur äußerst spannend.
ND: Bis zu einem Ausflug in die Glitzerwelt des Kinos, wenn Sie den berühmten US-Komiker W.C.Fields zitieren: "Letztlich ist Schach einfach Schach. Nicht das Beste, was es in der Welt gibt, und nicht das Schlechteste in der Welt, aber es gibt nichts Vergleichbares." Der Mann, von dem der Spruch überliefert ist, "Wer kleine Kinder und Hunde nicht mag, kann kein schlechter Mensch sein", hat manchmal brav am Brett gehockt?!
HESSE: Ehrlich gesagt, das weiß ich nicht. Aber das Schachzitat finde ich schön.
ND: Planen Sie einen Fortsetzungsband?
HESSE: Momentan bereite ich eine Veröffentlichung zum Thema Mathematik vor: "Das kleine Einmaleins des klaren Denkens." Ich präsentiere Höhepunkte aus 4000 Jahren Mathematikgeschichte, außerdem erkläre ich zwei Dutzend Tricks, die Ihre analytischen und logischen Fähigkeiten optimieren. Ich hoffe, das Werk noch 2008, im Jahr der Mathematik, auf den Markt zu bringen.
ND: Passend zum Jahr der Mathematik ist die Nation
auch Gastgeber für zwei Großereignisse im mathematischen Sport schlechthin
...
HESSE: ... 2008 ist wirklich ein Schachjahr, mit der WM ab Mitte Oktober in
Bonn und der Schacholympiade einen Monat später in Dresden. Ich glaube, dass
auf diese Weise auch Menschen erreicht werden, denen Schach bisher egal
gewesen ist.
ND: Sie sind einer der Botschafter der
Schacholympiade. Was heißt das?
HESSE: Auf meinen Inlands- und Auslandsreisen werbe ich für das Spiel. Und
im Rahmenprogramm der Olympiade nehme ich teil an einem dreitägigen Workshop
"Schach und Mathematik".
ND: Werden Sie dann auch noch einmal das bekannte Weizenkorn-Experiment besprechen? Sissa ibn Dahir, der legendäre Erfinder des Schachspiels, soll sich ja in listiger Bescheidenheit "bloß" ein paar Saatkrumen ausbedungen haben, verteilt über die 64 Felder des Brettes. Ein Korn auf das erste Quadrat, zwei Körner auf das zweite Quadrat, vier auf Nummer drei, sechzehn auf Nummer vier und sofort, die Endsumme hätte alle Speicher dieser Welt gesprengt. HESSE: Na ja, das ist doch nicht weiter überraschend, die stetige Verdoppelung der Körner von Feld zu Feld bildet im Ergebnis eine geometrische Folge. Aber es gibt wirklich faszinierende Beziehungen zwischen Mathematik und Schach, zum Beispiel ein ultrainteressantes Konzept, nach dem Sie das Brett als Rechenhilfe verwenden können. Wie einen Abakus.
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Das Buch zum Interview: "Expeditionen in die Schachwelt" von Christian Hesse, 417 Seiten, Chessgate Verlag, ca. 29 Euro.