Jens Wietschorke: "100 Seiten Schach" - großer Wurf im kleinen Format

von André Schulz
10.12.2025 – Schach ist ein Spiel, das Millionen Menschen begeistert. Die Schachgemeinde bildet eine große internationale Gemeinschaft, eng vernetzt und in intensivem Austausch. Zudem gibt es die 1500 Jahre alte Kultur- und Schachgeschichte. Kann man diese Welt auf nur 100 Seiten erschöpfend und kompetent vorstellen? Jens Wietschorke kann es!

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FRITZ 20: Ihr persönlicher Schachtrainer. Ihr härtester Gegner. Ihr stärkster Verbündeter. FRITZ 20 ist mehr als nur eine Schach-Engine – es ist eine Trainingsrevolution für ambitionierte Spieler und Profis. Egal, ob Sie Ihre ersten Schritte in die Welt des ernsthaften Schachtrainings machen oder bereits auf Turnierniveau spielen: Mit FRITZ 20 trainieren Sie effizienter, intelligenter und individueller als je zuvor.

Der ehrwürdige, aber immer agile Reclam Verlag hat eine populäre Reihe etabliert, in der im Taschenbuchformat auf genau 100 Seiten ein Gebiet, ein Thema kompakt vorgestellt wird. Die Reihe vermittelt „unterhaltsames Wissen für Neugierige und Fans auf 100 Seiten zu Geschichte, Gesellschaft und Politik, Leben, Gesundheit und Natur sowie Kunst und Kultur“. So fasst es der Verlag selbst zusammen. Die Themen der Reihe sind bunt gemischt. Schwerere wissenschaftliche Themen wechseln sich mit leichteren Abhandlungen ab, oft auch mit aktuellen Themen der Popkultur. Die Büchlein bieten durchweg einen schnellen und kompetenten Einstieg in das jeweilige Gebiet.

Jetzt wurde auch „Schach“ in die Reihe aufgenommen und die Schachwelt in einem neuen Band auf 100 Seiten vorgestellt – durchaus eine Ehre. In der alphabetischen Liste steht das Büchlein über Schach jetzt zwischen den Titeln „Royals“ und „Schlaf“. Das passt – Schach gilt ja bekanntlich als das Spiel der Könige, und bisweilen sind Spieler ja auch schon beim Nachdenken „eingeschlafen“.

Als Autor für die 100 Seiten Schach hat der Reclam Verlag Jens Wietschorke gefunden, Dozent am Institut für Empirische Kulturwissenschaft und Europäische Ethnologie an der Universität München. In der Reihe „100 Seiten“ hat Jens Wietschorke bereits den Band „1920er Jahre. 100 Seiten“ veröffentlicht. Außerdem hat er die umfangreicheren Bücher „Chronist der wilden Jahre. Mit Siegfried Kracauer durch die Weimarer Republik“ und „Wien – Berlin. Wo die Moderne erfunden wurde“ verfasst. Das Buch über die Erfindung der Moderne wurde 2024 als „Wissenschaftsbuch des Jahres“ ausgezeichnet.

Der Autor entschuldigt sich in der Einleitung zu seiner Darstellung der Schachwelt ein wenig, dass er kein Meisterschachspieler, sondern Kulturwissenschaftler ist. Aber ganz unbeleckt ist Jens Wietschorke nicht. Als Klubspieler mit einer Wertungszahl von ca. 1800 versteht er etwas vom Spiel, aber vor allem versteht er es, die umfangreiche Popkultur des Schachs präzise zu erfassen und spannend und unterhaltsam darzustellen.

In den ersten beiden Kapiteln sprintet Wietschorke durch die Geschichte des Schachs, die ganz alte und die jüngere im 20. Jahrhundert, nennt Ross und Reiter und erzählt, wie das Schach in unterschiedlichen politischen Bedingungen existierte und sich dabei wandelte. Dann kommt er zum Spitzenschach der Gegenwart, das auf besondere Weise durch Magnus Carlsen geprägt ist. Wietschorke kennt alle Details seines Aufstiegs, seines Rückzugs und seines Zwists mit Hans Niemann. Der Autor nennt die Namen der neuen Stars, erwähnt die neuen Weltmeister nach Carlsens Rückzug, Ding und Gukesh, und berichtet vom Aufstieg Indiens zur neuen führenden Schachnation. Aber auch die Leistungen der jungen deutschen Großmeister, mit Vincent Keymer als einem der weltbesten Spieler jetzt, bleiben nicht unerwähnt. Das Buch ist in jeder Hinsicht hochaktuell.

In weiteren Kapiteln werden die Zusammenhänge zwischen Ratings, Titeln und Turnieren erläutert. Und dann gleitet der Autor aus der Höhe langsam auf das Schachbrett herab: Wie funktioniert eine Schachpartie? Was ist die Rolle eines Schachamateurs im Vergleich mit den Superspielern? Wie entsteht Spielstärke? Wie kann man sich verbessern? Woher kommt die Begeisterung?

Jens Wietschorke erklärt auch die aktuelle Renaissance des Schachspiels, die eng mit dem Computer und der Digitalisierung verbunden ist. Die Rolle von ChessBase als Erfinder der Schachdatenbank wird gewürdigt und die Geschichte des Zweikampfs Mensch gegen Maschine erzählt, die spätestens mit dem Sieg von Deep Fritz über Weltmeister Kramnik, 2006 in Bonn, entschieden wurde. Die Schachprogramme wurden zu Trainingspartnern und das Internet ermöglicht es heute, dass jeder gegen jeden auf der Welt Schach spielen kann.

DIE SCHACH-HORIZONT-ERWEITERUNG
In ChessBase gibt es immer wieder Ansätze, die typischen Pläne einer Eröffnungsvariante zu zeigen. Zwar ist Schach im Zeitalter der Engines viel konkreter als früher gedacht. Doch gerade Amateure lieben Eröffnungen mit klaren Plänen, siehe Londoner System. In ChessBase ’26 beschäftigen sich gleich drei Funktionen mit der Darstellung von Plänen. Im neuen Eröffnungsreport wird für jede wichtige Variante untersucht, welche Figurenzüge oder Bauernvorstöße darin wichtig sind. In der Referenzsuche sieht man jetzt auf dem Brett, wo die Figuren üblicherweise hingehen. Und startet man die neue Monte-Carlo-Analyse, zeigt auch hier das Brett die häufigsten Figurenpfade.

Der Autor stellt die populärsten Streamer vor, die Millionen von Fans haben, und würdigt auch die „Edelfedern“ des Schachjournalismus in Deutschland, die das Geschehen auf und neben dem Brett spannend vermitteln.

Auf 100 Seiten wird die ganze Schachwelt skizziert, und selbst wenn man in der Materie gut drin ist, erfährt man noch interessante Dinge oder Zusammenhänge. Jens Wietschorke kennt sich jedenfalls sehr gut aus, und man merkt, dass er in der Schachszene zu Hause ist. Ein großer Wurf im kleinen Format.

In vergangenen Zeiten gab es von Reclam übrigens nette Schachpartiensammlungen, die „Meisterpartien“, von Rudolf Teschner zusammengestellt, heute nur noch antiquarisch zu bekommen und sehr begehrt. Es ist schön, dass sich Reclam mit dem Büchlein „100 Seiten Schach“ an seine alte Schachtradition erinnert.

   

Jens Wietschorke: 100 Seiten Schach
ISBN: 978-3-15-020789-5
Originalausgabe, Taschenbuch
Erschienen: 19.11.2025

12 Euro

100 Seiten Schach bei Reclam...


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.
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