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RU-21: Die Pille für den klaren Kopf
RU-21" könnte die Bezeichnung für ein US-amerikanisches
Luft-Überwachungssystem sein, doch Schlagzeilen machte das Kürzel vor
wenigen Tagen als Bezeichnung für eine bis 1999 geheime "KGB-Pille" gegen Kater
und Magenprobleme.
Der Schweizer
"BLICK" registrierte einen "Rausch-Angriff aus Russland", die
"BILD"-Zeitung zitierte einen begeisterten Tester, den die
"Rocky Mountain News" gefunden hatten ("dank RU-21 fühlte ich mich, als
ob ich mindestens 18 Löcher Golf spielen könnte"), und auch das
"Focus"-Magazin
zeigte sich von der KGB-Pille beeindruckt. FIDE-Präsident Kirsan Iljumschinow wurde bereits in den 80er Jahren mit der
Existenz dieses Mittels konfrontiert.
Die Geburtstagsparty
An einem 5. April, in der zweiten Hälfte der 80er Jahre, feierte Kirsan
Iljumschinow Geburtstag. Er studierte damals am Moskauer Institut für Auswärtige
Beziehungen und traf sich mit seinen Kommilitonen. Man trank ein wenig (wie es
üblich war), und dann schlug jemand vor, Erinnerungsfotos zu machen. Die
Feiernden posierten vor der Kamera, verzogen das Gesicht zu einer Grimasse und
alberten herum. "Kirsan, rück näher an die Fressalien! Ja, gut!" Eine Batterie
von Wodka- und Brandwein-Flaschen wurde vor Kirsan Iljumschinow aufgebaut. "Und
jetzt nimm dir mit der Gabel etwas vom Essen! Ja, so bleiben. Cheese! Und noch
mal. Das war's."
Dieser harmlosen Feier folgte ein Verhör beim KGB. Plötzlich war alles
verdächtig. Iljumschinow war befreundet mit dem Sohn von Babrak Karmal
(pro-sowjetischer Machthaber in Afghanistan von Ende 1979 bis Mai 1986) und
spielte Schach mit ausländischen Diplomaten. Restaurant-Besuche und sogar die
Mitgliedschaft in der KPdSU-Gruppe des Instituts galten als Bestandteil eines
raffinierten Plans, den sich afghanische und iranische Nachrichtendienste für
Iljumschinow ausgedacht hatten. Gegen Kirsan Iljumschinow wurde wegen Spionage
vom KGB ermittelt.
In einem Verhör präsentierte ein KGB-Leutnant eine Reihe von Fotos, die während
Kirsan Iljumschinows Geburtstagsfeier aufgenommen worden waren. "Wie viele
Flaschen Wodka trinken Sie pro Tag? Nach welcher Menge sind Sie betrunken? Hier,
auf diesem Bild, steht eine beinahe leere Literflasche "Sibirskaja"-Wodka vor
Ihnen, und doch sagen Augenzeugen aus, dass Sie zu dieser Zeit überhaupt nicht
betrunken waren!" Der Leutnant öffnete einen Aktenordner und las eine Aussage
vor: »... Iljumschinow trank beinahe eine ganze Flasche Wodka und wurde nicht
betrunken. Zuvor hatte ich bemerkt, wie er sich abwendete und einige Pillen
schluckte. Danach trank er Brandwein und noch irgend etwas, aber er blieb
absolut nüchtern. Am folgenden Tag hatten wir Prüfungen. Im Gegensatz zu uns gab
Iljumschinow klare und gut durchdachte Antworten auf alle Fragen und erhielt
exzellente Noten.« Der Leutnant schaute Iljumschinow fragend an und wartete
auf dessen Reaktion. "Was für Pillen? Das ist absurd!" Der Leutnant konterte:
"Solche Pillen gibt es wirklich. Wir wissen das. Geheimdienstoffiziere benützen
sie, um einen klaren Kopf zu behalten."
Es dauerte über acht Monate, bis die Affäre ad acta gelegt wurde und Kirsan
Iljumschinow sein Studium fortsetzen konnte.
Bemerkenswert an der Schilderung von Iljumschinows Geburtstagsparty und ihren Folgen ist, dass sie einem autobiografischen Text des FIDE-Präsidenten entstammt (The President's Crown of Thorns), der vom Weltschachbund FIDE am 12. August 2003 auf der FIDE-Homepage mit dem Vermerk zum veröffentlicht wurde, er sei erstmals 1998 (im pdf-Format) veröffentlicht worden, während die russische Ausgabe anscheinend sogar schon 1995 in Moskau gedruckt vorlag.
Laut einer UPI-Meldung in der
Washington Times vom 23. September 2003 wurden die Geheimnisse der
"KGB-Pille" gegen Trunkenheit und Kater erst 1999 für die Öffentlichkeit
freigegeben.
RU-21 - Hintergrund einer Marketing-Kampagne
Vom 23.-25. September 2003 berichteten zahlreiche Medien über "RU-21". Der
Artikel bei
"BILD" behauptete, "RU" stehe für die Pharma-Firma "Roussel Uclaf", doch
hier liegt wohl eine Verwechslung vor mit
"RU-486", der
vom Vatikan bekämpften französischen Abtreibungspille. Plausibler ist ein
Erklärungsversuch, wonach "RU-21" für
"Are you
21?" ('Sind Sie 21?') steht, wobei man wissen muss, dass man in den
Vereinigten Staaten erst mit 21 Jahren Alkohol konsumieren darf.
Dieselbe US-Firma Spirit Sciences, die seit 2003 im Internet unter der
Adresse http://www.care-ru21.org/ mit
dem Slogan "Under 21 no Alcohol - Maintain your Health - RU-21 - Drink
responsibly" eine Kampagne zum verantwortungsvollen Umgang mit Alkohol gestartet
hat, bietet seit dem Jahr 2001 unter der Adresse
http://www.ru-21.com/ das Produkt "RU-21" zum Kauf an.
Geschäftsführer von Spirit Sciences ist Emil Chiaberi, Beverly Hills,
Kalifornien.
Die aus Russland in die USA importierten und dort seit Sommer 2001 im Handel
erhältlichen "RU-21"-Pillen wurden anscheinend
1978 von der Akademie der Wissenschaften zur Unterstützung sowjetischer
Agenten in Feind-Einsätzen entwickelt.
Gemäß den Unterlagen des
US-Patentamtes hat Spirit Sciences die Zulassung von "RU-21" nicht
etwa als patentiertes Medikament, sondern als "Trademark" mit der Bestimmung
"biologisch aktiver Nahrungszusatz zur Verhütung und/oder Eliminierung von
Alkohol-Vergiftung und Kater-Syndrom" im März 2001 beantragt (Registrierung:
März 2003).
Ein mit "RU-21" vergleichbares Produkt hat sich der 1942 in Tien-Tsin (China)
geborene
US-Pharmakologe Prof. Dr. Boris Tabakoff (University of Colorado School of
Medicine) unter der Nummer 4.528.295 ("Composition and Method for Reducing
Blood Acetaldehyde Levels") als Medikament in den USA patentieren lassen
(beantragt: 15. August 1983; registriert: 9. Juli 1985). 1988 wurde von ihm der
Aufsatz Russian Drinking: Use and Abuse of Alcohol in Pre-Revolutionary
Russia veröffentlicht. Boris Tabakoff hat beschlossen, sein Patent 4.528.295
nicht zu vermarkten!
Diejenige/n Person/en, die für
"BILD" zur "KGB-Pille" recherchiert hat/haben, hat/haben in dem zu
mindestens 18 Löchern Golf begeisterten ("gedopt" anmutenden) Tester der "Rocky
Mountain News" tatsächlich eine interessante Quelle gefunden, dabei aber - aus
welchen Gründen auch immer - unterschlagen, dass dieser zufällig ausgewählte
Testbericht von Jay Dedrick (37 Jahre) nur ein Anhang zu einem durchaus
kritischen Artikel von Debra Melani (Feeling
no pain. Supplement RU-21 eases hangovers, but critics fear downside, 2.
September 2003) war, in dem ausführlich Boris Tabakoff zitiert wird.
Gegenüber dem Marketing-Argument, dass "RU-21" im Stoffwechsel den Abbau von
Alkohol beschleunigt und giftige Nebenprodukte dieses Abbaus eliminiert, dadurch
die "Kater-Symptome" reduziert und, so die Behauptung des Vertreibers Emil
Chiaberi von Spirit Sciences, die schädlichen Folgen des Alkoholkonsums
langfristig minimiert, machte Boris Tabakoff geltend, dass er keine
wissenschaftlichen Tests an Menschen kenne, die den unmittelbaren Effekt von
"RU-21" demonstrieren, und dass er, selbst wenn sich die unmittelbare Wirkung
zeigen liesse, bezweifeln würde, dass ein langfristiger Effekt nachweisbar sei.
Spirit Sciences verweist dagegen auf ein 25 Jahre lang betriebenes
Forschungsprojekt der Russischen Akademie der Wissenschaften zum Abbau von
Alkohol, das sich auf klinische Versuche an der Akademie, beim russischen
Gesundheitsministerium und früher beim Laboratorium der Sowjetischen
Militärakademie der Wissenschaften stütze. Aus diesen Versuchen lasse sich eine
quantifizierbare Wirkung von "RU-21" vor oder während des Alkoholkonsums
ableiten, die belege, dass das Mittel das Risiko alkoholbedingter Krankheiten
(wie die Schädigung der Erbsubstanz) reduziere sowie den alkoholbedingten Kater
verhüte.
Da "RU-21" auf dem amerikanischen Markt nicht als Medikament, das von der
Food and Drug Administration geprüft werden müsste, sondern "nur" als
Nahrungszusatz vertrieben wird, brauchen die Bedenken von Prof. Dr. Boris
Tabakoff unter ökonomischen und juristischen Gesichtspunkten derzeit nicht
weiter berücksichtigt zu werden.
Abgesehen davon, dass nach Ansicht von Boris Tabakoff Konsumenten auch ohne
"RU-21" den gewünschten Effekt durch eine geeignete Ernährung erzielen könnten -
ein weiteres Argument des US-Wissenschaftlers verdient Beachtung: Selbst wenn
die Kater-Symptomatik und einige langfristige Effekte des Alkoholkonsums
reduziert werden könnten, bliebe exzessives Trinken ungesund. Die Verminderung
der Kater-Symptomatik durch ein bestimmtes Mittel könnte sogar zum Trinken
verleiten - dies ist einer der Gründe, weswegen Tabakoff das von ihm selbst
entwickelte und patentierte Produkt nicht vermarkten wollte. Diesem
Argument setzt wiederum Vertreiber Chiaberi entgegen: "Americans are going to
drink with or without RU-21" - "RU-21" sei ein Service für gemässigte Trinker,
kein Freibrief für hemmungslose Säufer.
Die Konsumenten können versuchen, ökonomisch zu entscheiden: 5 Dollar für 20
Pillen, wobei 2 Pillen für jeweils 2 Drinks empfohlen werden. "Lohnt" sich das?
Background in Russland
Da durch Alkoholkonsum bedingte Krankheiten in Russland seit vielen Jahren
ein Problem darstellen, wird auch seit vielen Jahren an diesem Problem
geforscht. Am 13. November 2002 berichtete Business Wire über die
Forschungen in Russland, was dort aufmerksam
registriert
wurde.
Hinter Spirit Sciences (USA) stehen demnach Forscher des Instituts für
theoretische und experimentelle Biophysik der Russischen Akademie der
Wissenschaften (ITEB RAS) - gegründet 1990 im Rahmen einer
Restrukturierungsmassnahme des 1952 gegründeten Biophysik-Institutes. ITEB RAS
besteht aus 35 wissenschaftlichen Forschungsabteilungen sowie 24 Laboratorien
und beschäftigt über 330 Forscher. Stellvertretender Forschungsdirektor von ITEB
RAS ist der in der ehemaligen UdSSR sehr bekannte
russische Mediziner Prof.
Dr. Jewgeni I. Majewski, der gemäss einer Entscheidung der russischen
Regierung vom 17. März 1999 für die Entwicklung des Medikaments
PERFTORAN ausgezeichnet wurde.
Als eines seiner Spezialgebiete bezeichnet Prof. Majewski u.a. die "Entwicklung
biologisch aktiver Nahrungszusätze". Hierzu passt die Klassifizierung von
"RU-21" in den USA. Sein Medikament PERFTORAN wurde in den USA am 13. Mai 2003
unter der Nummer 6.562.872 ("Emulsion of perfluoroorganic compounds for
medical purposes, a process for the preparation thereof and methods for treating
and preventing diseases with the use thereof") patentiert. Business Wire
befragte Prof. Dr. Majewski zu "RU-21" und zitierte ihn mit der Aussage:
"Angesichts der Gefahr des Alkohols für unsere Gesellschaft bin ich heute froh,
sagen zu können, dass wir einen grossen Schritt vorwärts gemacht haben."
Was für bestimmte Anwendungsgebiete ein Segen sein mag, könnte sich bei
Missbrauch in anderen Bereichen als sehr fragwürdig erweisen. Das Mittel "Aranesp"
der Firma "Amgen" z.B. sollte - laut BBC - einen Durchbruch bewirken bei der
Behandlung von durch Krebs oder Nierenversagen erzeugter Anämie, wird von
Sportlern mittlerweile jedoch als 10fach stärkerer Ersatz für das Dopingmittel
EPO verwendet. Als potentielles Blut-Doping-Mittel gilt laut einer
BBC-Meldung vom 30.
Januar 2002 inzwischen auch das von Prof. Dr. Majewski entwickelte PERFTORAN,
das in vielen Moskauer Apotheken ohne Rezept erhältlich sei.
Wofür kann wohl ein - nicht-trinkender - (Schach-) Sportler "RU-21" verwenden?
Gerald Schendel / 27.09.2003