Ist RU-21die Pille für den klaren Kopf?

von ChessBase
30.09.2003 – Bisher ist beim Schach eigentlich nur eine Form des Dopings bekannt: das elektronische Doping, bei dem sich Spieler durch unerlaubte Zuhilfenahme von Computern einen Vorteil verschaffen. Der jüngst von der Fide eingeführte Doping-Katalog wird allgemein als Schlag ins Leere angesehen und kann höchstens den örtlichen Kaffee-Dealer in Verlegenheit bringen. Vielleicht sieht das in Kürze ja ganz anders aus, wenn sich RU-21 auf dem Markt verbreitet. Immerhin weiß dann Fide-Präsident Illymshinov sofort, um was es geht, denn er selbst schreibt in seiner Autobiografie, schon einmal von dieser einst geheimen "KGB-Pille" gekostet zu haben. Gerald Schendel hat die Fakten recherchiert. Mehr...

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RU-21: Die Pille für den klaren Kopf

RU-21" könnte die Bezeichnung für ein US-amerikanisches Luft-Überwachungssystem sein, doch Schlagzeilen machte das Kürzel vor wenigen Tagen als Bezeichnung für eine bis 1999 geheime "KGB-Pille" gegen Kater und Magenprobleme.
Der Schweizer
"BLICK" registrierte einen "Rausch-Angriff aus Russland", die "BILD"-Zeitung zitierte einen begeisterten Tester, den die "Rocky Mountain News" gefunden hatten ("dank RU-21 fühlte ich mich, als ob ich mindestens 18 Löcher Golf spielen könnte"), und auch das "Focus"-Magazin zeigte sich von der KGB-Pille beeindruckt. FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow wurde bereits in den 80er Jahren mit der Existenz dieses Mittels konfrontiert.

Die Geburtstagsparty

An einem 5. April, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, feierte Kirsan Iljumschinow Geburtstag. Er studierte damals am Moskauer Institut für Auswärtige Beziehungen und traf sich mit seinen Kommilitonen. Man trank ein wenig (wie es üblich war), und dann schlug jemand vor, Erinnerungsfotos zu machen. Die Feiernden posierten vor der Kamera, verzogen das Gesicht zu einer Grimasse und alberten herum. "Kirsan, rück näher an die Fressalien! Ja, gut!" Eine Batterie von Wodka- und Brandwein-Flaschen wurde vor Kirsan Iljumschinow aufgebaut. "Und jetzt nimm dir mit der Gabel etwas vom Essen! Ja, so bleiben. Cheese! Und noch mal. Das war's."

Dieser harmlosen Feier folgte ein Verhör beim KGB. Plötzlich war alles verdächtig. Iljumschinow war befreundet mit dem Sohn von Babrak Karmal (pro-sowjetischer Machthaber in Afghanistan von Ende 1979 bis Mai 1986) und spielte Schach mit ausländischen Diplomaten. Restaurant-Besuche und sogar die Mitgliedschaft in der KPdSU-Gruppe des Instituts galten als Bestandteil eines raffinierten Plans, den sich afghanische und iranische Nachrichtendienste für Iljumschinow ausgedacht hatten. Gegen Kirsan Iljumschinow wurde wegen Spionage vom KGB ermittelt.

In einem Verhör präsentierte ein KGB-Leutnant eine Reihe von Fotos, die während Kirsan Iljumschinows Geburtstagsfeier aufgenommen worden waren. "Wie viele Flaschen Wodka trinken Sie pro Tag? Nach welcher Menge sind Sie betrunken? Hier, auf diesem Bild, steht eine beinahe leere Literflasche "Sibirskaja"-Wodka vor Ihnen, und doch sagen Augenzeugen aus, dass Sie zu dieser Zeit überhaupt nicht betrunken waren!" Der Leutnant öffnete einen Aktenordner und las eine Aussage vor: »... Iljumschinow trank beinahe eine ganze Flasche Wodka und wurde nicht betrunken. Zuvor hatte ich bemerkt, wie er sich abwendete und einige Pillen schluckte. Danach trank er Brandwein und noch irgend etwas, aber er blieb absolut nüchtern. Am folgenden Tag hatten wir Prüfungen. Im Gegensatz zu uns gab Iljumschinow klare und gut durchdachte Antworten auf alle Fragen und erhielt exzellente Noten.« Der Leutnant schaute Iljumschinow fragend an und wartete auf dessen Reaktion. "Was für Pillen? Das ist absurd!" Der Leutnant konterte: "Solche Pillen gibt es wirklich. Wir wissen das. Geheimdienstoffiziere benützen sie, um einen klaren Kopf zu behalten."

Es dauerte über acht Monate, bis die Affäre ad acta gelegt wurde und Kirsan Iljumschinow sein Studium fortsetzen konnte.

Bemerkenswert an der Schilderung von Iljumschinows Geburtstagsparty und ihren Folgen ist, dass sie einem autobiografischen Text des FIDE-Präsidenten entstammt (The President's Crown of Thorns), der vom Weltschachbund FIDE am 12. August 2003 auf der FIDE-Homepage mit dem Vermerk zum veröffentlicht wurde, er sei erstmals 1998 (im pdf-Format) veröffentlicht worden, während die russische Ausgabe anscheinend sogar schon 1995 in Moskau gedruckt vorlag.

Laut einer UPI-Meldung in der Washington Times vom 23. September 2003 wurden die Geheimnisse der "KGB-Pille" gegen Trunkenheit und Kater erst 1999 für die Öffentlichkeit freigegeben.

RU-21 - Hintergrund einer Marketing-Kampagne

Vom 23.-25. September 2003 berichteten zahlreiche Medien über "RU-21". Der Artikel bei "BILD" behauptete, "RU" stehe für die Pharma-Firma "Roussel Uclaf", doch hier liegt wohl eine Verwechslung vor mit "RU-486", der vom Vatikan bekämpften französischen Abtreibungspille. Plausibler ist ein Erklärungsversuch, wonach "RU-21" für "Are you 21?" ('Sind Sie 21?') steht, wobei man wissen muss, dass man in den Vereinigten Staaten erst mit 21 Jahren Alkohol konsumieren darf.

Dieselbe US-Firma Spirit Sciences, die seit 2003 im Internet unter der Adresse
http://www.care-ru21.org/ mit dem Slogan "Under 21 no Alcohol - Maintain your Health - RU-21 - Drink responsibly" eine Kampagne zum verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol gestartet hat, bietet seit dem Jahr 2001 unter der Adresse http://www.ru-21.com/ das Produkt "RU-21" zum Kauf an. Geschäftsführer von Spirit Sciences ist Emil Chiaberi, Beverly Hills, Kalifornien. Die aus Russland in die USA importierten und dort seit Sommer 2001 im Handel erhältlichen "RU-21"-Pillen wurden anscheinend 1978 von der Akademie der Wissenschaften zur Unterstützung sowjetischer Agenten in Feind-Einsätzen entwickelt.

Gemäß den Unterlagen des US-Patentamtes hat Spirit Sciences die Zulassung von "RU-21" nicht etwa als patentiertes Medikament, sondern als "Trademark" mit der Bestimmung "biologisch aktiver Nahrungszusatz zur Verhütung und/oder Eliminierung von Alkohol-Vergiftung und Kater-Syndrom" im März 2001 beantragt (Registrierung: März 2003).

Ein mit "RU-21" vergleichbares Produkt hat sich der 1942 in Tien-Tsin (China) geborene
US-Pharmakologe Prof. Dr. Boris Tabakoff (University of Colorado School of Medicine) unter der Nummer 4.528.295 ("Composition and Method for Reducing Blood Acetaldehyde Levels") als Medikament in den USA patentieren lassen (beantragt: 15. August 1983; registriert: 9. Juli 1985). 1988 wurde von ihm der Aufsatz Russian Drinking: Use and Abuse of Alcohol in Pre-Revolutionary Russia veröffentlicht. Boris Tabakoff hat beschlossen, sein Patent 4.528.295 nicht zu vermarkten!

Diejenige/n Person/en, die für
"BILD" zur "KGB-Pille" recherchiert hat/haben, hat/haben in dem zu mindestens 18 Löchern Golf begeisterten ("gedopt" anmutenden) Tester der "Rocky Mountain News" tatsächlich eine interessante Quelle gefunden, dabei aber - aus welchen Gründen auch immer - unterschlagen, dass dieser zufällig ausgewählte Testbericht von Jay Dedrick (37 Jahre) nur ein Anhang zu einem durchaus kritischen Artikel von Debra Melani (Feeling no pain. Supplement RU-21 eases hangovers, but critics fear downside, 2. September 2003) war, in dem ausführlich Boris Tabakoff zitiert wird.

Gegenüber dem Marketing-Argument, dass "RU-21" im Stoffwechsel den Abbau von Alkohol beschleunigt und giftige Nebenprodukte dieses Abbaus eliminiert, dadurch die "Kater-Symptome" reduziert und, so die Behauptung des Vertreibers Emil Chiaberi von Spirit Sciences, die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums langfristig minimiert, machte Boris Tabakoff geltend, dass er keine wissenschaftlichen Tests an Menschen kenne, die den unmittelbaren Effekt von "RU-21" demonstrieren, und dass er, selbst wenn sich die unmittelbare Wirkung zeigen liesse, bezweifeln würde, dass ein langfristiger Effekt nachweisbar sei.

Spirit Sciences verweist dagegen auf ein 25 Jahre lang betriebenes Forschungsprojekt der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Abbau von Alkohol, das sich auf klinische Versuche an der Akademie, beim russischen Gesundheitsministerium und früher beim Laboratorium der Sowjetischen Militärakademie der Wissenschaften stütze. Aus diesen Versuchen lasse sich eine quantifizierbare Wirkung von "RU-21" vor oder während des Alkoholkonsums ableiten, die belege, dass das Mittel das Risiko alkoholbedingter Krankheiten (wie die Schädigung der Erbsubstanz) reduziere sowie den alkoholbedingten Kater verhüte.

Da "RU-21" auf dem amerikanischen Markt nicht als Medikament, das von der Food and Drug Administration geprüft werden müsste, sondern "nur" als Nahrungszusatz vertrieben wird, brauchen die Bedenken von Prof. Dr. Boris Tabakoff unter ökonomischen und juristischen Gesichtspunkten derzeit nicht weiter berücksichtigt zu werden.

Abgesehen davon, dass nach Ansicht von Boris Tabakoff Konsumenten auch ohne "RU-21" den gewünschten Effekt durch eine geeignete Ernährung erzielen könnten - ein weiteres Argument des US-Wissenschaftlers verdient Beachtung: Selbst wenn die Kater-Symptomatik und einige langfristige Effekte des Alkoholkonsums reduziert werden könnten, bliebe exzessives Trinken ungesund. Die Verminderung der Kater-Symptomatik durch ein bestimmtes Mittel könnte sogar zum Trinken verleiten - dies ist einer der Gründe, weswegen Tabakoff das von ihm selbst entwickelte und patentierte Produkt nicht vermarkten wollte. Diesem Argument setzt wiederum Vertreiber Chiaberi entgegen: "Americans are going to drink with or without RU-21" - "RU-21" sei ein Service für gemässigte Trinker, kein Freibrief für hemmungslose Säufer.

Die Konsumenten können versuchen, ökonomisch zu entscheiden: 5 Dollar für 20 Pillen, wobei 2 Pillen für jeweils 2 Drinks empfohlen werden. "Lohnt" sich das?

Background in Russland

Da durch Alkoholkonsum bedingte Krankheiten in Russland seit vielen Jahren ein Problem darstellen, wird auch seit vielen Jahren an diesem Problem geforscht. Am 13. November 2002 berichtete Business Wire über die Forschungen in Russland, was dort aufmerksam registriert wurde.

Hinter Spirit Sciences (USA) stehen demnach Forscher des Instituts für theoretische und experimentelle Biophysik der Russischen Akademie der Wissenschaften (ITEB RAS) - gegründet 1990 im Rahmen einer Restrukturierungsmassnahme des 1952 gegründeten Biophysik-Institutes. ITEB RAS besteht aus 35 wissenschaftlichen Forschungsabteilungen sowie 24 Laboratorien und beschäftigt über 330 Forscher. Stellvertretender Forschungsdirektor von ITEB RAS ist der in der ehemaligen UdSSR sehr bekannte
russische Mediziner Prof. Dr. Jewgeni I. Majewski, der gemäss einer Entscheidung der russischen Regierung vom 17. März 1999 für die Entwicklung des Medikaments PERFTORAN ausgezeichnet wurde.

Als eines seiner Spezialgebiete bezeichnet Prof. Majewski u.a. die "Entwicklung biologisch aktiver Nahrungszusätze". Hierzu passt die Klassifizierung von "RU-21" in den USA. Sein Medikament PERFTORAN wurde in den USA am 13. Mai 2003 unter der Nummer 6.562.872 ("Emulsion of perfluoroorganic compounds for medical purposes, a process for the preparation thereof and methods for treating and preventing diseases with the use thereof") patentiert. Business Wire befragte Prof. Dr. Majewski zu "RU-21" und zitierte ihn mit der Aussage: "Angesichts der Gefahr des Alkohols für unsere Gesellschaft bin ich heute froh, sagen zu können, dass wir einen grossen Schritt vorwärts gemacht haben."

Was für bestimmte Anwendungsgebiete ein Segen sein mag, könnte sich bei Missbrauch in anderen Bereichen als sehr fragwürdig erweisen. Das Mittel "Aranesp" der Firma "Amgen" z.B. sollte - laut BBC - einen Durchbruch bewirken bei der Behandlung von durch Krebs oder Nierenversagen erzeugter Anämie, wird von Sportlern mittlerweile jedoch als 10fach stärkerer Ersatz für das Dopingmittel EPO verwendet. Als potentielles Blut-Doping-Mittel gilt laut einer
BBC-Meldung vom 30. Januar 2002 inzwischen auch das von Prof. Dr. Majewski entwickelte PERFTORAN, das in vielen Moskauer Apotheken ohne Rezept erhältlich sei.

Wofür kann wohl ein - nicht-trinkender - (Schach-) Sportler "RU-21" verwenden?

Gerald Schendel / 27.09.2003


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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