"Mathematik ist nichts für Feiglinge" Interview mit Schach- und Mathe-Autor Christian Hesse
Christian Hesse hat sich durch zahlreiche mathematische Veröffentlichungen einen Namen gemacht. Der 57-jährige Professor an der Universität Stuttgart verfasste jedoch nicht nur in seinem Spezialgebiet unterhaltsame Werke wie "Mathe to go – Magische Tricks für schnelles Kopfrechnen", sondern ist dem Schach-Publikum seit "Expeditionen in die Schachwelt" ein Begriff. Mit Hesse, der zeitweilig in Mannheim und Santa Barbara (USA) lebt, unterhielt sich Hartmut Metz über die Verbindungen zwischen den beiden "Wissenschaften", die als besonders logisch gelten.
Herr Hesse, eines Ihrer Bücher heißt "Warum Mathematik glücklich macht – 151 verblüffende Geschichten". Da Sie sich in beidem auskennen: Macht Schach oder Mathematik glücklicher?
Mit dem Glück ist das ja so eine Sache. Es ist ziemlich flüchtig. Beides, Mathematik und Schach, macht auf eigene Weise glücklich, aber nicht immer. Für die Mathematik zum Beispiel braucht man eine große Frustrationstoleranz, um all die gescheiterten Denkansätze auszuhalten, die man für ein Problem unternommen hat, aber nichts gebracht haben. Das kann deprimierend sein. Mathematik ist nichts für Feiglinge. Wenn dann aber irgendwann der Durchblick kommt, entschädigt das für den früheren Frust. Aber nur wenn der Durchblick auch wirklich kommt. Das Glück beim Schach liegt für mich in der Schönheit der Ideen hinter den Figurenmanövern. Und in den faszinierenden Menschen, die ich über das Schach kennengelernt habe.
Also Schach oder Mathematik?
Letztlich macht mich die Mathematik aber deshalb glücklicher, weil ich irgendwann gespürt habe, dass sie mir eine berufliche Perspektive bietet. Ich bin sehr froh, dass ich Mathematiker werden konnte. Für mich ist sie die beste Glücksdroge fürs Emotionshirn. Dabei habe ich Anderes durchaus ausprobiert: Nach der Schule habe ich zwei Semester Medizin studiert. Aber die Medizin hat mich eher unglücklich gemacht, weil ich sie intellektuell damals sehr anspruchslos fand. Auch fühle ich mich unter Mathematikern meist wohler als unter Medizinern. Und unter Schachspielern wohler als unter Golfspielern.
Das hört man gern.
Optimal ist für mich die Kombination Mathematik als Beruf, Schach als Hobby. Wobei das aktive Spielen nicht im Vordergrund steht, sondern die Beschäftigung mit philosophischen, psychologischen, physikalischen, mathematischen Schachthemen. Darüber schreibe ich gerne Geschichten, die dann so heißen wie etwa "Der Schmetterlingseffekt im Schach" oder "Quantenlogik bei der Mattführung". Und vielleicht noch ein letzter Punkt: Gerade in der heutigen Welt, die politisch und kulturell so irrational und teils verrückt ist, bietet die Mathematik und auch das Schachspiel eine Oase der Rationalität, wo man mit großen Sprüchen und Fake News nichts bewirken kann. Das finde ich sehr wohltuend.
Diskussion mit Judit Polgar | Foto: Christian Hesse
Das mag heutzutage vor allem gelten, wenn man wie Sie zeitweilig in den USA lebt. Um kurz von den beiden Hauptthemen abzuschweifen: Welche Elo-Zahl würden Sie, so Donald Trump Schach könnte, was ich füglich bezweifele, zusprechen?
Wenn man die Welt der Politik als ein Schachspiel ansieht, mit Zug, Gegenzug, Strategie, Sieg und Niederlage muss man Donald Trump eine hohe politische Elo-Zahl um die 2800 zugestehen. Was das Schach mit Figuren auf 64 Feldern betrifft habe ich keine Daten, um eine seriöse Schätzung abgeben zu können. Als absolutes Minimum bräuchte ich dafür einen von Trump gespielten Zug in einer komplizierten Stellung. Aber Ihre Frage gefällt mir außerordentlich gut. Sie ist so wunderbar philosophisch. Die Elo-Zahl von jemandem zu schätzen, von dem ich nicht weiß, ob er Schach spielt, fällt mir genauso schwer, wie zu versuchen, in einem dunklen Raum eine schwarze Katze zu finden, die gar nicht drin ist.
Einen Trump zu finden, der nicht in den USA drin ist, wäre erfreulicher … Lassen sich Fake News und solche Leute wie Donald Trump in irgendeiner Form logisch erklären? Oder in Zahlen fassen, was aber schon angesichts des Wortes "unberechenbar" unmöglich scheint?
Donald Trump appelliert an Emotionen und Instinkte, teils niedere Instinkte. Seine Bemühungen um Wahrheit hat er vor langer Zeit größtenteils aufgegeben und versucht nur die Leute nach allen Regeln der Kunst zu seinen Gunsten zu manipulieren. Er ist ein ausgeprägter Populist und Populismus scheint in vielen Teilen der Welt momentan leider ziemlich gut zu funktionieren. Jedenfalls für die Populisten. Man darf auch nicht übersehen, dass die Clintons in weiten Teilen der US-Bevölkerung äußerst unbeliebt sind. Bei der letzten Präsidentschaftswahl handelte es sich eher um eine Anti-Clinton als um eine Pro-Trump-Wahl.
Hätten sich Ihrer Ansicht nach Bobby Fischer und Donald Trump verstanden?
Sie hätten sich ungefähr so gut verstanden wie zwei Egomanen, von denen jeder nur an sich selbst interessiert ist und jeder sich für Gottes Geschenk an die Menschheit hält: nämlich gar nicht. Es gab ja mal ein Experiment, bei dem ein Psychiater ein paar Leute zusammenbrachte, die alle glaubten, sie seien Jesus Christus. Jeder versuchte heiliger als der andere zu sein und das ganze endete mit Handgreiflichkeiten.
Sehr lustig. Es gibt ja auch die wundervolle erfundene Geschichte von Art Buchwald, bei der US-Präsident Richard Nixon versucht, Bobby Fischer ins Weiße Haus einzuladen. Das wäre wohl alles ähnlich verrückt geworden … Aber nun genug mit twitteresken Themen befasst. Kommen wir zu Ihren blumigen wie unterhaltenden Schilderungen in Ihren Büchern, egal ob über Mathe oder Schach. Gibt es Gemeinsamkeiten?
Mathematik und Schach sind grandiose Abenteuer im Kopf. Beide haben die Gabe, wie die Liebe, die Musik und die Literatur, Menschen glücklich zu machen. Beide erfordern volle Konzentration und absorbieren einen total. Man kann schlecht Schach spielen oder Mathematik treiben, wenn nebenher die "Tagesschau" läuft. Menschen, die in Konzentrationslagern waren, haben später erzählt, dass sie nur beim Schachspiel alles bedrohliche um sie herum vergessen konnten.
Das stimmt wohl mit Schach. Versinken Sie in der Mathematik ähnlich?
Beim Schach muss man sich ja in die Stellung einarbeiten. Es gibt Züge, mit denen man direkt einen Vorteil erreichen kann: Drohungen 1. Grades. Und dann gibt es Züge, die darauf ausgerichtet sind, Drohungen 1. Grades zu ermöglichen. Das sind Drohungen 2. Grades. Und Züge, die Drohungen 2. Grades ermöglichen sind Drohungen 3. Grades. Um Drohungen immer höheren Grades zu finden, muss man den Spielbaum der Stellung im Kopf entlang wandern. Das erfordert hohe Konzentration und geht am besten, wenn man alles andere ausblendet.
In der Mathematik ist es ähnlich. Bei einem komplizierten Problem ist die Lösung tief in der Problemstruktur verborgen. Dann muss man sich auch hier schrittweise in die Struktur des Problems bis zur nötigen Tiefe hineinarbeiten. Bei mir ist es so, dass ich dafür Ruhe brauche. Ich kann dann ähnlich in das Problem versinken wie in ein Stellungsproblem beim Schach.
Boris Spasski und Christian Hesse | Foto: Christian Hesse
Welche Verbindungen der beiden Themen faszinieren Sie am meisten?
Ich mag zum Beispiel die Verbindungen zwischen Schach und Geometrie. Konkret solche Situationen, wo die spezielle Geometrie des Schachbretts etwas ermöglicht. In unserer Alltagsgeometrie ist der kürzeste Abstand zwischen zwei Punkten die Länge der Strecke zwischen ihnen. Alle anderen Wege sind länger. Wenn man im Schach den Abstand zweier Felder festlegt als die geringste Anzahl von Königsschritten von einem zum anderen, dann gibt es meist mehr als einen kürzesten Weg zwischen zwei Feldern, oft auch Zickzackkurse oder Dreieckswege. Die berühmte Reti-Studie und einige andere beruhen ja auf solchen Effekten.
Nennen Sie uns ein paar weitere interessante Beispiele.
Das Schachbrett hat auch eine sogenannte Händigkeit, wegen der Vereinbarung des weißen Feldes bei h1. Händigkeit ist eine mathematische Eigenschaft, die ein Objekt dann besitzt, wenn sein Spiegelbild mit dem Original durch beliebige Drehungen nicht zur Deckung gebracht werden kann. Prototypische Beispiele sind die rechte und linke Hand. Die Ausgangsstellung im Schach hat wegen der Eckfeldkonvention keine Spiegelsymmetrie. Aber sie hat eine tiefere, kompliziertere Symmetrie: Wenn man in der Anfangsstellung die Farben aller Felder und Figuren vertauscht – Weiß in Schwarz und Schwarz in Weiß. Und wenn man dieses Ergebnis dann im Spiegel betrachtet, dann sieht man dort wieder die Grundstellung. Das ist genauso wie bei einer mathematisch-physikalischen Symmetrie, die unser Universum hat: die CP-Invarianz. In meinem Buch "Expeditionen in die Schachwelt" habe ich noch etwas mehr darüber geschrieben.
Die besagt, grob gesagt, dass sich die physikalischen Zusammenhänge nicht ändern sollten, wenn alle Teilchen durch Antiteilchen ersetzt und alle Raumkoordinaten gespiegelt werden. Gibt es noch einfachere Beispiele?
Was mir auch gefällt, ist die Rekursion. In der Mathematik bedeutet das, ein Problem durch eine leichtere Version von sich selbst zu ersetzen. Und bei abermaliger Anwendung die leichtere Version durch eine noch leichtere usw. Bis man ein so leichtes Problem hat, das man lösen kann. Mit dieser Lösung arbeitet man sich dann wieder zurück zum Ausgangsproblem. Das ist eine Art von Schleife. Auch beim Schach gibt es Stellungen, in denen ähnliche Schleifen durchlaufen werden müssen, um Schritt für Schritt der Lösung, also etwa einem Matt, näherzukommen. Ein extremes Beispiel dafür ist eine Studie "Matt in 271 Zügen" von Petrovic.
Das ist in der Tat eine lustige Studie, auch wenn Weiß in der durchaus legalen Stellung drei Läufer hat (Ein Link zu der Studie... ). In Ihrem jüngsten Werk "Mathe to go" verraten Sie "magische Tricks für schnelles Kopfrechnen". Sind Sie ein guter Kopfrechner?
Ja, ein ganz passabler. Allerdings kann mit den fast magischen Tricks in meinem Buch jeder zum guten Kopfrechner werden und blitzschnell zum Beispiel zwei dreistellige Zahlen miteinander multiplizieren, durch eine zweistellige Zahl dividieren, Wurzeln ziehen und Logarithmen berechnen. Mein Lieblingstrick ist es, zu einem beliebigen Datum im Kopf den Wochentag auszurechnen.
Was war beruflich das wichtigste, was Sie je gemacht haben?
Ganz eindeutig als ich vor einigen Jahren als Sachverständiger für das Bundesverfassungsgericht bei seinem Urteil zum Bundestagswahlrecht fungiert habe. Und später dann den Deutschen Bundestag bei der Reform des Bundestagswahlrechts beraten habe. Ich empfand das als sehr verantwortungsvolle Aufgabe. Ich wollte auf keinen Fall Fehler machen. Ich wollte unbedingt vermeiden, dass irgendwann vielleicht in der BILD-Zeitung steht "Bundestagswahl ungültig. Mathematiker hat sich verrechnet."
Das wäre peinlich geworden, ist aber glücklicherweise nicht passiert. Und welche Tat bedeutet Ihnen schachlich am meisten?
Mit Kasparov in Zürich | Foto: Christian Hesse
Mein Remis gegen den damaligen Weltmeister Vishy Anand, gespielt im Jahr 2010 in Zürich in meinem Lieblingsschachclub Savoy Chess Corner. Das ist eine kleine Gruppe illustrer Persönlichkeiten mit freundschaftlichen Kontakten zu allen Top-Schachspielern der Welt. Meine Partie gegen Anand war in dem Fall zwar nur eine Simultanpartie, aber es gab nur wenige Gegner und die meisten hatte Vishy sehr schnell besiegt. So konnte er sich ganz auf unsere Partie konzentrieren und war immer schneller wieder an meinem Brett, so dass ich ziehen musste, während er dann länger nachdenken konnte. Insgesamt hat er wohl genauso viel Bedenkzeit gehabt wie ich. Nach der Partie sind wir zusammen zum Abendessen gegangen und haben über unsere Partie gesprochen. Er hat mein Spiel gelobt und wir haben uns auch sonst wunderbar unterhalten. Er ist ein faszinierender Mensch.
Christan Hesse, Viswanathan Anand | Foto: Hartmut Metz
Stimmt. Er hat auch viel Humor.
Am Ende sagte er: "Lass uns in Kontakt bleiben." Mittlerweile würde ich ihn als Freund bezeichnen. Erst kürzlich haben wir uns beim Grenke-Turnier in Baden-Baden gesehen und miteinander gefrühstückt.
Planen Sie nach Ihren lesenswerten Schachbüchern ein neues und wenn ja, wann erscheint es?
Ich habe ein zu 80 Prozent fertiges Manuskript mit dem englischen Arbeitstitel "Teaching Mathematics with Chess", bei dem es darum geht, viele mathematische Themen mit schachlichen Prinzipien zu behandeln.
Das klingt aufregend. Worum geht es im Detail?
Ein einfaches Beispiel ist die Behandlung von exponentiellem Wachstum mit der Weizenkornlegende, die jeder Schachspieler kennt. Schon schwieriger ist die Lösung kombinatorischer Probleme mit sogenannten Turm-Polynomen. Das sind mathematische Funktionen, die mit den Zugmöglichkeiten von Türmen in bestimmten Positionen zu tun haben. Aber ich habe im Moment praktisch keine Zeit, an diesem Manuskript zu arbeiten. Insofern ist es unklar, wann es als Buch erscheint. Das nächste Buch, das von mir erscheint heißt "Leben hoch 2. Wie Sie mit Mathematik Ihre Ehe verbessern, länger leben und glücklich werden". Darin wird Mathematik als Lebenshilfe eingesetzt, um Alltagsprobleme aller Art besser zu lösen. Es kommt Anfang Juli auf den Markt.
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