Jahrestagung der Chess History and Literature Society in Budapest

von ChessBase
24.09.2024 – Die Mitglieder der Chess History and Literature Society nutzte die Schacholympiade in Budapest für ihre Jahrestagung. Auf Einladung des Ungarischen Schachverbandes trafen sich rund 20 Mitglieder und Gäste in den historischen Räumlichkeiten des Gastgebers, erörterten in Vorträgen spannende Fragen der Schachgeschichte und gedachten auch der großen ungarischen Schachspieler. Herbert Bastian und Frank Hoffmeister berichten. | Fotos: Herbert Bastian, Henry Serruys (Titelfoto)

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Von Herbert Bastian & Frank Hoffmeister

Jahrestagung der Chess History and Literature Society in Budapest (13.-14. September 2024)

Am Freitag, den 13. September 2024, hielt die CH&LS parallel zur 45. Schacholympiade ihre Jahrestagung in Budapest ab. Auf Einladung des Ungarischen Schachverbands trafen sich rund 20 Mitglieder und Gäste in den historischen Räumlichkeiten des Gastgebers. Mitglieder, die nicht persönlich in die ungarische Hauptstadt reisten, konnten die Beratungen online verfolgen.

Der Ungarische Schachverband wurde 1921 gegründet und war 1924 auch Gründungsmitglied des Weltschachbundes (FIDE). Die prächtigen Tagungsräume zollen der langen Tradition auf verschiedene Weise Tribut. Neben einer beeindruckenden Anzahl von Trophäen, die bei internationalen Turnieren errungen wurden, ist der Verband auch mit 30 hölzernen Turniertischen ausgestattet, an denen schon der frühere sozialistische Ministerpräsident János Kádár zu spielen pflegte, wenn er in der Falk Utca 10, nicht weit vom herrlichen Parlamentsgebäude entfernt, vorbeikam. Der Generalsekretär, IM Ivan Sipos, eröffnete die Konferenz mit einer Begrüßungsrede. Die CH&LS würdigte das 100-jährige Jubiläum der FIDE und konzentrierte sich in den Vorträgen auf die Rolle der FIDE für das internationale Schach.

Jean-Olivier Leconte und Frank Hoffmeister bereiten die Technik vor

Im ersten Vortrag berichtete Dominique Thimognier, der die sehr empfehlenswerte Website heritageechecsfra.free.fr betreibt, mit vielen neuen Erkenntnissen über die Gründung der FIDE im Jahr 1924. Er enthüllte, dass einerseits berühmte Spieler (wie Lasker) und Funktionäre (wie der Generalsekretär Leonhard Rees des britischen Schachverbands) die Idee, einen Weltschachbund zu gründen, bereits vor dem Ersten Weltkrieg unterstützt hatten. Andererseits war der Gründungsakt am Rande der Pariser Olympiade 1924 auch das Ergebnis einer spontanen Aktion derjenigen, die am Ende der Mannschaftsmeisterschaften anwesend waren. Einige Delegierte scheinen ohne ein klares Mandat ihres Verbandes gehandelt zu haben, und einige Verbände (wie der spanische) waren noch nicht einmal gegründet worden. Die auf der Konferenz erörterte Frage, ob der finnische Teilnehmer bei der Gründungsversammlung anwesend war oder erst später hinzukam, scheint noch immer ungeklärt zu sein. Es sei auch darauf hingewiesen, dass die lange schwelende Kontroverse zwischen einer Spielervereinigung oder einer Föderation der Nationen zugunsten der zweiten Option entschieden wurde, die insbesondere von England favorisiert war.

In der folgenden Präsentation berichtete der Schwede Matthias Johansson sehr interessante Details über die Vorkriegsolympiaden mit besonderem Augenmerk auf Stockholm 1937. Er zeigte, dass der Amateurcharakter des Turniers abgeschafft wurde, als das Vereinigte Königreich akzeptierte, Berufsspieler als Teilnehmer zuzulassen. Im Allgemeinen dominierte Ungarn den Wettbewerb mit Siegen von 1926 bis 1928, während die Vereinigten Staaten von 1931 bis 1935 drei aufeinander folgende Titel errangen. 1936 organisierte Nazi-Deutschland einen Mannschaftswettbewerb in München, der nicht als FIDE-Olympiade anerkannt wurde. Die FIDE hatte ihren Mitgliedern jedoch die freiwillige Teilnahme erlaubt, da der Deutsche Verband den Arierparagraphen (der jüdische Spieler in Deutschland ausschloss) für das Turnier außer Kraft gesetzt  hatte.

Im Jahr 2022 wurde in Ungarn ein Fotobuch von Ferenc Chalupetzky entdeckt, der zur ungarischen Delegation bei der Schacholympiade 1936 in München gehörte. Der ungarische Schachhistoriker László Jakobetz hat dieses wertvolle Zeugnis in ein schönes Buch verwandelt, das anlässlich der Olympiade 2024 veröffentlicht wurde. Es zeigt auf 100 Seiten u.a. die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Ungarn und dem Großdeutschen Schachbund. Ungarn gewann das Turnier trotz der enormen Anstrengungen der Nationalsozialisten, die gerne die Goldmedaille gewonnen hätten und deshalb das Turnier an acht Brettern spielen ließen. Zwei Jahre später wurde der Großdeutsche Schachbund in die FIDE aufgenommen.

Titelseite des Fotobuchs mit handgestickten olympischen Ringen

Nach der Kaffeepause präsentierte der Generalsekretär der Gesellschaft, der Däne Claes Lofgren, einen Brief von Aaron Nimzowitsch an den Herausgeber einer dänischen Schachzeitschrift. In einer früheren Ausgabe hatte Nimzowitsch einen strittigen Zug aus einer Partie zwischen zwei dänischen Kollegen kritisiert. Als der Präsident des Schachklubs, dessen Spieler unter Beschuss geraten waren, gegen die Äußerungen protestierte, ging er so weit, dem Herausgeber der Zeitschrift vorzuschlagen, eine gewisse Kontrolle auszuüben. Dies wiederum veranlasste den Großmeister, in typischer Nimzo-Manier vor jeglicher Art von Zensur in Schachzeitschriften zu warnen.

Das Programm des ersten Tages endete mit den Berichten des Vorstands über die Aktivitäten, Projekte und Finanzen der FIDE. Die Gesellschaft will ihr To-Biblion-Projekt mit mehr Mitteln unterstützen und es auf Anfrage für Schachforscher öffnen. Außerdem beabsichtigt sie, den Austausch zwischen den Mitgliedern durch das Angebot einer freiwilligen WhatsApp-Gruppe zu verbessern.

Präsident Frank Hoffmeister hatte für diesen Abend eine Überraschung vorbereitet. Man traf sich zu einem gemeinsamen Abendessen im mittelalterlich anmutenden Restaurant Sir Lancelot. Das stilvolle Essen mit Tanzdarbietungen, Feuerschlucker und Schwertkampf gab der Gruppe zeitweise das Gefühl, in die Vergangenheit zurückversetzt worden zu sein, was ein großer Spaß war.

Vor dem Eingang zu Sir Lancelot

Die Tafelrunde der  CH&LS

Ein Feuerschlucker besucht die CH & LS

Der vollgepackte Samstag begann mit einer Stadtführung, die von László Jakobetz begleitet wurde. Der Autor einer kürzlich erschienenen Biografie (in englischer Sprache) zeigte das Geburtshaus von Géza Maróczy, dem großen ungarischen Meister, der vor dem Ersten Weltkrieg kurz davor war, Lasker herauszufordern. Besonders beeindruckt war die Gruppe von einem Besuch der benachbarten Gräber der ungarischen Schachhelden Resző Charousek, Géza Maróczy, Gyula Breyer und Gédéon Barcza. Außerdem zeigte Jakobetz den Turniersaal der ungarischen Gewerkschaft, in dem so berühmte Turniere wie das Kandidatenturnier 1950 ausgetragen wurden.

Das Grab von Géza Maróczy

Es folgte ein sehr interessanter Vortrag von Prof. Frank HOFFMEISTER über die drei Beitritte des deutschen Schachs zur FIDE: 1926 als Deutscher Schachbund, wegen des Ersten Weltkriegs verzögert nach der Gründung der FIDE, ein zweites Mal 1938 als Großdeutscher Schachbund, dessen automatische Nachfolge an Stelle des nach Klärung juristischer Fragen aufgelösten DSB wegen des Arierparagraphen in der FIDE angefochten wurde, und ein drittes Mal 1950 mit zwei Verbänden (einer in Westdeutschland nach zögerlicher Entnazifizierung und einer in Ostdeutschland nach sowjetischer Übernahme).

Der zweite Teil der Präsentation war die Aufnahme der Sowjetunion, die erst 1947 erfolgte. Hoffmeister zeigte, dass die treibende Motivation darin bestand, den regimetreuen Botwinnik als Weltmeister zu etablieren. Dies mag auch erklären, dass die „Winterthurer 6“ (d.h. Botwinnik, Smyslov, Keres, Reschewsky, Fine und Euwe, die vom FIDE-Kongress nominiert worden waren) im September 1946 vereinbarten, nicht in Prag zu spielen, wo Najdorf gewann. Trotz der früheren Vereinbarung, dass der Sieger der Prager Vereinbarung das Recht haben würde, am nächsten Weltmeisterschaftskampf teilzunehmen, beschloss der FIDE-Kongress in Den Haag im Sommer 1947 etwas anderes. Diese Entscheidung ebnete auch den Weg für den Beitritt der Sowjetunion auf demselben Kongress und die Zusage, die Weltmeisterschaft 1948 in Den Haag und Moskau auszutragen. Da Botwinnik das Turnier gewann, war der Plan sehr erfolgreich und stellte den Beginn der sowjetischen Vorherrschaft im Weltschachverband dar. Stefan Löffler ergänzte das Thema aus österreichischer Sicht, indem er betonte, dass die österreichische Föderation bis 1955 sowohl die amerikanische als auch die sowjetische Präsenz im Lande unterbringen musste.

Weitere Höhepunkte waren die Augenzeugenberichte von Willy Icklicki und Adrian Michaltschischin aus der Campomanes-Ära, insbesondere die berüchtigte Absage des Weltmeisterschaftskampfes zwischen Karpow und Kasparow im Jahr 1984.

FM Jürgen Brustkern schloss das Programm mit einer Präsentation seines gut recherchierten Buches über die Schachturniere in Hastings, das mit Anekdoten und interessanten Partien gespickt ist. In seinem Buch berichtet er von zahlreichen persönlichen Erlebnissen.

Und dann ging es weiter zu einem Besuch der Schacholympiade, wo die Gruppe erwartungsgemäß viele bekannte Gesichter traf. Es ist sehr beeindruckend, wenn man von der Galerie einer riesigen Halle auf über 1500 Schachsportler hinunterblickt, und man kann sich vorstellen, welch enormer organisatorischer Aufwand nötig ist, um alles reibungslos ablaufen zu lassen. Die ungarischen Organisatoren hatten alles gut im Griff.

Willy Icklicki ist für eine fantastische Ausstellung zeitgenössischer Dokumente wie offizielle Plakate und Medaillen der Schacholympiaden verantwortlich. Es gab auch eine große Auswahl an Spielsätzen zu sehen, die den Wandel der Spielsteine im Laufe der Jahrhunderte widerspiegeln. Willy hat mit unermüdlichem Einsatz die Exponate aus aller Welt zusammengetragen.

Ein Poster aus vergangenen Zeiten.

Sammlung der offiziellen FIDE-Münzen.

Ein indisches Chaturanga mit typischen Markierungen auf dem Brett.

Die nächste Station war das private Budapester Schachmuseum, das von Andras Schenker und seiner Mutter als Erbe ihres verstorbenen Mannes geführt wird. Während der äußerst freundlichen Führung wurden Gebäck und Getränke serviert. Das Museum stellt die lebenslange Sammlung über ungarisches Schach zusammen, mit Zeitschriften, Brettern und anderen Erinnerungsstücken. Ein Höhepunkt waren die „Eröffnungskarten“ von Judit Polgár, lange vor dem Computerzeitalter, und die komplette Sammlung von Maróczy-Publikationen. Schenker bot außerdem allen Mitgliedern der Gesellschaft an, bei besonderem Interesse vom Katalog Gebrauch zu machen (eine Reihe von Büchern ist doppelt vorhanden und kann auch verkauft werden).

Schach, ein Sport für alle!

Als ob das noch nicht genug wäre, ging der Rest der Gruppe am Abend ins Café Fem, wo Stefan Löffler und ein indischer Komiker ein munteres Schachkabarett mit Ad-hoc-Stunts boten.

Willy Icklicki wird im Kabarett interviewt.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass sich das Jahrestreffen als ein großartiges Ereignis erwiesen hat. Es vertiefte nicht nur das gemeinsame Wissen über die FIDE-Schachgeschichte und die Interaktion mit renommierten Schachhistorikern aus mehreren europäischen Nationen, sondern bot auch einzigartige Einblicke in die wunderbare Schachtradition Ungarns. Es ist offensichtlich, dass das Schachspiel einen wichtigen Platz in der ungarischen Gesellschaft einnimmt, was in den historischen Räumen des Schachverbands deutlich wurde, wo man die hohe Wertschätzung der Schachmeister und die herausragenden Erfolge ungarischer Spieler in Einzel- und Mannschaftswettbewerben bewundern konnte.

Webseite der Chess History and Literature Society...


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