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Die immer gründlichere Erforschung der Varianten macht es gerade in den am häufigsten gespielten Eröffnungen zunehmend schwerer, bereits zu Beginn der Partie einen greifbaren Vorteil zu erzielen. Viele Schachspieler wenden sich daher seltener gespielten Systemen zu, mit denen einerseits nicht alle potentiellen Gegner gut vertraut sind und die zum andern dennoch genügend Potential bieten, um auf Gewinn zu spielen. So verriet mir Fernschach-Großmeister Arno Nickel im März 2018, dass er das Londoner System zuletzt in mehreren Fernpartien mit Erfolg angewandt habe. Das lässt aufhorchen, denn gerade im Fernschach sind ja alle Mittel einschließlich Computerunterstützung erlaubt. Was ist das für eine Eröffnung, die auch im Nahschach zunehmend erfolgreich eingesetzt wird, und welcher Großmeister hat sich als Erster näher mit ihr beschäftigt?
Früher nannte man die Eröffnung 1.d4 d5 2.Lf4 einfach "Damenläuferspiel". Sie entsteht oft durch verschiedene Zugumstellungen, z. B. nach 1.d4 Sf6 2.Lf4 oder 1.d4 d5 2.Sf3 Sf6 3.Lf4 usw. Wie stiefmütterlich diese Variante des Damenbauernspiels noch vor wenigen Jahrzehnten behandelt wurde, zeigt in Blick in die 26. Auflage des "Lehrbuch des Schachspiels" von Jean Dufresne und Jacques Mieses in der Neubearbeitung von IM Rudolf Teschner aus dem Jahre 1975. Dort wird tatsächlich nur eine einzige Variante angeführt, und selbst diese endet bereits nach nur 5 (!) Zügen:
Glücklicherweise stehen uns heutzutage brauchbarere Eröffnungswerke zur Verfügung, nicht zuletzt auch die ChessBase Fritztrainer-DVDs, mit sehr gründlichen Betrachtungen des Londoner System.
Die Eröffnung heißt heute "Londoner System", weil sie im Turnier von London 1922 mehrfach angewandt wurde. Sie wurde jedoch schon viel früher gespielt. Um mir einen Überblick zu verschaffen, ließ ich mir in der MEGA Database von ChessBase alle bis Ende des 19. Jahrhunderts mit dieser Eröffnung gespielten Partien anzeigen. Tatsächlich tauchte darin ein Name öfter auf als alle anderen: James Mason, der Autor der bekannten Schachwerke "The Principles of Chess" und "The Art of Chess". Von 1880 bis 1894 wandte er das Londoner System mit Weiß insgesamt (mindestens) 21 mal in großen Turnieren an. Seine Bilanz: 10:5 bei 6 Remisen.
James Mason wurde am 19. November 1849 in der irischen Stadt Kilkenny geboren und von Adoptiveltern großgezogen. 1861 wanderten diese mit ihm in die USA aus.
James Mason
Dort gewann er mit 26 Jahren den 4. US-amerikanischen Schachkongress, der vom 17. bis 31. August 1876 in Philadelphia ausgetragen wurde. Mason gewann 8 Partien und verlor nur eine einzige bei fünf Remisen. Damit belegte er in dem doppelrundigen Turnier mit insgesamt neun Teilnehmern Platz 1 mit 10 1/2 aus 14 vor Max Judd (9) sowie den punktgleichen Henry Edward Bird und Harry Davidson (je 8 1/2). Im selben Jahr gewann Mason noch ein Turnier in New York und einen Wettkampf gegen Henry Edward Bird (nach welchem bekanntlich die Bird-Eröffnung 1.f2-f4 benannt ist). Diese schachlichen Erfolge brachten den jungen US-Amerikaner irischer Herkunft, der im bürgerlichen Leben zu jener Zeit noch als Journalist für den "New York Herald" arbeitete, in den Kreis der besten Schachmeister jener Zeit.
Der Mathematiker Jeff Sonas hat sich die Mühe gemacht, anhand der vorliegenden Turnier- und Wettkampfergebnisse die ELO-Weltranglisten nachträglich zu berechnen (vgl. www.chessmetrics.com). Überraschenderweise steht James Mason von August 1877 bis Juni 1878 auf Rang 1! Hier ist ein Auszug der ELO-Liste vom August 1877:
Masons Vorsprung auf den Zweitplazierten beträgt 35 ELO-Punkte. Als einziger von den Spitzenspielern jener Zeit liegt er über der 2700er Linie.
Fairerweise muss man jedoch hinzufügen, dass Jeff Sonas Spieler, welche längere Zeit inaktiv blieben, also nicht an Turnieren oder Wettkämpfen teilnahmen, aus seinen Listen herausstrich und sie erst wieder aufführte, nachdem sie erneut aktiv geworden waren. So war in der ELO-Liste vom Juli 1877 noch Wilhelm Steinitz mit 2752 ELO-Punkten als Nr. 1 vertreten. Einen Monat später sucht man seinen Namen jedoch vergebens. Aber auch wenn wir dies berücksichtigen, so lässt sich doch unzweifelhaft feststellen, dass James Mason im Schach fast ein Jahr lang zumindest die Nr. 2 der Welt hinter Wilhelm Steinitz war. (Paul Morphy, der zu jener Zeit noch lebte, lasse ich hier einmal beiseite, denn er hatte sich vom Schach längst zurückgezogen.) Im August 1878 setzte sich Johannes Hermann Zukertort mit einer ELO-Zahl von 2743 an die Spitze der Weltrangliste, während gleichzeitig James Mason auf Rang 8 zurückfiel. Steinitz kommt erst in der Liste vom Juni 1882 wieder vor, und zwar gemeinsam mit Mackenzie auf Rang 3 - 4 und einer ELO-Zahl von 2692 hinter Zukertort (2742) und Blackburne (2706). James Masons beste ELO-Zahl datiert vom Oktober 1876 und liegt mit 2715 in einem vergleichbaren Bereich.
Zu der Zeit, als James Mason seine höchste historische ELO-Zahl erreichte, war er 26 Jahre alt. Damit gehört er zur bedeutenden Gruppe jener Schachspieler, die etwa mit Mitte 20 ihre größte Spielstärke erreichen. Denken wir in diesem Zusammenhang nur an den Vladimir Kramnik aus dem Jahre 2000! Noch früher dran war Michail Tal. Der erreichte seine höchste historische ELO-Zahl (2799) bereits mit 23 Jahren, zwei Monate vor seinem 24. Geburtstag.
1878 übersiedelte James Mason nach England und nahm in der Folge an mehreren hochkarätigen internationalen Schachturnieren teil. Seine besten Resultate:
Berlin 1881 (2. DSB-Kongreß): Fünfter mit 9 1/2 aus 16 hinter Blackburne (14), Zukertort (11), Winawer und Tschigorin (je 10 1/2). In diesem Turnier ist Mason der einzige Spieler, welcher Blackburne eine Niederlage beibringen kann. Er siegt u. a. auch gegen Tschigorin und Louis Paulsen.
Wien 1882: Dritter mit 23 aus 34 hinter den punktgleichen Winawer und Steinitz (je 24), aber noch vor Zukertort und Mackenzie (je 22 1/2). Blackburne wurde Sechster (21 ½). 18 Teilnehmer spielten doppelrundig vom 10. Mai bis 24. Juni, also 6 ½ Wochen lang.
Nürnberg 1883 (3. DSB-Kongreß): Dritter unter 19 Teilnehmern mit 12 aus 18 hinter Simon Winawer (14) und Joseph Henry Blackburne (13 1/2). Erneut schlägt er Blackburne und Louis Paulsen.
Hamburg 1885 (4. DSB-Kongreß): Hier belegt James Mason unter 18 Teilnehmern hinter Isidor Gunsberg (12 aus 17) mit 11 1/2 Punkten den geteilten 2. - 6. Platz zusammen mit Blackburne, Englisch, Tarrasch und Weiss. Mason gewinnt gegen den Turniersieger Gunsberg und schlägt in der Gruppe der Zweitplazierten Blackburne, unterliegt aber gegen den erst 23-jährigen Siegbert Tarrasch.
Masons Hang zum Alkohol soll in den darauffolgenden Jahren seine schachlichen Ergebnisse beeinträchtigt haben. Dementsprechend schlechter schnitt er bei den Deutschen Schachkongressen ab, an welchen er noch immerhin vier weitere Male teilnahm:
Beim 6. DSB-Kongress in Breslau 1889 wurde Mason immerhin noch geteilter Achter (mit Blackburne). Er erzielte mit 9 aus 17 mehr als 50 % der möglichen Punkte.
Beim 7. DSB-Kongress in Dresden 1892 wurde er ebenfalls noch geteilter Achter (mit Hermann von Gottschall) und erreichte wiederum einen Plusscore (9 aus 16).
Beim 9. DSB-Kongress in Leipzig 1894 wurde Mason 15. und damit Viertletzter, und bei seiner letzten Teilnahme, dem 13. DSB-Kongress in Hannover 1902, belegte er nur noch den vorletzten Platz.
Sehen wir uns einige von James Mason mit dem "Londoner System" eröffnete Partien näher an. Insgesamt sechs Gewinnpartien habe ich ausgewählt und zwei davon kommentiert. In drei dieser Partien sehen wir die typische Bauernstruktur d4, flankiert von e3 und c3. In den anderen Partien spielt James Mason teils sehr unkonventionell, z. B. frühzeitiges Sb1-c3, d4xc5 oder gar Lf4xSb8. Wer würde glauben, dass er mit diesem Tausch seines "entwickelten" Läufers f4 gegen den schwarzen Springer b8 den WM-Herausforderer Michail Tschigorin besiegen könnte, und das in nur 13 Zügen!
James Mason starb am 15. 1. 1905 in Rochford (England). Er wurde 55 Jahre alt. Außer seinen Partien hinterließ er der Schachwelt einige bemerkenswerte Bücher. Die bekanntesten sind "The Principles of Chess" und "The Art of Chess". Die in ihnen angewandte didaktische Methode nimmt vieles bereits vorweg, was erst später von Autoren wie Lasker („Lehrbuch des Schachspiels“), Tarrasch („Das Schachspiel“), Nimzowitsch („Mein System“) und Snosko-Borowsky („Das Mittelspiel im Schach“) weiter vertieft und ausgearbeitet wurde. Sie stellten gegenüber den damaligen Lehrbüchern einen erheblichen Fortschritt dar, denn die meisten von ihnen bestanden bekanntlich im wesentlichen aus einem Sammelsurium von unzähligen Eröffnungsvarianten, knapp kommentierten Partien und den wichtigsten Endspielen.
Zu James Mason gibt es auf Englisch von Edward Winter zwei interessante Beiträge:
http://www.chesshistory.com/winter/winter137.html
http://www.chesshistory.com/winter/extra/alcohol.html
Wer sich näher mit dem Londoner System beschäftigen möchte, kommt um die dieser Eröffnung gewidmeten DVD's nicht herum.
Das Londoner System - Staunen! Spielen! Siegen!
Das Londoner System (1.d4 gefolgt von 2.Lf4) ist bei Vereinsspielern schon immer beliebt gewesen. Aber als Magnus Carlsen vor drei Jahren bei der Blitz-WM erstmals zu 2.Lf4 griff, avancierte das Londoner System zu einer der Trenderöffnungen unserer Z