Interview mit Sergey Karjakin, zweiter Teil
Einst haben Sie in London eine Simultanvorstellung gegeben – an 20 Brettern. Wie viele Kilometer haben Sie da zurückgelegt?
Mehr als zehn. Mich hatte Lord Rothschild eingeladen. Es gab 20 Bretter, aber 72 Gegner. Sobald jemand verloren hatte, rückte der nächste sofort nach, ich spielte etwa sechs Stunden.
Erfolgreich?
Ich verlor fünf Partien und gab zwei Unentschieden ab. Bei Simultanvorstellungen braucht man nicht voll konzentriert zu sein. Du machst deine Runden und nach einer gewissen Zeit beginnst du so oder so durchzudrehen. Alle Gesichter, Figuren und Stellungen beginnen zu verschmelzen…
Was war das Sonderbarste, was Sie je gewonnen haben?
Ein Stück Land in Kaschira. Ein paar Geschäftsleute hatten die Idee, über Schach für ihr neue Siedlung zu werben und veranstalteten kurz vor Neujahr ein kleines Turnier für vier Großmeister - Grischuk, Nepomniatchi, Jakovenko und meine Wenigkeit. Der Hauptpreis betrug zehn Hektar Land. Grischuk und ich waren gleichauf und mussten im Armageddon-Modus stechen. Ich spielte mit Schwarz und Zeitnachteil, dafür reichte ein Remis zum Gesamtsieg. Meine Stellung war verloren, mit einem Turm suchte ich nach dem letzten Trick. Den habe ich dann gefunden – ich gab mit meinem Turm Schach, wenn er genommen werden würde, wäre es Patt. Das nennt sich (im Russischen) „Verrückter Turm“. Grischuk hat ihn geschlagen, ich sagte leise „Patt“. Im Spielsaal herrschte totale Stille, im Nachhinein wurde ich dafür verurteilt und kann es bis heute nicht nachvollziehen…
Von Grischuk auch?
Nein, von ihm gar nicht – er fand es ok, dass ich bis zum Ende gekämpft habe. Es gibt im Schach den Ausdruck „auf Zeit zu spielen“. Jeder, der noch eine minimale Chance hat, und sie mit den Zeitproblemen des Gegners verbinden kann, spielt darauf. Man darf doch nicht einfach aufgeben.
Und wer verurteilte Sie dann?
Nepomniatchi schrieb im Twitter: „Ein freundschaftliches Turnier endete nicht sehr freundschaftlich…“. Doch wenn ich einfach aufgegeben hätte, hätten alle gesagt „Er ist kein Kämpfer, wie Carlsen, ihm fehlt der Killer-Instinkt.“ Und wenn man weiter spielt, heißt es, man sei nicht ehrenhaft… Rublewski, Trainer der Frauen-Olympiamannschaft, schrieb über Skype: „Nun bist Du verpflichtet dem „Verrückten Turm“ ein Denkmal aufzustellen – auf deinem neuen Grundstück!“
Ein Haus im anderen Moskauer Vorort haben Sie bereits.
Eine der Bedingungen an die Russische Schachföderation für meinen Wechsel war, dass ich in Moskau eine Wohnung gestellt bekomme. Die habe ich dann gegen ein kleines Haus außerhalb eingetauscht. Frische Luft, Ruhe – optimale Umstände für einen Schachspieler.
Und am Steuer sitzen Sie schon lange?
Ich habe den Führerschein in der Ukraine gemacht, hatte dort aber kein Auto. Nun in Moskau einen Nissan X-Trail gekauft. Habe einmal ausprobiert wozu der fähig ist, auf 170km/h beschleunigt, einen Bentley hinter mir gelassen. Dann hat das Lenkrad angefangen zu vibrieren, nach kurzem Schreck nahm ich den Fuß wieder vom Gas.
Gibt es viele Schachspieler, die kein Auto fahren?
Ivanchuk, Kramnik, Gelfand… Am Steuer kann ich mich entspannen. Manche sind aber stets auf Schach konzentriert. Man hat mir mal erzählt, wie Gelfands Tag aussieht. Beim Frühstück gibt es Taktik-Aufgaben, beim Spaziergang danach andere Aufgaben, blind, im Kopf. Beim Mittagessen werden die Partien der Konkurrenz unter die Lupe genommen und abends heißt es dann: „Ran an die Arbeit“ – dann beginnt die Analyse eigener Partien.
Da bleibt nicht viel Zeit zum Autofahren.
Gelfand ist einer der außergewöhnlichsten Schachspieler überhaupt. Mit 43 Jahren um den Weltmeistertitel zu spielen ist eine kolossale Leistung.
Hätte er Anand schlagen können?
Durchaus. Aber ihm versagten die Nerven. Er hatte das komplette Match lang die Farbe eines Rotkohls.
Welcher Schachprofi hat das luxuriöseste Auto?
Die Aseris. Mamedyarov fährt einen Jaguar, Radjabov einen Porsche Cayenne.
Die Schachhonorare machen es möglich?
In Aserbaidschan gibt es zurzeit eine besondere Haltung dem Schachsport gegenüber. Die Unterstützung kommt von ganz oben, vom Präsidenten des Landes persönlich. In Armenien ist das ähnlich. Dort ist Aronian eine Gottheit – man hat ihn letztes Jahr zum Menschen des Jahres gewählt, und zwar nicht im Sport, überhaupt!
Kommt Aronian mit Radjabov und Mamedyarov klar?
Aronian ist charakterlich Spitze. Einen sympathischeren und freundlicheren Großmeister habe ich bislang nicht getroffen. Es gibt niemanden, der mit ihm nicht klar kommt. Aber in Baku, wo zuerst das Kandidatenturnier stattfinden sollte, hatte er sich geweigert teilzunehmen.
KNEIPENKÖNIG
Carlsen ist Real-Fan. Welche Interessen haben berühmte Großmeister noch?
Gelfand ist großer Barcelona-Fan, wir sprechen oft über Fussball. Aronian liebt Basketball, die „Boston Celtics“. In Sao Paulo gab es ein Streetball-Turnier für die Teilnehmer, zu dem er mich überredet hat. Ich hatte keine Sportschuhe, habe mir in Lackschuhen die Füße aufgerieben. Dann noch mit Doppelnull ins Turnier gestartet, das hatte ich noch nie. Svidlers große Leidenschaft ist Cricket. Das kann er zwei Tage am Stück gucken, ohne Pause.
Hat er Sie dafür nicht begeistern können?
Nein, Cricket ist nichts für mich. Mein neustes Hobby ist das Spiel „Quiz“. Es gibt Fragen zu zehn Kategorien, vom Sport über Mathe bis zur Geographie, erinnert ein wenig an „Wer wird Millionär“. Im Internet, gegen reale Gegner, spielt man das. Davor war ich „World of Warcraft“-Zocker.
Andrey Kirilenko hat sich ein Tattoo eines der Spielcharaktere von „WoW“ stechen lassen, des Drachenpaladins. Haben Schachspieler Tattoos?
Oh, eine gute Frage… Nein, ich glaube nicht. Die einzige, die mir einfällt, ist die Ehefrau von Ponomariov – sie hat einen Drachen auf dem Rücken, beängstigender Größe.
Stimmt es, dass Anand verrückt nach Astronomie ist?
Ja, bei jedem Turnier hat er sein Teleskop dabei, begutachtet die Sterne.
Sind fröhliche Menschen eine Seltenheit unter Schachspielern?
Es gibt einen Großmeister aus den Top Ten, der gerne Streiche spielt. So ruft er hin und wieder uns, die Kollegen, an und stellt sich als sein eigener Manager vor. Er bietet an, ein Match zu organisieren und während der Angerufene noch benommen-überrascht ist, beginnt er laut zu lachen und legt auf. Fragen Sie nicht nach, den Namen verrate ich nicht.
Im Schach gibt es haufenweise exotische Leute. Wen nannte Kasparov „Kneipenkönig“?
Vladislav Tkachiev. Ein zugänglicher Kerl, mit „offener Seele“.
Großmeister auch in der Likör-Wodka-Richtung?
Er hat aufgehört. Aber sein Fauxpas von vor drei Jahren hat es in einige Comedy-Sendungen geschafft und sorgte für Furore. Er ist beim Turnier in Indien am Brett eingeschlafen – hat sich ans Brett gesetzt und ist nach wenigen Zügen weggenickt.
Hat man versucht ihn zu wecken?
Ja, aber ohne Erfolg. Es gab anderthalb Stunden Bedenkzeit – alle haben auf die Uhr geschaut. Dann war die Zeit rum, das Plättchen viel, der schlafende Großmeister hatte verloren.
Was ist Ihnen aus Sao Paulo noch in Erinnerung geblieben – außer Streetball?
Die Sorge der Organisatoren um uns, die Empfehlung das Hotel abends nicht zu verlassen. Dort stehen vor jeder Bar fünf Wachen.
Ist alles problemlos verlaufen?
Nicht ganz, Ivanchuk hatte am letzten Tag Pech. Wir wollen schon zum Flughafen und warten vorm Hotel auf Taxen, die Taschen sind bereits rausgetragen. Plötzlich muss Wassily unbedingt zur Rezeption. Er lässt die Taschen einfach stehen und läuft rein. Eine Minute später kommt er wieder und die Taschen sind weg.
Ärgerlich.
All die Sachen sind irrelevant, aber der Verlust des Computers ist für einen Schachspieler eine Katastrophe.
Fischer hatte zu seiner Zeit gebeten, man solle ihm niemals Blumen oder Bücher schenken. Kennen Sie andere exotische Macken von Schachspielern?
Für Ivanchuk gibt es nichts Schrecklicheres, als wenn jemand für ihn den ersten Zug ausführen soll. Bei der Olympiade, als ich noch für die Ukraine spielte, gab es so einen Fall. Er spielte gegen Aronian und jemand von den Offiziellen sollte den symbolischen ersten Zug ausführen. Ivanchuk sagte zähneknirschend, auf Englisch: „Denken Sie nicht einmal daran!“
Wie löste man das Problem?
Man beschloss, dass diese Person den ersten Zug von Aronian ausführen soll. Aber Levon hatte Schwarz. Also antwortete er auf die Frage: „Wie planen Sie zu ziehen?“ – „Das hängt davon ab, was Ivanchuk zieht.“ Den Skandal hat man dann irgendwie, leise, beilegen können. Dieselbe Situation wiederholte sich aber auf der Olympiade in Istanbul. Wassily kam zur Partie gegen Kramnik im Anzug mit T-Shirt drunter und ließ sich vor laufenden Kameras eine halbe Stunde lang um das Recht des ersten Zuges anflehen. Komischerweise hat er dann irgendwann nachgegeben.
Haben Sie auch Macken – wie Fischer oder Ivanchuk?
Ich hasse das Geräusch eines Filzstiftes auf Papier. Ob Kugelschreiber oder Bleistift, ist mir egal, aber wenn man mir für ein Autogramm einen Filzstift reicht, zucke ich förmlich zusammen. Ablehnen ist unhöflich, ich unterschreibe trotzdem, aber für mich ist es wie eine Folter.
WÜTENDER
Spieler, die die große Szene verlassen haben, so wie Short, arbeiten als Trainer?
Short tritt noch auf. Timman und Hübner sind auch hin und wieder unterwegs. Ab und zu sieht man sogar den in Deutschland lebenden Artur Jussupow.
Womit verdienen solche Leute ihre Brötchen?
GMs, die unter 2700 ELO haben, schaffen es selten in elitäre Turniere. Sie sind wie umherziehende Musiker, bereisen die Welt, spielen Open. Zudem gibt es in jedem Land eine Liga. Fußballer wechseln Teams und so werden Schachspieler genauso verpflichtet. Aronian spielte in Wijk und im März wartet auf ihn das Kandidatenturnier, das Turnier seines Lebens, in London. Aber statt sich auszuruhen fliegt er am Samstag zu seinem Team in Deutschland. Vertrag!
Wie viel bekommt man in solchen Teams?
Manch Einer bekommt 3000 Euro fürs Turnier, manche mehr. Wenn man Anand meldet, zahlt man mindestens 15000.
Nehmen wir mal an, Kasparov denkt an ein Comeback, trainiert ein Jahr. Würde es ihm gelingen?
Ich vermute, solch eine Lücke kann man nicht füllen. Wenn er wieder regelmäßig trainiert, schafft er es aber in die Top Ten. Es gibt eine Geschichte dazu. Das Match um die Schachkrone Anand – Gelfand in Moskau läuft. Beide spielen sehr vorsichtig. Viele finden es lustig – die beiden spielen um den Weltmeistertitel, während Kasparov im Publikum sitzt und zuschaut.
Warum ist das lustig?
Weil Kasparov in Duellen gegen beide einen riesigen Punktevorteil hat. Man fragt Kasparov „Könnten Sie jetzt spontan einen von beiden besiegen?“ – „Natürlich nicht. Nur im Blitzen, wo man nicht groß analysieren muss.“
Finden Sie es interessant, heutige Partien von Legenden-Turnieren ehemaliger Weltklasseleute zu analysieren? Oder sind diese schachlich gesehen inzwischen unbedeutend?
Ehrlich? Nein. Diese Partien beinhalten nichts Interessantes.
Sie haben aber bestimmt Partien von Fischer gegen Spasski analysiert. Ist das Top-Niveau?
Nicht wirklich. Fischer war absolut top, für seine Zeit, um 1972 rum. Aber 1992…
IM-Niveau?
Nein, soweit runter fallen solche Leute nicht. Er spielte auf dem Niveau der Top-20 der Zeit.
Wo haben Sie Spasski kennengelernt?
2007 in Bilbao. Dort hat er kommentiert. Wir sind zusammen spaziert, gingen zusammen zum Abendessen. Er erzählte über Fischer.
Was genau?
Wenn er damals mit Fischer essen ging, war die erste Tat Fischers, das Absuchen des Restaurants nach Wanzen. Er litt unter Verfolgungswahn, alte KGB-Zeiten... Übrigens hatte Spasski einen schweren Schlaganfall, als er sein eigenes Interview, das Kapitel über Fischer, überarbeitete. Das Interview hatte mein Manager geführt. Es blieb unkorrigiert.
Von der alten Garde ist nur Kortschnoi in Ordnung?
Den hat auch ein Schlaganfall erwischt, vor Kurzem.
Man sagt, er hat sich erholt.
Ja, aber Schachspielen wird nicht mehr empfohlen. Ich weiß, dass er vor einem Jahr die Meisterschaft der Schweiz gewonnen hat, mit 80 Jahren!!! Ich lese zurzeit erneut seine Biographie. Ein hartes Buch, auf jeder Seite etwas Überraschendes.
Zum Beispiel?
Eine Episode hat mich schockiert. Kortschnoi traf sich mit dem Boss der Mafia in New York, um das Nachholen seiner Familie aus der Sowjetunion zu organisieren. Es hat nicht funktioniert, doch am Ende bekam er eine Rechnung.
Und musste zahlen?
Nein. Der Boss wurde umgebracht, es kam ein Neuer an die Macht, der wollte dann von Kortschnoi auch was haben… Dunkle Geschichte. Kortschnoi hat auch versucht, seine Familie über die Tochter von Brezhnev rauszuholen, hat aber auch nicht geklappt.
Dafür gab es von ihr bestimmt keine Rechnung. Haben Sie ihn mal getroffen?
Als ich ein Kind war, habe ich mal gegen ihn gespielt, es gibt ein lustiges Beweisfoto. Ich war elf und er siebzig. Und im Blitzen kam es zum Remis. Ich war sehr stolz, er aber schrecklich wütend. Später erklärte man mir, sein Spitzname wäre „Wütender“, er konnte es nicht leiden, wenn Leute mit ihm am Brett mithalten konnten. Im Sinne persönlicher Abneigung ist Schach im Vergleich zu früher viel ruhiger geworden, Kortschnoi ist aber gleich geblieben. Er hat Carlsen beschuldigt, dass dieser seine Gegner hypnotisiert…
Vielleicht hat er Recht?
Wohl kaum, wobei ich ungern an unsere letzte Partie denke. Sechs Stunden lang haben wir eine ausgeglichene Stellung. Carlsen spielt mit allen so. Plötzlich schaut er aufmerksam zu dir rüber. Im nächsten Zug machst du mit eigenen Händen alles, so mühevoll aufgebaute, wieder kaputt. Ich glaube aber nicht, dass das Hypnose ist – man muss halt die Konzentration halten können.
Über Tal sagte man das Gleiche – „Hypnotische Fähigkeiten“. Haben Sie das bei einem Schachspieler je spüren können?
Nein, nie. Kortschnoi sagte über mich übrigens einst, ich würde zu viel lächeln. Er fand mich zu nett, man solle aber böse sein und alle niederringen.
Sind Sie nicht gleicher Meinung?
Ich bin kein aggressiver Mensch. Aber gegen Carlsen in Wijk, da habe ich kein einziges Mal gelächelt. Kortschnoi erlebte schreckliche Zeiten, die Familie hatte es schwer. Für ihn ist Schach – Krieg.
Wenn es kein Schach gäbe, was wäre dann Ihr Schicksal?
Ich schätze, ich würde in meiner Heimatstadt Simferopol leben, irgendwas studieren, irgendwo arbeiten. Solch eine Karriere hätte ich bestimmt nicht gemacht. Ich habe ja seit ich fünf bin nur noch Schach gespielt, ging ab der zweiten Klasse nicht mehr zur Schule, habe alle Prüfungen aus Entfernung geschrieben. Ich lernte Russisch dank meines Schach-Gedächtnisses, kenne die Rechtschreibregeln nicht, schreibe aber ohne Fehler. Selbst die Kommata sitzen intuitiv richtig.
Hatten Sie eine gute Kindheit?
Natürlich habe ich einiges verloren. Aber die Vorteile überwiegen deutlich. Viele Reisen, interessante Bekanntschaften, neue Eindrücke. Das Schachspiel machte mich zu einem glücklichen Menschen.
Das Interview erschien am 22.02.2013 im Original Sport-Express www.sport-express.ru
Übersetzt von Daniel Maiorov
Erster Teil...
Original:
http://www.sport-express.ru/fridays_talking/reviews/28922/