Jahrestreffen der CH&LS in Valencia

von Herbert Bastian
17.09.2025 – Die Chess History & Literature Society (CH&LS), früher Ken Whyld Association, pflegte die Kultur und Geschichte des Schachspiels. Kürzlich trafen sich die Mitglieder zu Vorträgen und Gedankenaustausch in Valencia, das als Geburtsort des modernen Schachs gilt. Herbert Bastian berichtet. | Teaserbild: Valencia Cuna del aAjedrez

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Ein denkwürdiges Treffen an einem historischen Ort - Jahrestreffen der CH&LS in Valencia

Es war ein besonderer Anlass, der die organisierten europäischen Schachhistoriker zum diesjährigen Treffen der Chess History & Literature Society (CH&LS) nach Valencia, in die drittgrößte spanische Stadt in der gleichnamigen Provinz an der Mündung des Turia ins Mittelmeer lockte, und sie kamen zahlreich. Hatte die Stadt im letzten Jahr wegen der Unwetter mit vielen Opfern noch große Sorgen, so zeigte sich das Wetter diesmal mit Temperaturen um 30 Grad und reichlich Sonnenschein von seiner besten Seite.

Eröffnung durch Prof. Dr. Frank Hoffmeister, eine Vertreterin der Stadt Valencia, Dr. Thomas Thomsen und José A. Garzón. ©hb

Aus Valencia stammt das Gedicht Scachs d’amor, das 1905 wiederentdeckte, älteste Zeugnis des reformierten Schachs, bei dem Dame und Läufer langschrittig wurden. Es konnte vor einigen Jahren mit Hilfe einer im Text erwähnten Planetenkonjunktion auf das wahrscheinliche Entstehungsjahr 1475 datiert werden, und das liegt nun runde 550 Jahre zurück. Scachs d’amor – Wikipedia Die Stadt Valencia ist sich ihrer Tradition bewusst und macht sie im Sport- und Kulturkomplex Petxina mit einer beeindruckenden Ausstellung sichtbar, die im Laufe der Tagung besichtigt werden konnte. Ein kleines Video vermittelt einen Eindruck davon.

Visita a la exposición "550 aniversario del nacimiento del ajedrez moderno"

Zudem wurde der 15. Mai auf Beschluss des Parlaments von Valencia zum Tag des Schachs erhoben, denn auf diesen Tag datiert im Jahr 1495 das Erscheinen des ersten Buches mit Aufgaben zu den neuen Regeln. Sein Autor war der aus Segorbe, etwa 56 km nördlich von Valencia stammende Francesch Vicent (* ca. 1450; = nach 1512). Francesc Vicent – Wikipedia Als Ehrengast hatte die Stadt im Mai den Exweltmeister Viswanathan Anand eingeladen. Valencia: 550ster Jahrestag der Geburt des modernen Schachs | ChessBase Leider ist das Originalwerk von Vicent verschollen, aber die darin vermuteten Aufgaben konnten 1992 von Jurij Awerbach (* 1922; = 2022) durch eine kluge Analyse rekonstruiert werden, was nach ihm Peter J. Monté und Garzón im Wesentlichen bestätigten. Die Geschichte um Vicent haben Garzón und Dani Salvador in einem witzigen Comic dargestellt, der an den Wänden des Ausstellungsraums vergrößert zu sehen ist, und den alle Teilnehmer als Erinnerungsgeschenk erhielten.

José A. Garzón ist der unermüdliche lokale Motor des Ganzen. Seine im Video sichtbare Tochter unterstützte als Dolmetscherin, aber sie verriet mir, dass sie selbst die Schachleidenschaft ihres Vaters nicht teilt. José hat vor nun schon über 20 Jahren nachgewiesen, dass die Schachmanuskripte in Perugia (ca. 1502) und Cesena (ca. 1502–1512) auf Vicent zurückgehen, dessen Werk von 1495 zwei Jahre später den schachlichen Kern des ca. 600 km weiter westlich 1497 in Salamanca gedruckten und noch in ca. 20 Exemplaren erhaltenen Buches von Lucena bildet, was der Ausgangspunkt von Awerbachs Rekonstruktion war. Übrigens ist bekannt, dass die beiden Werke von deutschen Druckern hergestellt wurden, die miteinander in Verbindung standen.

Chessays - LUCENA - Ein Rätsel nach 500 Jahren - von M.C. Romeo Vicent ging dann nach Italien, wo er die erwähnten Manuskripte hinterließ und als Schachlehrer von Lucrezia Borgia (* 1480; = 1519), der unehelichen Tochter von Roderic Llançol i de Borja (* 1431; = 1503), dem späteren Papst Alexander VI., Spuren hinterließ.

Wer sich mehr für die Anfänge des neuen Schachs in Spanien interessiert, dem sei das epochale Werk NEBEA der Autoren Garzón, Josep Alió und Miquel Artigas wärmstens empfohlen.

Zum Programm der Tagung gehörten ein langer Überblick von Garzón zu seinen Erkenntnissen über Vicent und dessen Werk sowie aufmerksam verfolgte schachhistorische Beiträge mit Bezug zu der spanischen Tradition. Die Präsentationen sollen je nach Vorliegen noch von Jean-Olivier Leconte auf den Webseiten der CH&LS News - kwabc.org (en) und Le Café de la Régence veröffentlicht werden. Im Einzelnen kamen zur Sprache:

  • Spain as the cradle of modern chess: Scachs d’amor (1475) and the first works on modern chess by Vicent/Lucena/Damiano (José A. Garzón)
  • Ruy Lopez and his reception in Europe (Herbert Bastian)
  • NEBEA, Spanish Chess Bibliography: Genesis, contributions and curiosities (José A. Garzón)
  • St. Sebastian 1911 – l’entrée triomphale de Capablanca en Europe (Georges Bertola)
  • 1943 – Alekhine escapes to Spain (Denis Teyssou)
  • Madrid 1973 – Karpov on the way to the throne (Jesus Seoane)
  • Sevilla 1987 – Kasparov v. Karpov Round 3 (Frank Hoffmeister)

Mein Vortrag befasste sich mit der Einordnung des Werkes Libro de la invencion liberal y arte del juego del axedrez (1561) des berühmten Namensgebers der Spanischen Partie, Ruy Lopéz aus Zafra. Anzumerken ist, dass die Eröffnung schon in der Göttinger Handschrift enthalten ist, die aus Paris stammt und derzeit in den Bereich 1500–1510 datiert wird. Eine aktuelle Version der Lebensgeschichte von López, deren neue Erkenntnisse auf den üblichen Seiten der Wikipedia noch nicht ihren vollständigen Niederschlag gefunden haben, wurde 2022 publiziert und stammt wahrscheinlich von dem kürzlich verstorbenen spanischen Schachhistoriker Joaquín Pérez de Arriaga (* 1932; = 2025). Ruy López de Segura - Historia Hispánica Demnach reiste López 1572 nach Peru zu seinem Bruder Alonso, wonach sich seine Spur verliert. Das bedeutet, dass sein Zusammentreffen am spanischen Königshof mit den italienischen Meistern, wie es von Salvio (1634) auf 1575 datiert und beschrieben wurde, so nicht stattgefunden haben kann. Und damit erweist sich auch das Gemälde von Luigi Mussini aus dem Jahr 1871 als Fiktion.

Luigi Mussini La partita di scacchi (nach 1871). News & Eventi

Georges Bertola, Chefredakteur der französischen Schachzeitschrift Europe Échecs, berichtete über seine neu erschienene, reich bebilderte Biografie über Capablanca, die zu den Highlights der zuletzt zahlreichen, hochwertigen schachhistorischen Publikationen gehört. Mehr Information dazu findet man auf der Webseite der CH&LS unter Capablanca, the prodigious ascent (1888-1920) - by Georges Bertola - kwabc.org (en).

Denis Teyssou berichtete über den letzten Stand seiner Nachforschungen zum Schicksal Aljechins, über die er schon im Buch über das 100-jährige Jubiläum der Fédération Française des Échecs (FFE) (2021) publiziert hatte. In diesem Zusammenhang sei auch auf die wichtige Arbeit von Dr. Christian Rohrer hingewiesen, die im Internet frei zugänglich ist. Schachweltmeister und Günstling von Hans Frank? : über die Nähe Alexander Aljechins zum NS-Regime

Dr. Jésus Seoane, aus Madrid stammender Professor für nichtlineare Dynamik, Chaos-Theorie und komplexe Systeme, begeisterte mit seinem Vortrag über das Großmeisterturnier in Madrid 1973, das für den Beginn von Karpows Aufstieg nach Fischers Eroberung der Weltmeisterschaft steht. Es lohnt sich, die spannenden Partien des Turniers nachzuspielen, aus denen Seoane kritische Positionen zeigte. Seoane outete sich als Fan von Wolfgang Uhlmann, der sich in Madrid einer berühmten Partie gegen den Weiß spielenden Karpow geschlagen geben musste. Meine nicht ganz ernst gemeinte Frage, ob Schach ein nichtlineares System sein, parierte der Fachmann lachend damit, dass es wohl eher ein chaotisches System sei.

Prof. Dr. Jesus Seoane begeisterte mit Szenen aus dem GM-Turnier Madrid 1973, wo Karpows Aufstieg begann. ©JOL

Abgerundet wurde die schachhistorische Rundreise durch einen Bericht von Frank Hoffmeister über das dritte WM-Match zwischen Karpow und Kasparow, das 1987 in Sevilla stattfand und 12:12 endete, so dass Kasparow seinen Titel behielt. Hoffmeister erläuterte, wie es zu dem Austragungsort gekommen war, und es kamen die Umstände des Matches zur Sprache, in dem Karpow viermal im Grünfeld-Inder mit dem zweischneidigen Läufereinschlag auf f7 ein Bauernopfer annahm, mit dem Resultat 2:2.

Jahresbericht Wie jedes Jahr wird bei der Tagung ein Bericht über die Aktivitäten der CH&LS abgegeben, der den Kassenstand und die geförderten Projekte enthält. Der auf das Wesentliche fixierte Bericht war wohltuend kurz und spiegelte die souveräne Tätigkeit des Präsidiums wider.

Das Presidential Board gibt seinen Jahresbericht ab. V. l. n. r. Frank Hoffmeister, Jean-Olivier Leconte, Henri Serruys, Claes Løfgren.

Das Jahrestreffen beinhaltete eine Kooperation mit der Berliner Emanuel-Lasker-Gesellschaft (ELG), deren überaus rühriger Vorsitzender FM Thomas Weischede an der kompletten Tagung teilnahm. Die ELG nimmt regelmäßig Ehrungen verdienstvoller Persönlichkeiten aus der Schachszene vor, womit sie deutlich machen will, dass das Schachspiel ein Kulturgut ist und dessen Pflege mehr bedeutet als das Gewinnen erster Preise in Turnieren. Gerade in der gegenwärtig schwierigen internationalen Lage kann und muss es zur friedlichen Verständigung zwischen den Völkern beitragen. Diesmal wurde der in Valencia lebende GM Viktor Moskalenko für seine herausragende schachdidaktischen Tätigkeit mit dem Lasker-Preis ausgezeichnet.

Lasker-Preis an Viktor Moskalenko

In ihrer von Herzen kommenden Laudatio hob die dafür aus Berlin angereiste Rebekka Schuster besonders die Eröffnungsbücher von Moskalenko hervor. Rebecca ist eine Tochter des bekannten Schachhistorikers Konrad Reiß, sie spielt in der 2. Frauenbundesliga Ost für die SG 1871 Löberitz. Der sympathische  Moskalenko war sichtlich gerührt und nahm sich mit seiner Tochter nach der Preisverleihung die Zeit für ein gemeinsames Abendessen mit Teilnehmern der Tagung.

Ehrengäste Ein weiterer Ehrengast war der langjährige Vorsitzende von Chess Collectors International (CCI) und Gründer der Initiativgruppe Königstein Dr. Thomas Thomsen (91), dem man sein hohes Alter noch nicht anmerkt. Dr. Thomsen ist in Spanien aufgewachsen und mehrsprachig, so dass er an verschiedenen Stellen als Dolmetscher gefragt war. Und er ist immer noch unverzichtbar als Organisator der beliebten Jahrestreffen der Schachsammler. Das nächste ist auf den 31. Oktober bis 2. November in Nürnberg datiert und wird sicher wieder viele Höhepunkte bieten.

Die FIDE war vertreten durch Willi Icklicky, den international bestens vernetzten Chairman des Historical Committee. Willi hat in Jubiläumsjahr 2024 (100 Jahre FIDE) bedeutende Mengen an Utensilien und Filmmaterial aus der Geschichte der FIDE zusammengetragen, die bei verschiedenen Gelegenheiten präsentiert werden sollen und teilweise schon veröffentlicht sind. Beeindruckt haben mich im kleinen Kreis vorgeführte Filmaufnahmen, die Bobby Fischer bei verschiedenen Gelegenheiten zeigen und hoffentlich noch der Allgemeinheit zur Verfügung gestellt werden.

Pflege der Gemeinschaft Ein gemeinsames Abendessen, wo alte Freundschaften gepflegt und neue geknüpft werden, gehört zur guten Tradition der Treffen. Diesmal hatte ich Gelegenheit, den Mathematiker Dr. James Ward aus Irland, im Bild vorne links, näher kennen zu lernen und zu meiner Überraschung zu erfahren, dass er zwei Jahre in Freiburg (Breisgau) studiert hat. So könnte man zu jeden Teilnehmer Geschichten erzählen, denn alle haben besondere Beiträge zur Schachkultur geliefert. Wer sich mehr dafür interessiert, ist als Mitglied der CH&LS zu einem moderaten Jahresbeitrag herzlich willkommen!

Angeregte Gespräche beim gemeinsamen Abendessen

Schachfreundliche Päpste Wenn man an einem so geschichtsträchtigen Ort wie Valencia tagt, darf eine Stadtbesichtigung nicht fehlen. Diese führte uns an historische Orte, von denen ich den Palast der Borgias hervorheben möchte, die zwei Päpste stellten. Alexander VI. (1492–1503), der zweite davon, ist für die Schachgeschichte besonders wichtig, weil Vicents Wechsel von Valencia nach Italien in seine Amtszeit fällt und vermutlich damit im Zusammenhang steht. Mir scheint diese Erklärung überzeugender als die gängige Behauptung, dass Vicent vor der spanischen Inquisition floh und bei Lucrezia Borgia, der unehelichen Tochter des Papstes, Schutz fand.

Ein weiterer Papst war der Verbreitung des modernen Schachs wohl gesonnen. Der portugiesische Autor Mário Silva Araújo hat in seinem Artikel Damiano, O Português E A Sua Obra (2009) wegen der zeitlichen Übereinstimmung die interessante Vermutung geäußert, dass der 1513 unter Papst Leo  X. (1513–1521, kein Borgia) erfolgte Kurswechsel der katholischen Kirche, nach dem die Beschäftigung mit der Schachkunst gestattet wurde, in direktem Zusammenhang mit dem ein Jahr zuvor gedruckten Schachbuch von Damiano steht. Leo X. soll selbst gerne Schach gespielt haben. "Es war nicht Damiano" - Interview mit Mario Silva Araújo | SchachBasis Man kann darüber spekulieren, ob auch Leonardo da Vinci zur Veredelung des Schachspiels beigetragen hat. Das berühmte Universalgenie war seit 1512 im Vatikan beschäftigt und hatte wenige Jahre davor das 2006 wiederentdeckte Schachmanuskript von Luca Pacioli, das kurz nach 1500 angefertigt wurde und bereits Aufgaben nach den neuen Regeln enthielt, mit Diagrammen illustriert.

Der Palast der Borgias in Valencia ©hb

Zwei wahre Schachfans besichtigen Valencia: Dr. Jurgen Stigter (Amsterdam) und Toni Preziuso (Schweiz) ©hb

Zukunftspläne Es hat dem diesjährigen Treffen sehr gut getan, dass Vertreter der drei wichtigsten schachkulturellen Organisationen vor Ort vertreten waren, die ausrichtende CH&LS, CCI (Michael Wiltshire, Thomas Thomsen) und die ELG (Thomas Weischede, Rebecca Schuster). Schach ist nicht nur eine moderne Sportart, sondern vor allem ein kulturelles Gut, das seine Spuren in den europäischen Sprachen hinterlassen hat und das politische Denken immer noch prägt. Deshalb ist eine Kooperation der kulturell orientierten Organisationen für mich der richtige Weg. Noch in Valencia wurden Planungen für das nächste Treffen begonnen, das nach Marostica (2022), Belfort (2023), Budapest (2024) und Valencia (2025) nun in den Norden führen soll, wahrscheinlich nach Kopenhagen. Valencia, wo alles begann, wird in meiner persönlichen Erinnerung immer ein magischer Ort bleiben.

Zum Abschluss noch die Teilnehmer (alphabetisch): Bastian, Herbert (hb); Bertola, Georges; Garzón, José; Hoffmeister, Frank; Icklicki, Willy; Johansson, Mattias; Leconte, Jean Olivier (JOL); Løfgren, Claes; Moskalenko, Victor; Plecas, Darko; Plecas, Draga; Sanz Menendez, Juan Carlos; Schuster, Rebekka; Seoane, Jesús; Serruys, Henri; Teyssou, Denis; Thimognier, Dominique; van Habberney, Guy; Ward, James; Weischede, Thomas; Wiltshire, Michael; Zutter, François.

Fotos, wenn nicht anders angegeben: Herbert Bastian (hb)


Bastian war 24 Jahre lang Präsident des Saarländischen Schachverbandes und von 2011 bis 2017 Präsident des Deutschen Schachbundes. Inzwischen ist er Ehrenpräsident des Deutschen Schachbundes. Von 2014 bis 2018 war Herbert Bastian zudem Vizepräsident des Weltschachbundes. Seine jüngsten Aktivitäten richten sich auf die Schachgeschichte, insbesondere in Frankreich.