„Für die Chess Classic drücke ich mir
jedes Jahr die Daumen“
Fotos: Christian Bossert
Im Oktober verteidigte Vishy Anand
erfolgreich seinen WM-Titel in Bonn. Danach folgte eine längere Turnierpause. Im
Interview mit Harry Schaack wirft der Champion einen Blick zurück auf die
Ereignisse des letzten halben Jahres - und schaut nach vorne auf die GRENKELEASING
Rapid World Championship. In Mainz wird er Anfang August bei den Chess Classic
seinen Schnellschach-Titel zum 11. Mal verteidigen.

Harry Schaack:
Zwischen der Weltmeisterschaft in Bonn im Oktober und dem Turnier in Linares im
Februar lagen einige Monate. Eine recht ungewöhnliche Pause für einen
Weltmeister. Was haben Sie in dieser Zeit gemacht?
Vishy Anand:
Die Pause brauchte ich nach dem anstrengenden Match, aber viel Zeit zur Erholung
blieb nicht. Ich fuhr kurz nach der WM nach Indien. Die ersten Tage waren sehr
chaotisch. Es gab viele Ehrungen, Empfänge und Partys. Ich war eigentlich die
ganze Zeit unglaublich beschäftigt. Innerhalb von zwei Monaten bin ich über 6000
Kilometer kreuz und quer durch Indien geflogen. Die Begeisterung, die mir
entgegen schwappte, war natürlich toll. Aber es war auch sehr anstrengend.
In Europa zurück, fuhren Sie direkt
nach Davos…
…wo ich zur jährlichen Konferenz des
Weltwirtschaftsforums
geladen war. Das war eine neue Erfahrung für mich. Dort trafen
sich Wissenschaftler, einflussreiche Politiker und Geschäftsleute. Ich habe
viele spannende Gespräche geführt.
Erstmals seit Jahren verzichteten Sie
auf die Teilnahme in Wijk aan Zee. Erst in Linares, wo Sie die letzten beiden
Jahre siegten, kehrten Sie in die Turnierarena zurück.
Trotz der Pause spielte ich zu Beginn ganz
gut. Die erste Partie gewann ich gegen Radjabov. Doch gegen Aronian hatte ich in
klar besserer Stellung einen Blackout, der mich die Partie kostete. In der
zweiten Hälfte des Turniers kehrte das Glück zurück, insbesondere in den
Begegnungen gegen Ivanchuk und Grischuk. Daher kann ich mich am Ende nicht
beschweren. Meine Platzierung war leistungsgerecht. Insgesamt war meine
Performance nicht so stabil wie in den letzten beiden Jahren. Aber ich hatte
nicht das Gefühl, dass ich schlecht gespielt habe.
Überraschend hieß der Sieger diesmal
Grischuk. Es ist erstaunlich, dass er trotz seiner schlechten Zeiteinteilung so
erfolgreich ist.
Wenn ich noch 5 Minuten auf der Uhr habe,
werde ich nervös. Bei Grischuk beginnt die Zeitnot erst, wenn er noch 5 Sekunden
hat. Vorher notiert er immer sehr ausführlich und unglaublich ruhig die Züge
samt dem sekundengenauen Zeitverbrauch. Vielleicht braucht er den Kick.
Jedenfalls ist er ein herausragender Blitzspieler. Und daher darf man ihn in
Zeitnot nie unterschätzen.
In Bonn überraschten Sie ihren
Herausforderer Kramnik mit 1.d4, zuvor spielten sie fast ausschließlich 1.e4. In
Linares erprobten Sie das erste Mal nach der Weltmeisterschaft bei einem
regulären Turnier ihr neues Eröffnungsrepertoire. Waren Sie zufrieden damit?
Ja, ich konnte einiges benutzen, was ich für
das Match in Bonn vorbereitet hatte. Es war mir wichtig, das Gefühl für die
d4-Eröffnungen nicht zu verlieren. Denn dafür habe ich vor der WM sehr hart
gearbeitet. In Linares unterliefen mir meine Fehler nicht in der Eröffnung.
War es ein Problem, nach einer
längeren Pause wieder zu spielen?
Das ist schwer zu sagen. Die erste Hälfte
des Turniers lief für mich besser als die zweite. Mit zunehmender Spielpraxis
agierte ich nicht unbedingt besser. Am Ende machte ich acht Remisen in Folge.
Das ist nicht sehr zufriedenstellend. Es war einfach kein besonders gutes
Turnier - aber auch nicht das schlechteste. Das kann passieren. 50% sind in
Linares kein Desaster.
Beim darauffolgenden Amber in Nizza,
wo Blind- und Schnellschach gespielt wird, machten Sie zunächst dieselbe
Erfahrung wie in Spanien.
Ich begann erneut etwas unsicher. Aber beim
Amber spielt man insgesamt 22 Partien, und Niederlagen kann man mit Siegen
schnell wieder wettmachen. Nach dem ersten Ruhetag lief es ausgezeichnet. Mit
etwas Glück hätte ich das Turnier gewonnen. So siegte Aronian knapp vor mir,
Kramnik und Carlsen.
In der Blindpartie konnten Sie Kramnik
in seinem geliebten Russisch besiegen. Was bedeutete dieser Erfolg gegen Ihren
Rivalen für Sie?

Aruna und Anand
Naja, jeder Sieg im Russisch ist großartig -
insbesondere gegen Kramnik. Natürlich war es schön, gegen ihn zu gewinnen, und
danach die Schnellpartie mit Schwarz recht leicht zu remisieren. Aber es ist nur
für einen kleinen Moment nett, denn das Turnier geht weiter.
Also die Begegnung mit Kramnik hatte
keine besondere Bedeutung für Sie?
Vielleicht hatte sie mehr Bedeutung, als ich
mir zugestehe. Aber ich versuche, es nicht zu ernst zu nehmen. In Nizza spielt
man so viele Partien. Es ist schwer, einen Sieg auszukosten, denn man muss sich
schon wieder auf die nächste Partie konzentrieren.
Im selben Turnier hatten Sie in der
Blindpartie gegen Wang Yue ein kurioses Endspiel: zwei Springer gegen Bauer.
Laut Endspieldatenbank ließen Sie mehrfach den forcierten Gewinn aus…
Ja, einmal konnte ich forciert in etwas mehr
als 40 Zügen gewinnen, dann in über 60 Zügen …(lacht) In einer
Blindpartie ist es unglaublich schwer, dieses Endspiel zu spielen.
Zwischenzeitlich war ich ein wenig verwirrt und wusste nicht mehr genau, wo
meine Springer standen. Vor einigen Jahren konnte Topalov - ebenfalls beim Amber
- dasselbe Endspiel gegen Karpov gewinnen, allerdings in einer Schnellpartie und
in einer besseren Version.
Waren Sie zufrieden mit Ihrem
Abschneiden in Nizza?
Ich kann mich nicht beschweren. Ich führte
lange Zeit, gewann die Schnellschachwertung und hätte fast die Gesamtwertung für
mich entschieden. Ich verließ das Turnier mit einem guten Gefühl.
Man konnte lesen, dass Sie sich in der
zweiten Partie über Carlsen geärgert haben. Im Blindschach hatten Sie gegen ihn
verloren. In der Schnellschachbegegnung lehnte der Norweger ihr Remisangebot ab,
obgleich die Stellung ausgeglichen war.
Ich war nur ein wenig verärgert, aber nicht
wirklich wütend. Ich habe es dann mehr als einen Spaß genommen. Als er mein
Remisangebot ablehnte, war ich wirklich sehr verwundert, denn die Stellung war
vollkommen ausgeglichen. Als er mir einige Züge später selbst den
Friedensschluss anbot, wollte ich es auf die Spitze treiben und lehnte ab (lacht).
Allerdings realisierte ich nicht, dass ich es so laut tat, dass man es im
gesamten Spielsaal hören konnte. Es war aber nicht schlimm. Ich habe ein gutes
Verhältnis zu Magnus und wir analysierten die Partie danach ganz
freundschaftlich.
Nach Amber hatten Sie Ihren ersten
Einsatz in der Bundesliga.

Wolfgang Grenke und Vishy Anand
Es war die letzte Runde. Selbst wenn wir
alle acht bodenlos schlecht gespielt hätten, wäre uns der Titel nicht mehr zu
nehmen gewesen. Mit meiner Leistung war ich zufrieden, denn ich konnte beide
Partien gewinnen. Aber ich muss zugeben, dass meine Teamkollegen die Aufgabe
schon früher erledigt hatten. Auf meine Siege kam es nicht mehr an.
Spielen Sie gerne in einem Team?
Ich bin nun seit einigen Jahren bei
Baden-Baden. In den letzten beiden Saisons hatte ich leider wenig Zeit. Früher
kam ich teilweise auf sieben Einsätze. Ich mag meine Mannschaftskollegen sehr,
der Teamspirit ist ausgezeichnet. Es macht großen Spaß, mit den Leuten zu
spielen.
Ihre Partie gegen Stellwagen war sehr
kompliziert …
Ich hatte die scharfe Bauernraubvariante
vorbereitet. Er überraschte mich mit einer Nebenvariante. Danach konnte ich mich
nicht mehr genau an die Theorie erinnern. All die klassischen Partien von Tal,
Tolusch und den großen Spielern der 50er kamen mir ins Gedächtnis. Ich brauchte
20 Minuten, um alles zu ordnen. In dieser Stellung kann ein falscher Zug sofort
zum Matt führen. Ich entschied mich, die Dame für drei Figuren zu geben, wonach
eine sehr komplexe Stellung entstand. Ich berechnete so viele Varianten, dass
sich mir alles im Kopf drehte. Aber meinem Gegner ging es nicht besser. Viele
meiner Teamkollegen und die Zuschauer mochten diese Partie. Aber wir Spieler
litten (lacht).
Im nächsten Jahr werden Sie Ihren
WM-Titel verteidigen müssen. Wie haben Sie das Match zwischen Topalov und Kamsky
gesehen, in dem Ihr Herausforderer ermittelt wurde?
Das Duell war viel enger, als ich dachte.
Ich vermutete, Topalov gewinnt dank seiner ausgezeichneten Vorbereitung, obwohl
ich von Kamsky hartnäckigen Widerstand erwartete. Tatsächlich war es genau
umgekehrt. Topalov hatte mehrfach Probleme in der Eröffnung, aber Kamsky brachte
die Arbeit nicht zu Ende. Topalov hat sehr gute Nerven bewiesen – dafür ist
eigentlich sein Gegner bekannt. Hätte Kamsky seine Stellungen etwas besser
verteidigt, wäre das Match über die volle Distanz gegangen. Aber er hatte
diesmal große Schwierigkeiten mit seiner Zeiteinteilung.
Ein WM-Kampf braucht eine monatelange
Vorbereitung. Wann werden Sie damit beginnen?
Ich kann erst anfangen, wenn mir etwas mehr
Details vorliegen. Bislang ist der Kampf auf April angesetzt, aber vieles ist
noch unklar. Ich mache im Moment lediglich generelle Pläne, mehr nicht.
Der Qualifikationszyklus für die WM
ist in den letzten Monaten ins Straucheln geraten, weil die Grand Prix-Serie
kurz vor dem Kollaps stand. Nun soll ein Kandidaten-Turnier ausgetragen werden.
Was halten sie von den Regeländerungen, die Sie direkt betreffen?
Für mich ist es unglaublich, dass die FIDE
die Regeln während eines Zyklus ändert. Man hätte für zukünftige Veranstaltungen
einen neuen Modus suchen können. Aber so ist es für unseren Sport sehr
unerfreulich. Ein Hauptproblem ist die Kommunikation. Die Verantwortlichen
hätten die Modifikationen sehr viel offener mit den Spielern diskutieren sollen.
Ich denke, die FIDE muss einfach bessere Kontrakte mit den Veranstaltern machen,
damit so etwas in Zukunft nicht mehr passiert.
Lassen Sie uns noch über die Chess
Classic sprechen, die vom 27. Juli – 2. August in Mainz stattfinden. Sie haben
bereits elfmal den Titel errungen – ein außergewöhnlicher Erfolg im
professionellen Schach. Auch ansonsten haben Sie alles in ihrem Sport erreicht.
Seit über 20 Jahren sind Sie in der Weltspitze, haben sich in drei verschiedenen
Formaten als Weltmeister behauptet, haben alle wichtigen Turniere gewonnen. Wie
motivieren Sie sich?
Das Wichtigste ist, dass man das
Schachspielen genießt. Ich denke nicht, dass man sich nur durch Titel oder
Turniere motivieren kann. Natürlich sind das Ziele, die notwendig sind und
Orientierung geben. Aber die Motivation selbst kommt durch das Spiel. Mir ist
klar, dass mein Antrieb irgendwann nachlassen wird. Aber im Moment genügt
gewöhnlich eine kleine Pause, wenn es mir zuviel geworden ist. Ich finde Schach
nach wie vor sehr interessant. Zudem begegnet man innerhalb von 20 Jahren immer
neuen Spielern, die neue Herausforderungen darstellen. Talente wie Radjabov,
Carlsen oder Karjakin sorgen dafür, dass es nicht langweilig wird.
Bei den Chess Classic konnten Sie die
letzten neun Veranstaltungen im Schnellschach allesamt für sich entscheiden.
Können Sie sich überhaupt vorstellen, in Mainz nicht zu gewinnen?
Ich muss zugeben, dass dieser Rekord ein
wirklich großer Erfolg ist. Bei den Chess Classic drücke ich mir jedes Jahr die
Daumen und hoffe, dass mir das Glück hold bleibt. Allerdings weiß ich, dass in
der Vergangenheit Kleinigkeiten den Ausschlag zu einem anderen Ergebnis hätten
geben können. Es war meist nicht so klar, wie es am Ende aussah. Selbst bei
meinen erfolgreichsten Turnieren gab es immer ein, zwei Schlüsselmomente. Wären
sie anders gelaufen, wären die Dinge komplizierter geworden.
Bei den kommenden Chess Classic wird
Ihr Hauptkonkurrent Levon Aronian sein, der nicht nur um die Schnellschachkrone
kämpft, sondern auch seinen Chess960-Titel verteidigt. Ist es ein Vorteil für
Sie, dass er zwei Turniere spielen muss?
Schwer zu sagen. Man weiß vorher nie, ob es
einen ermüdet oder ob es einen in Form hält. Aronian hat in den letzten beiden
Jahren gute Ergebnisse gegen mich erzielt. Er ist auf jeden Fall ein harter und
gefährlicher Gegner. Und ich muss sehr vorsichtig sein.
Können Sie den Spielstil von Aronian
charakterisieren?
Er ist positionell orientiert hinsichtlich
seiner Eröffnungen und den Strukturen, die er anstrebt. Aber er spielt diese
Stellungen sehr taktisch. Er eröffnet zwar mit 1.d4, aber er behandelt die
Stellungen wie ein e4-Spieler. Wenn es kompliziert wird, hält er stets kleine
Fallen für seine Gegner bereit. Er ist ein sehr talentierter Taktiker, rechnet
ausgezeichnet und verpasst selten Chancen, die sich ihm bieten. Das macht ihn
unglaublich gefährlich.
Sie werden auch gegen Arkadij
Naiditsch spielen müssen. Seit letztem Jahr sind Sie Teamkollegen in
Baden-Baden. Was können Sie über ihn sagen?
Wir haben einige Male in Dortmund
gegeneinander gespielt, aber noch keine Erfahrungen in Schnellschachpartien. Er
ist ein vielversprechender „Youngster“. Das wird er mit seinen 23 Jahren
wahrscheinlich nicht gerne hören, aber er ist wohl immer noch dort anzusiedeln.
Er arbeitet hart an seinen Eröffnungen. Eine Weile dachte ich, er könnte den
Durchbruch schon 2004 schaffen, als er gute Resultate vorzuweisen hatte. 2005
konnte er in Dortmund sensationell gewinnen. Danach hatte er zwar keine richtig
schlechten Resultate, aber er spielte zu wechselhaft. Nach einigen kleinen
Rückschlägen hat er im letzten Jahr große Fortschritte gemacht. Seine Zahl ging
nach oben und er hat nun in der April-Liste eine Elo von über 2700.
Der vierte Teilnehmer der
GRENKELEASING Rapid World Championship
ist Ian Nepomniachtchi. Er konnte bei den letzten Chess Classic das Ordix Open
gewinnen.
Ihn kenne ich von den Dreien am
schlechtesten. Ich habe noch nicht gegen ihn gespielt. Er versucht ein bisschen,
Morozevich nachzuahmen. Man merkt seinem Spiel an, dass er seinen Landsmann sehr
bewundert. Aber es ist sehr schwer, den Stil von Moro zu kopieren, weil er so
eigen ist. Es erfordert ein sehr hohes positionelles Verständnis. Wenn man
fortwährend unbekannte Stellungen anstrebt, in denen man sich nicht auf die
Theorie oder seine Vorbereitung verlassen kann, ist man viel mehr als gewöhnlich
auf seinen eigenen Navigationssinn zurückgeworfen. Alleine das zeigt schon, dass
er sehr begabt ist, denn er kann so spielen. Er hat auf jeden Fall den
ungewöhnlichsten Stil der diesjährigen Chess Classic Teilnehmer.
Nepomniachtchi hatte die letzten Jahre
hinweg immer wieder gute Ergebnisse vorzuweisen, den Durchbruch hat er aber noch
nicht geschafft. Trotz einiger herausragender Turniersiege ist seine Elozahl
immer noch etwas niedrig…
Heutzutage konkurrieren sehr viele gute
Nachwuchsspieler miteinander. Manchmal läuft es ein Jahr lang nicht richtig gut,
ohne dass man etwas falsch gemacht hat. Vielleicht hat man einfach nicht die
richtigen Einladungen bekommen. Ein anderes Mal hat man das nötige Glück und man
spielt plötzlich auf einer anderen Leistungsstufe. Ich bin sicher, Ian wird in
Mainz sehr motiviert sein und sein Können zeigen. Ich freue mich auf ihn.
Vielen Dank für das Gespräch.
