Kramnik über Schach, Anand, Topalov und seine Zukunft (2)
Fotos: Irina Stepaniuk, Übersetzung aus dem Englischen: Bastian
Pielczyk
Von
diesem Interview habe ich lange geträumt. Seit dem Ende der 1990er Jahre waren
Vladimir und ich nur selten einer Meinung gewesen, und nun bekam ich endlich die
Chance, alle Gegensätze herauszuarbeiten. Doch dieser Plan schlug von Anfang an
fehl – erstens, weil Kramnik im Vorfeld unseres Gesprächs schon eine Reihe
anstrengender Interviews gegeben hatte, und zweitens, weil es nicht leicht ist,
jemanden mit verzwickten und umstrittenen Fragen zu zermürben, wenn dieser
Jemand ein so ausgesprochen angenehmer Gesprächspartner ist. Selbst bei der
Terminabsprache war Vladimir nicht nur tadellos höflich, sondern zeigte
zeitweise sogar aristokratische Umgangsformen. So schwand meine Angriffslust,
und ich wollte mit diesem großartigen Schachspieler einfach Themen besprechen,
die mich interessierten. Was daraus wurde, sehen Sie hier…
Topalov
V.T.:
Kannst du mir sagen, was momentan mit Topalov los ist?
V.K.:
Ich habe keine Ahnung. Es geht nicht einmal darum, dass er eine schlechte Phase
hat. Ich verstehe nicht, warum er gerade überhaupt nicht spielt. Letzten Endes
kann man sich aus so einer Situation nur durch Spielpraxis befreien, aber wenn
man nur alle sechs Monate an einem Turnier teilnimmt, ist es sehr schwer, wieder
den richtigen Rhythmus zu finden. Er ist ein fabelhafter Spieler, aber es ist
offensichtlich, dass er nicht in Form ist und zuletzt eine richtige Talfahrt
erlebt hat. Sein Hauptproblem ist, glaube ich, dass er aus irgendeinem Grund
nicht spielen will. Wenn man wirklich spielen möchte, findet sich immer eine
Möglichkeit.
V.T.:
Hast du eine Ahnung, warum das so ist?
V.K.:
Vielleicht hat er keine Lust mehr oder es liegt an seiner Heirat. Ich weiß es
nicht, ich kann es nicht nachvollziehen.
V.T.:
Warum warst du wegen des
Toilettenskandals
so aufgebracht? Ist es nicht im Grunde genommen legitim, sich während eines
Weltmeisterschaftskampfes gegenseitig zu misstrauen?
V.K.:
Es ist legitim, jemandem zu misstrauen, aber, gelinde gesagt, illegitim, die
eigene Vermutung öffentlich als Tatsache darzustellen. Ich selbst habe nie
jemanden verdächtigt, nicht zuletzt deshalb, weil es menschlich ekelhaft ist und
ein Mindestmaß von Anstand vermissen lässt.
V.T.:
Du akzeptierst solche Methoden der Wettkampfführung nicht?
V.K.:
Nein.
V.T.:
Was ist dir dort passiert? Hattest du einen Nervenzusammenbruch? Für Beobachter
sah es so aus, als ob dich der ganze Skandal einfach unter Druck setzen sollte.
V.K.:
Teilweise, ja. Aber tatsächlich fingen die „Beschwerden“ schon früher an, gleich
nach der zweiten Partie; es war vollkommen klar, dass sie die Mitglieder des
Beschwerdekomitees selbst ausgewählt hatten, und sie fingen an, das zuvor
festgelegte Reglement zu verletzen. Als ich von der Zusammensetzung des Komitees
erfuhr, zu dem auch Makropoulos und Azmaiparashvili gehörten, war ich sofort
sehr unzufrieden, und sei es nur deshalb, weil Makropoulos finanzielle
Beziehungen zu Danailov unterhält; das war damals schon bekannt. Es war
offensichtlich, dass dies nichts Gutes zu bedeuten hatte. Allerdings wollte ich
sie mit rechtlich bindenden Verträgen in Schach halten. Darin war nahezu alles
genau festgelegt, unter anderem auch, dass Beschwerden vor dem Beginn des
Wettkampfs eingelegt werden sollten. Aber nicht während er lief! Später war ich
sehr erschrocken darüber, dass sie Danailov das Video gegeben hatten, das mich
auf dem Weg zur Toilette zeigt. Das war totaler Wahnsinn! Okay, der
Schiedsrichter darf es jederzeit anzusehen, aber sonst niemand. Ich habe nichts
zu verbergen, aber das ist eine prinzipielle Angelegenheit. Heute Danailov, und
morgen stellen sie es ins Internet. Was haben sie sich dabei gedacht? Es war
absolut erbärmlich.
V.T.:
Warst du so bestürzt, weil du dich wie in einer feindlichen Umgebung fühltest?
V.K.:
Ja, natürlich. Und dann fingen sie an, all diese „Anfragen“ zu bearbeiten,
obwohl ich ihnen den Vertrag und die Regeln zeigte. Es stellte sich heraus, dass
ein unglaublicher rechtlicher Konflikt bestand, der mir vor dem Wettkampf nicht
aufgefallen war. Ich denke, Danailov hatte alles vorab geplant. Es ging darum,
dass die Entscheidungen des Beschwerdekomitees trotz des Vertrags endgültig und
unanfechtbar waren. Das war eine vollkommen verrückte Situation: sie hätten
sogar eine von mir gewonnene Partie als Remis werten können, ohne dass dagegen
hätte angehen können. Erst nach dem Wettkampf hätte man sie vor einem Gericht
anklagen können, das dann wahrscheinlich geurteilt hätte, dass sie nie wieder in
einem Beschwerdekomitee tätig sein dürften. Und dann wurde mir klar, dass alles
nur schlimmer werden würde – sie hatten mir unrechtmäßig meinen Ruheraum
genommen, morgen würden sie etwas anderes folgen lassen. Nach bloß vier Partien
hatten sie schon einen Eimer voller Mist über mir entleert; und sie brachen alle
Regeln.
V.T.:
Aber hast du nicht damit rechnen müssen, dass irgendwann ein Krieg entstehen
würde, insbesondere wenn man die Matches zwischen Karpov und Kasparov kennt?
V.K.:
Aber die Zeiten haben sich
geändert. Ich hatte die Illusion, dass es in Russland nicht zu solch empörenden
Vorgängen kommen würde. Aber leider ist es passiert. Über Ilyumzhinov kann ich
mich nicht beschweren; es ist offensichtlich, dass er nichts damit zu tun hatte,
sondern die Kontrolle über die Situation vollkommen verlor. Sie haben ihn
schlicht getäuscht, während alle anderen für ein Team spielten. Deshalb hatte
ich das Gefühl, vollends hilflos zu sein. Ich wusste einfach nicht, was ich
machen sollte.
Es gab Millionen
Regelverletzungen; zum Beispiel wurde mir die fünfte Partie vollkommen
unrechtmäßig als Niederlage verbucht, da vertraglich festgelegt war, dass eine
Partieverschiebung, und sei es nur um eine Minute, der schriftlichen Genehmigung
des FIDE-Präsidenten bedurfte – der war aber überhaupt nicht anwesend. Somit war
die halbstündige Verlegung der Partie illegal.
V.T.:
Aber das hast du erst im Nachhinein bemerkt?
V.K.:
Ja, natürlich, weil ich kein Jurist bin. Mein Anwalt hat mir später alles
erklärt; und ich habe die FIDE benachrichtigt, dass ich sie wegen des
weggenommenen Punktes verklagen würde. Und dann passierte das vollkommen
Unvorstellbare – sie fälschten Ilyumzhinovs Unterschrift; das ist zweifelsfrei
belegbar. Gegen etwa 15:30 Uhr zeigten sie mir ein Blatt Papier mit der
Unterschrift des FIDE-Präsidenten, das etwa folgende Worte enthielt: „Ich
erkläre das Urteil des Beschwerdekomitees für rechtmäßig. Vladimir soll den
Wettkampf fortsetzen“ usw. Aber zu diesem Zeitpunkt befand er sich zusammen mit
Zhukov in einer Regierungssitzung. Zhukov hat mir später zugesichert, zu
bezeugen, dass Ilyumzhinov weder das Gebäude verlassen noch irgendein Papier
unterzeichnet hatte. Sie hatten seine Unterschrift einfach mit einem Stempel
aufgebracht, ohne dass er davon wusste.
V.T.:
Warum hat er auch später überhaupt nicht darauf reagiert?
V.K.:
Wie soll man darauf reagieren – indem man zugibt, dass man die Kontrolle über
die Situation vollkommen verloren hatte?
V.T.:
Und wieso hat er niemanden gefeuert?
V.K.:
Weil er unentschlossen ist und sich auch dann nicht von Leuten trennt, wenn es
notwendig wäre. Tatsächlich war er unglaublich wütend, als er begriff, dass sie
ihn glatt betrogen hatten. Azmaiparashvili, der seine eigenen privaten
Interessen verfolgte, hatte ihn hintergangen. Er musste Topalov zum Weltmeister
machen, um anschließend einen Wettkampf gegen Radjabov in Baku veranstalten zu
können. Dafür sollte er etwas bekommen. Man muss verstehen, dass die Krux darin
lag, dass für den Wettkampf in Baku bereits ein Vertrag abgeschlossen worden
war. Für dieses Match, das im April stattfinden sollte, würde Topalov eine
Million Dollar bekommen – aber er musste dafür Weltmeister sein. Deshalb war ihm
jede Option recht, als das ganze Durcheinander mit der Wettkampfunterbrechung
begann, selbst eine spätere Fortsetzung in Elista mit eingefrorenem Punktestand.
V.T.:
Warum war ihm das Match in Baku so wichtig? Euer Preisgeld war ja nicht
geringer.
V.K.:
Doch, das war es, und zudem hatte er das Geld schon längst bekommen.
Azmaiparashvili war ein direkter Beteiligter des Geschäfts mit Aserbaidschan und
hatte somit ein unmittelbares Interesse daran. Bei einer vor dem Wettkampf
veranstalteten Pressekonferenz in Sofia, um das Match in Baku zu bewerben,
teilten sie mit, dass alles in trockenen Tüchern sei. Anschließend fragte ein
Journalist, was passieren würde, wenn Topalov in Elista verlöre. Mit einem
Lächeln antwortete Azmaiparashvili: „Er wird nicht verlieren.” Wie kann ein
Mitglied des Beschwerdekomitees so etwas sagen? All diese Aussagen machten mich
misstrauisch; ich merkte, was vor sich ging, und bereitete mich darauf vor.
V.T.:
Aber du wusstest nicht, was genau passieren würde?
V.K.:
Ich habe nicht erwartet, dass alles so plötzlich, unmenschlich und absolut
schamlos stattfinden würde. Vielleicht lag das an meiner mittlerweile ziemlich
westlichen Denkweise, für die ein Vertragsabschluss eine gewisse Bedeutung hat.
Aber er bedeutete absolut nichts! Es war offensichtlich, für wen „Azmai“
arbeitete. Ich glaube nicht, dass Makropoulos ähnliche Motive hatte; er wusste
einfach nicht, was er tun sollte. Alles lief aus dem Ruder; und ich wurde
selbstverständlich wütend. Als sie mir den Punkt wegnahmen, wollte ich den
Wettkampf zunächst nicht fortsetzen, aber dann sah ich diese Visage (lacht) und
dachte mir: „Nein, so leicht kannst du mich nicht besiegen.“
V.T.:
Wessen Visage?
V.K.:
Na, die von Danailov. Er strahlte richtig auf der Pressekonferenz, weil er damit
rechnete, dass alles zusammenbrechen würde und sie das Match in Baku und das
Geld bekommen würden. Meine Entscheidung war unvernünftig, aber im letzten
Moment, irgendwann vor der sechsten Partie, beschloss ich, ihnen nichts zu
schenken und den Wettkampf fortzusetzen.
V.T.:
Worüber du jetzt sichtlich froh bist.
V.K.:
Ja, natürlich. Es war eine schwere Entscheidung, denn ich hätte ja auch
verlieren können.
V.T.:
Und was sagte dein Umfeld vor der Partie?
V.K.:
Nichts. Es ist völliger Unsinn, dass ich eine Order aus dem Kreml bekommen haben
soll. Es gab einzig ein Gespräch mit Zhukov, der mir deutlich sagte: „Wir, der
Schachverband, werden deine Entscheidung unterstützen, egal wie sie ausfällt.“
Auch mein Trainerstab signalisierte mir: „Es ist deine Entscheidung.“
V.T.:
Und hättest du weitergespielt, wenn der Wettkampf nicht in Russland
stattgefunden hätte?
V.K.:
Natürlich, welchen Unterschied macht das? Tatsächlich traf ich meine
Entscheidung ziemlich spontan. Ob es bei ihnen genauso war? Das glaube ich kaum.
V.T.:
Seitdem sind viele Jahre vergangen. Ist es immer noch persönlich schwierig
zwischen dir und Topalov?
V.K.:
Naja, was heißt persönlich schwierig? Ich habe einfach keine Achtung vor diesen
Leuten.
V.T.:
Also schüttelst du ihnen nicht die Hand?
V.K.:
Nein.
V.T.:
Was hast du gemacht, als du gegen ihn gespielt hast?
V.K.:
Es gibt da einen Trick – es ist nicht erlaubt, den Händedruck abzulehnen, aber
man muss die eigene Hand nicht anbieten. Für mich existiert diese Person nicht,
bis er Reue zeigt und sich öffentlich für sein Verhalten entschuldigt. Dann wäre
die Lage völlig anders. Wir könnten miteinander reden, ich wäre dazu bereit.
Derweil interessiert er mich nicht, und ich finde seine moralischen und
ethischen Normen inakzeptabel. Ich will weder mit ihm sprechen noch seine Hand
schütteln. Gleiches gilt für Danailov. Trotzdem muss ich zugeben, dass er in
Bezug auf die Geldbeschaffung kein schlechter Schachmanager ist und einige
vernünftige Ideen hatte.
Die Zukunft
V.T.:
Du hast gesagt, dass die nächste Olympiade vielleicht deine letzte sein wird und
du deine Karriere bald beenden könntest. Was wirst du dann machen?
V.K.:
In erster Linie möchte ich, solange ich noch aktiv bin, nicht allzu ernsthaft
darüber nachdenken.
V.T.:
Aber du hast dir bestimmt schon ein paar Gedanken gemacht.
V.K.:
Es gibt ein paar Überlegungen, einige Bereiche, die mich interessieren. Ich bin
ein ziemlich geselliger und offener Mensch und habe Freunde in den
verschiedensten Arbeitsgebieten. Ich wäre gerne an der Umsetzung eines Projekts
beteiligt, das mir am Herzen liegt – sei es gesellschaftlich, im Schach,
politisch oder etwas ganz anderes. Ich möchte Arbeit investieren und ein
Ergebnis sehen.
V.T.:
Und du meinst, dass du das Potential dazu hast?
V.K.:
Es sieht so aus, als habe ich Energie, Köpfchen und auch den Willen. Ich bin
noch nicht alt. Ich habe viel gespielt und eine Menge erreicht, aber
höchstwahrscheinlich wird es mit meiner Karriere ab einem bestimmten Punkt
bergab gehen.
V.T.:
Stimmt, ich halte es für unwahrscheinlich, dass du dich mit dem zehnten Platz
der Rangliste zufriedengeben wirst.
V.K.:
Das ist nicht einmal das Problem. Ich könnte es, aber sehe keinen Sinn darin.
Wenn ich feststelle, dass ich immer schlechter spiele, und sich daran nichts
ändert, warum sollte ich dann weitermachen? Solange ich noch recht ordentlich
spiele und von Zeit zu Zeit einige Turniere gewinne, die Olympiade zum Beispiel,
oder Dortmund zum zehnten Mal, ist alles noch relativ interessant. Die
Motivation wird jedoch etwas nachlassen, wenn ich den nächsten
Weltmeisterschaftszyklus nicht erreiche. Nur aufzukreuzen, um ein bisschen zu
spielen, interessiert mich überhaupt nicht.
V.T.:
Wann willst du aufhören?
V.K.:
Wahrscheinlich mit etwa 40 Jahren. Ich kann dir aber ehrlich sagen, dass ich
meine Karriere bei einem interessanten Angebot schon morgen beenden könnte.
V.T.:
Und bisher gab es keins?
V.K.:
Ich rede nicht von finanziellen Vorschlägen.
V.T.:
Könntest du etwas mehr ins Detail gehen, denn „soziales oder politisches
Projekt“ klingt sehr vage?
V.K.:
Ich weiß es selbst nicht genau. Irgendein Projekt, etwa zur Förderung des
Ansehens von Russland in Frankreich. Anders gesagt: Ich wäre daran interessiert,
ein weitreichendes, konzeptionelles Projekt voranzutreiben. Am liebsten wäre mir
etwas, das von der Größenordnung mit der Erlangung des Weltmeistertitels
vergleichbar wäre.