„Wir erleben einen
Generationswechsel im Weltschach“
Interview mit Juri Awerbach
Von Dagobert Kohlmeyer
Der
83-jährige Großmeister aus Russland ist eine lebende Schachlegende. 1953 nahm
Juri Awerbach am unvergessenen WM-Kandidatenturnier in Zürich teil, ein Jahr
später wurde er UdSSR-Landesmeister. Die Bücher des Moskauers zur
Endspieltheorie sind Klassiker. Beim vergangenen Lasker-Wochenende in Berlin
referierte Awerbach über Ilja Maiselis und war auch darüber hinaus einer der
begehrtesten Gesprächspartner. Dagobert Kohlmeyer nutzte die Gelegenheit.
Was sagen
Sie zu Weselin Topalows WM-Erfolg in Argentinien?

Das war
einfach eine großartige Vorstellung. Er hat, wie man so sagt, die gegenwärtig
Stärksten unter den aktiven Großmeistern besiegt.
Kann man
den bulgarischen Vorkämpfer schon mit den Superstars Anatoli Karpow oder Garri
Kasparow vergleichen?
Mit Karpow
kann ich ihn nicht vergleichen, weil dieser einen anderen Stil pflegt. Mit
Kasparow unbedingt, aber es ist sicher noch etwas zu früh, den neuen
FIDE-Champion auf eine Stufe mit dem 13. Schachweltmeister zu stellen. Was mir
jedoch sympathisch ist, das ist Topalows kompromissloses Spiel. Der Mann hat in
diesem Turnier seine Körperhöhe deutlich übersprungen.
Hat jetzt
eine neue Ära im Weltschach begonnen?

Ich denke,
ja. Sehen Sie, wir erleben im Moment überhaupt einen Generationswechsel. Das
geht heute viel schneller als zu meiner aktiven Zeit. Denken Sie nur an die
jungen Ukrainer, die da plötzlich alle aufgetaucht sind und in der Weltspitze
mitspielen. Das ist eine ganze Mannschaft, die sehr ernst zu nehmen ist. Nicht
umsonst wurden sie im Herbst 2004 auf Mallorca Olympiasieger.
Noch
einmal zu Topalow. Was ist so bedeutsam an seinem Titelgewinn?
Ich sehe vor
allem zwei Dinge. Der Sieg Topalows war erfreulich und nützlich für die weitere
Entwicklung im Spitzenschach. Und er zeigte, dass man auch in seinem Alter (mit
30 Jahren) noch enorme Fortschritte erzielen und einen großen Schritt nach vorn
tun kann.
Die
Bulgaren stellen im Moment mit Weselin Topalow, Antoaneta Stefanowa und Ljuben
Spassow drei Weltmeister. Sind Sie, ähnlich wie die Ukraine, auf dem Weg zu
einer Schach-Großmacht?
Das kann
vielleicht passieren. Wir wissen ja, die Champions hatten und haben in der
Schachgeschichte immer eine sehr große Vorbildwirkung. An ihnen orientieren sich
die Schachjünger.

Juri
Lwowitsch, Sie sind ein erfahrener Schachfunktionär. Welche Rolle spielt aus
Ihrer Sicht das Management in unserem Metier?
Es ist ganz
wichtig. Ich denke zum Beispiel, dass Silvio Danailow offensichtlich ein sehr
guter Manager ist. Nicht nur die Ergebnisse des Topalow-Teams in San Luis
sprechen dafür. Generell meine ich, dass die Organisation heute, egal in welchem
Land und auf welchem Gebiet, eine entscheidende Rolle spielt. Meine Erfahrung
sagt, wenn man eine Sache gut organisieren kann, dann beginnt das System
automatisch zu arbeiten. In diesem Zusammenhang hoffe ich, dass das Superturnier
in Sofia eine feste Tradition wird.
Wie
denken Sie über das dort praktizierte Reglement, welches Remisvereinbarungen der
Spieler ohne Kampf und ohne Genehmigung des Schiedsrichters verbietet?
Ich
unterstütze es. Man muss auf jeden Fall Mittel suchen, um Partien zu verhindern,
in denen nicht gespielt wird. Besonders dann, wenn die Zuschauer Eintritt
bezahlen. Es ist unbedingt notwendig, Maßnahmen zu ergreifen, um dem Spiel ohne
Kampf entgegen zu wirken. Ein Patentrezept habe ich auch nicht, aber man muss
auf jeden Fall etwas dagegen tun.
Nehmen
wir einmal an, ein Match zwischen den beiden Weltmeistern Wladimir Kramnik und
Weselin Topalow kommt trotz aller Unwägbarkeiten und Widerstände zustande. Wer
ist dann Ihr Favorit?
Eindeutig
Topalow, weil ich leider den Eindruck habe, dass mein Landsmann Kramnik in
seiner Entwicklung stehen geblieben ist. Und das, obwohl er noch ein junger Mann
ist. Wladimir hat, wie mir scheint, etwas die Motivation verloren, weil er schon
so viel gewonnen hat. Es gibt, so scheint es jedenfalls, keinen Stimulus mehr
für ihn. Schach auf hoher Ebene erfordert ständige Arbeit. In dieser Hinsicht
unterscheiden sich beide Großmeister offenbar. Topalow ist, wie es aussieht,
noch hungriger auf den Erfolg.
Der Weltmeister wird nur im
Match geboren
Interview mit Isaak Linder
Von Dagobert Kohlmeyer
Der berühmte
Schachhistoriker aus Moskau ist Gründungsmitglied der Lasker-Gesellschaft und
trotz seiner 85 Jahre noch immer Stammgast und Vortragsredner bei jeder ihrer
Konferenzen. Isaak Linder war ebenfalls voll des Lobes über Topalows Leistung in
San Luis und verglich den Bulgaren ob seiner Spielweise mit Emanuel Lasker. Bei
aller Euphorie zeigte sich Linder jedoch nachdenklich, was die
schachgeschichtliche Stellung des FIDE-Weltmeisters angeht.
Welchen
Stellenwert hat das Turnier in der Geschichte der Schachweltmeisterschaften?

Zunächst
einmal sei gesagt, dass Topalow großartig gespielt hat. Im ersten Durchgang
erinnerte er mich an Emanuel Lasker. Deshalb hat er auch verdient gewonnen. In
San Luis war nach der Hinrunde praktisch schon klar, wer Weltmeister sein würde.
Das ganze Turnier hat jedoch auch gezeigt, dass Weltmeister so nicht geboren
werden.
Wie
meinen Sie das?
Der
doppelrundige Wettbewerb war zu unterschiedlich besetzt. Es hätten vier, fünf
oder sechs gleichwertige Leute, die echte WM-Anwärter sind, untereinander um den
Titel spielen müssen. Und wenn es dort noch einen dritten und vierten Durchgang
gegeben hätte, dann wäre die ganze Sache vielleicht anders verlaufen. Am besten
wäre es meiner Ansicht nach gewesen, wenn sie alle wie beim Match-Turnier 1948
fünf Partien gegeneinander gespielt hätten.

Das hätte
enorm viel Zeit gekostet, lieber Isaak! Ihr Einwand in Ehren, aber kann er
Topalows einmalige Vorstellung schmälern?
Nun, ich
wiederhole: Topalow hat völlig verdient gewonnen. Weil er vortrefflich spielte
und ein phantastisches Schach zeigte, so wie früher Lasker. Topalow riskierte in
seinen Partien viel, und er rechnete weiter als seine Kontrahenten. Auch in
psychologischer Hinsicht war er seinen Gegnern überlegen. All das war großartig.
Aber…
Noch
weitere Bedenken?

… Topalow
ist nicht Weltmeister in der klassischen Linie. Wenn er Kramnik besiegt, dann
ist er 15. Schachweltmeister der Geschichte, keine Frage. Aber noch hat er keine
„Hausnummer“, genau so wie seine Vorgänger auf dem FIDE-Thron, die im K.-o.-System
ermittelt wurden.
Wie
lautet also Ihr Vorschlag?
Ein
Schachweltmeister kann nur in einem Match geboren werden und nicht in einem
Turnier. Es sei denn, es gibt keinen Weltmeister so wie 1948. Dann ist es
legitim, so ein WM-Turnier zu veranstalten. In der Regel aber wird ein Champion
in einem Duell ermittelt, in welchem er seinen Vorgänger schlägt. Das ist gute
historische Tradition, und eine andere sollte es nicht geben.
Die FIDE
spielt aber schon mit dem Gedanken, ein derartiges WM-Turnier alle zwei Jahre zu
veranstalten.
Das ist sehr
schlecht. Weil ich denke, ein doppelrundiges Turnier ist auf Dauer nicht die
Lösung des Problems. Ich möchte Max Euwe zitieren, der einmal gefragt wurde, was
besser zur Ermittlung des Weltmeisters tauge, ein Turnier oder ein Match? Er
sagte klipp und klar: „In einem Turnier kann es viele Zufälle geben, in einem
Zweikampf jedoch gibt es keine großen Zufälle.“ Und er hat Recht.
Was sagen
Sie zu Vishy Anand, der schon einmal FIDE-Champion war? Wenn man Ihrer
Argumentation folgt, ist er dann aus Ihrer Sicht auch kein echter Weltmeister
gewesen?
Ich habe es
bedauert, dass Anand in San Luis nicht gewonnen hat. Er ist ein Schachgenie,
darüber gibt es keinen Zweifel. Doch es zeigte sich wieder, dass Anand leider
nicht als Weltmeister geboren ist. Sein Charakter hindert ihn daran. Er ist
mitunter zu weich, nicht so ein Kämpfer wie früher Lasker oder Aljechin bzw. wie
in unserer Zeit Kasparow und Topalow. Anand erklärte vor kurzem selbst in einem
Interview mit der Moskauer „Schachrundschau 64“: „Ich bin der Killer meiner
eigenen Träume.“ Das ist eine sehr treffende Aussage und Selbsteinschätzung.
Fotos vom Lasker-Wochenende

Averbach, Linder, Kortschnoj

Viktor Kortschnoj

Susanna Poldauf, Kuratorin der Ausstellung, erhält Blumen von
Stefan Hansen

Edzard Reuter

"Globalisierung geht, Schach bleibt".

Paul Werner Wagner

Wolfgang Unzicker wird geehrt

Wüllenweber, Pfleger, Deutschmann


Treffen der Schachhistoriker, Ehepaar Holländer, Lothar Schmid