Von Harald Wagner
Teil 6 von Ivan Sokolovs Mittelspiel Strategien: Ruy Lopez Strukturen
Im sechsten und bislang letzten Teil der DVD-Reihe Mittelspiel Strategien kommt der Weltklassespieler und -trainer GM Ivan Sokolov zu einer Königsdisziplin strategischer Mittelspielbehandlung und gewissermaßen auch zu einem abschließenden Höhepunkt seiner Serie: zu den Hauptvarianten des geschlossenen Spaniers.
Der Ausdruck Ruy Lopez Strukturen im Titel führt etwas in die Irre: Behandelt werden hauptsächlich die Klassiker unter den Klassikern, das traditionelle Chigorin-System in seiner historischen Entwicklung und die modernen Zaitsev- und Breyer Varianten.
Kurz vor Corona 2019 veröffentlichte Ivan Sokolov zusammen mit einem anderen ‘Ivan‘, GM Ivan Salgado Lopez eine Monographie über die Ruy Lopez Hauptvariante mit Titel ‚The Chigorin Bible’ und da es eine Bibel ist, deutet er uns an, wo für ihn im Spanier der Hammer hängt.
In seinem DVD-Intro verweist er dann auch auf seine über 30-jährige Erfahrung als Turnierspieler in diesen Stellungen, aber erst nach Beendigung seiner Karriere 2014 sei es ihm als Trainer richtig gelungen, tiefe systematische Zusammenhänge zu erkennen, einfach, weil er mehr Zeit hatte, sich auch mal länger mit einer bestimmten Stellung zu beschäftigen.
Als Turnierspieler hieß es immer nur: das nächste Turnier.
Sokolov behandelt auch ausgiebig strategische ‚Fehler‘ von Weltklassespielern und Weltmeistern. Typischen ‚Fehlern’ oder besser Fehleinschätzungen von Bobby Fischer widmet er gleich zwei Videos, aber natürlich hauptsächlich, um daraus zu lernen. Überhaupt ist das ein Thema für ihn, wie können Weltklassespieler, er selbst inklusive, mit krassen strategischen Entscheidungen überhaupt so danebenliegen.
Sokolov erklärt Zaitsev- und Breyer-System anhand eigener Verlustpartien
Die eigenen Partien kennt man ja am besten und so beginnt der Reigen der Do‘s and Dont’s im geschlossenen Spanier mit zwei eigenen Verlustpartien von ihm selbst.
Sokolov mit Schwarz am Zug gegen Shirov zog in dieser Schlüsselstellung Bauer c5:
Im Nachgang bezeichnet er seinen Zug als ‚grave mistake‘. Er beraubt sich - bewusst - des Gegenspiels am Damenflügels in der - fälschlichen - Annahme, eine Art Königsindisch spielen zu können. Aber es ist nicht Schwarz sondern Weiß, der gleich am Königsflügel angreifen wird und der weiße Plan mit Bauer g4, der sonst eher fragwürdig ist, wird bei einem völlig abgeriegelten Damenflügel tödlich.
Im zweiten Video zeigt Sokolov seine Partie gegen Peter Svidler, diesmal Breyer-Variante.
In folgender Stellung zog er selbst g6, was von ihm kritisiert wird und Svidler antwortete b3, was sehr gelobt wird:
Bauer g6 wird kritisiert, weil Schwarz es versäumt mit c4 Gegenspiel am Damenflügel einzuleiten und b3 von Svidler wird gelobt, weil er jetzt b4 mit c4 und c4 mit b4 erwidern kann und der Damenflügel bleibt geschlossen. Später zog Svidler ebenfalls g4 und bekam starken Angriff.
Entstehen die Bauerketten Weiß c4,d5,e4 Schwarz c5,d6,e5 muss Schwarz noch zusätzlich aufpassen, dass er nicht ein ‚lausy old-indian“ angehängt bekommt.
Schwarzes Gegenspiel bei geschlossenem Zentrum: am besten Bauer nach c4 und mit Springer auf c5 das Feld d3 anvisieren
Wie ein effektives schwarzes Gegenspiel auf allerhöchstem Niveau realisiert wird, zeigt Sokolov an einem WM-Thema Dauerturnier zwischen den beiden großen K‘s:
Jahrelanges Thematurnier aus der Zaitsev-Variante zwischen Kasparov und Karpov gleich in zwei WM-Kämpfen, die wollten es wirklich wissen.
Schwarz hat zwei verschiedene grundsätzliche Pläne, einmal den Bauernhebel f5, um im Gegenzug den Bauern d5 zu erobern und einmal das mit Bauer c4 eingeleitete Figurenspiel am Damenflügel.
In der f5-Variante sind die Zugfolgen sehr, sehr konkret und es ist wohl kein abschließendes Urteil möglich. Damit der Leser bzw. Zuschauer die f5-Variante mit Weiß aber auch ohne einen LKW Theoriebücher spielen kann, referiert dann Sokolov einmal selbst Theorie, indem er Shirovs neuere Idee Bauer g4 als Reaktion auf Bauer f5 vorstellt, wonach das Spiel weiter in strategischen Bahnen verläuft.
Mehr am Herzen als f5 liegt Sokolov das eher methodisch motivierte Gegenspiel am Damenflügel mit Bauer c4. Im Hauptabspiel muss Schwarz seinen b-Bauern opfern, kann aber seine Figuren aktivieren:
Karpov hatte gerade Turm b8 gezogen und aus Spanisch so eine Art Wolgagambit gemacht. Der Druck auf der b-Linie und das potenzielle Eindringen des Springers auf d3 in Verbindung mit dem Läufer a6, dessen Wirkungskreis durch das Verschwinden des b-Bauern erst so richtig erhöht wurde, geben Karpov klar die Initiative.
Kasparov fühlte sich genötigt, seinen Mehrbauern mit e5 jetzt schon zurückzugeben.
In der Folge erspielte Karpov eine Gewinnstellung, war aber in komplizierter Stellung den taktischen Fähigkeiten Kasparovs doch unterlegen und verlor am Ende sogar noch.
Und als Exkurs: So ganz nebenbei und das ist wahrscheinlich Sokolovs stärkste didaktische Leistung auf dieser DVD, zeigt er, wie man eine hochtaktische Stellung aufdröseln und erklären kann, ohne sich dabei in taktischen Varianten zu verlieren.
Das Chigorin-System ist die historische Hauptvariante des Ruy Lopez
Dazu präsentiert Sokolov auch eine historische Partie, nämlich Bogoljubov gegen Rubinstein, gespielt 1925 in Baden-Baden. Bogo schloss früh das Zentrum ab, verriegelte auch noch den Damenflügel und ging dann wie damals üblich mit g4 vor.
Rubinstein hatte gerade Sf7 gezogen und wandte zum ersten Mal einen Plan an, der Eingang in die Lehrbücher fand und manchmal auch mit seinem Namen verknüpft ist:
Springer auf f7 und g7, Bauern auf f6 und g6, auch rubinsteinsche Auffangstellung genannt.
Trotzdem ist das bei blockiertem Damenflügel unvorteilhaft für Schwarz.
Bogoljubow brachte einige Züge später auch noch korrekt das typische Springeropfer auf f5.
Nach beiderseits etwas ungenauem Spiel endete die Partie jedoch remis.
Ist der Damenflügel beweglich, kann g4 mit h5 ausgekontert werden
Dass positionelle Fehleinschätzungen wie ein verfrühtes g4 selbst den ganz Großen, wie einem Bobby Fischer, passieren können, zeigt Sokolov in einem eigenen Video.
Im Kandidatenturnier 1962 griff Fischer gegen Keres frühzeitig mit g4 an:
Und Keres stellte mit h5! sofort Probleme. Fischer versuchte den Bauern g4 mit Springer nach h2 zu halten, doch das öffnete Keres den Weg für Läufer g5 und Schwarz ist positionell schon leicht im Vorteil.
Und noch ein kleiner Exkurs, weil er einen wichtigen praktischen Tipp Sokolovs beinhaltet:
Die Keres-Variante ist noch heute relativ populär. In der Hauptvariante schlägt Schwarz mit dem e-Bauern auf d4, provoziert Weiß danach zu d5 und hat eine Stellung vom Typ modernes Benoni. Diese Abspiele sind sehr taktisch und von umfassender konkreter Eröffnungstheorie geprägt, teilweise über den 30ten Zug hinaus.
Sokolov gibt hier den Ratschlag für Weiß, wie Fischer schon direkt d5 zu spielen, aber natürlich nicht g4. Weiß vermeidet somit konkrete Theorievarianten und setzt wiederum auf ein strategisches, methodisch motiviertes Vorgehen, was bei Sokolov eine eine generelle Tendenz ist.
Wenn er sonst keine oder kaum konkrete Theorieempfehlungen gibt, ist es insofern bedeutsam, weil die Keres-Variante auch von Weltklassespielern wie Caruana und Karjakin regelmäßig gespielt wird.
Der Hauptplan für Weiß bei geschlossenem Zentrum mit d5 ist der Hebel f2-f4
Dazu bringt Sokolov dann auch die meisten und differenziertesten Erklärungen.
Der offensichtlichste Vorteil von f4 für Weiß ist, das er die halboffene f-Linie für seinen Königsangriff nutzen kann, nebenbei wird auch das Feld d4 für einen weißen Springer frei, wenn kein schwarzer Bauer auf c5 steht.
Der offensichtlichste Nachteil von f4 ist, dass der weiße Bauer e4 rückständig wird und das Feld e5 als Sprungbrett für schwarze Figuren frei wird.
Sokolov unterscheidet hier zwei Fälle. Wenn das Feld e5 für schwarze Figuren gar nicht so einfach erreichbar ist, ist es einfach: Weiß steht besser.
Was ist aber, wenn Schwarz e5 direkt besetzen kann, vorzugsweise mit einem Springer. Folgen wir Sokolov, müssen viele Spieler hier umdenken, dazu ein Beispiel aus einer Partie Zherebukh - Caruana:
Wenn man mir diese Stellung gezeigt und dann auch noch gesagt hätte, Caruana hat gerade Springer e5 gezogen, hätte ich geantwortet, klar, Caruana gewinnt.
Aber falsch sagt Sokolov: obwohl Schwarz auf e5 blockieren kann, ist das weiße Angriffspotential gegen den schwarzen König höher zu bewerten. Die strategischen Defizite der weißen Stellung kommen erst beim Damentausch und/oder im Endspiel zum Tragen.
Matt ist eben ein ganz besonderer Saft.
Schwarz verteidigt sich mit ‚sizilianischem Spanisch‘
Weniger eine konkrete Variante als mehr ein Übergang in eine sizilianische Bauernstruktur, ist der zweifache Abtausch auf d4, den Schwarz in sehr, sehr vielen Stellungen herbeiführen kann. Daher ist die Kenntnis dieses Planes auch essentiell für geschlossenes Spanisch. Sokolov gibt führt als eines von mehreren Beispielen eine Partie Spassky - Keres an:
Keres tauschte in der Folge zweimal auf d4 und es entsteht eine typische sizilianische Stellung, leicht schwacher Bauer auf d6, aber Druck gegen e4, in unzähligen Partien schon gehabt und gesehen.
Sokolov sagt, aber kein Ausgleich für Schwarz ‚space matters‘.
Spasskij zog hier Springer d4 nach f5, was sehr gut ist und er gewann in großem Stil.
Hier verweist Sokolov jedoch auf einen noch besseren Zug, den er mit Stockfisch gefunden hat. Mit Sd5! hat Weiß quasi schon Gewinnstellung, weil der Sa5 wirklich nie mehr ins Soiel kommt:
Gleich Sc6 geht nicht, wegen Abtausch auf c6 und Zerstörung auf f6 und wenn Schwarz auf d5 abtauscht und versucht den Springer über b7 nach b5 zu spielen, zieht Weiß einfach b4!! und der Laden bleibt für den schwarzen Springer geschlossen, auf d8 wird er auch nicht glücklich, weil dann auf d5 stehende weiße Bauer die Felder c6 und e6 nimmt. Man kann sich also getrost das weiße Gerippe eines schwarzen Springers in irgendeiner Wüste vorstellen.
Was auf der DVD noch behandelt wird
Um das klarzustellen, was hier an Videos nicht besprochen wird, ist kein ‚unter ferner liefen’.
Allein schon durch Anzahl und Laufzeit der Videos würde eine umfassendere Einzelbetrachtung den Umfang einer Rezension bei weitem sprengen.
Es kann aber gesagt werden, dass auch die weniger gängigen Bauernstrukturen des geschlossenen Spaniers und auch einiges aus dem offenen Spanier zur Sprache kommen.
Und weitere Partien von Fischer, Kasparov und Carlsen unter den Tisch fallen zu lassen, war auch nicht leicht.
Wer profitiert von dieser DVD?
So komplex, wie der geschlossene Spanier manchmal hinter vorgehaltener Hand gehandelt wird, ist er wirklich nicht. Nach der DVD von Sokolov kann man alles wirklich gut, fast mühelos, verstehen.
Und wenn ich noch meine persönliche Meinung wiedergebe, was ich auch schon bei der Betrachtung von Sokolovs Sizilianisch-DVD angedeutet habe:
Gerade Anfänger ziehen aus einer solchen DVD den meisten Profit.
Sie können daraus am meisten lernen, auch wenn sie noch nicht alles verstehen.
Dem Anfänger stehen viele Wege offen, der Experte hat nur wenig Wahlmöglichkeiten.
Aber das ist wirklich meine persönliche Meinung. Ich bin mir nicht sicher, ob das auch den Erkenntnissen der modernen Trainingslehre entspricht.
Und noch ein Letztes: In der Praxis spielt Schwarz zumeist kurze Rochade vor Bauer d6, um einen möglichen Marshall-Angriff vorzutäuschen. Wählt Weiß dann auch brav eines der vielen Anti-Marshall Abspiele, ist der Inhalt dieser DVD wirklich ‚reine Kunst’, die sich hauptsächlich in der Vertiefung des eigenen Stellungsverständnisses manifestiert.
Interessant ist vielleicht noch, was Sokolovs Schüler Abdusattorov zu den Themen Rossolimo, Maroczy und Ruy Lopez beigetragen hat. Der ist da nämlich durchaus mit einigen neuen und eigenen Abspielen im Maroczy und auch im Spanier unterwegs.
Im Chigorin mit einem Abspiel sogar, von dem Sokolov in seiner ‚Chigorin Bibel‘ wiederum schreibt, warum er es dort nicht aufgenommen hat und auf unserer DVD ist es auch nicht. Da ist also noch ein weiter Raum für Feldforschung.
Und noch ein Tipp: Man kann ja immer von Carlsen Partien lernen, warum sich also nicht mal seine Verlustpartien im Chigorin anschauen? Das ist aber jetzt schon eine sehr konkrete Anleitung für den Aufbau eines Schwarzrepertoires, da müsste man eigentlich Geld dafür verlangen.
Gibt es auch Kritik an der DVD?
Nicht wirklich, aber für die 16 Videos der DVD mit über sieben Stunden Laufzeit benötigt man, um es Neudeutsch zu sagen, einiges an Resilienz oder wie man früher gesagt hätte, an Sitzfleisch, die ‚spanische Folter‘ halt. Trotzdem gründen wir die Sonderkommission Soko-Lov(e) und warten und hoffen auf eine zweite Staffel.
Usbekistans Goldmedaillen-Boygroup mit ihrem Trainer Ivan Sokolov (Foto: FIDE)
Die Bände sind alle auch einzeln und auch in verschiedenen Bundles erhältlich.