Verpasste „Immergrüne“ ohne Kontra und Re
Ehemaliger deutscher Skat-Meister Jörg Eisele verpasst mehrfach Matt in spektakulärer Partie
Im typischsten aller deutschen Kartenspiele gilt Jörg Eisele als Ass. 2023 bestätigte der Verbandsligaspieler der Schachfreunde Hörden seinen Ruf und wurde deutscher Meister im Skat! Dass der Südbadener nicht nur mit den 32 Karten umgehen kann, sondern auch mit den 32 Steinen auf den 64 Feldern bewies Eisele unlängst im mittelbadischen Derby gegen den im Vorjahr noch in der Bundesliga spielenden SC Ötigheim. Beim 5:3-Sieg von Hörden in der achten Verbandsliga-Runde gelang dem stets originell spielenden Akteur mit einer Deutschen Wertungszahl (DWZ) von 1970 fast à la Adolf Anderssen eine „Immergrüne“. Im Geiste der romantischen Schach-Zeiten Mitte des 19. Jahrhunderts fehlte allerdings als Krönung das abschließende Matt in beiderseitiger Zeitnot. Ein Kontra und Re blieb nicht nur wegen des ungewissen Ausgangs während des Duells mit Florian Steiner (DWZ 1926) aus. Das aufregende Remis bleibt aber dennoch ein Genuss für Nachspielende.
Skatkarten zu Hause? Jörg Eisele muss kurz überlegen. „Ich weiß gar nicht, ob ich welche daheim habe!“, gesteht der Michelbacher. Deutscher Skatmeister wurde der Schachspieler der SF Hörden dennoch Mitte 2023 in Magdeburg!
Jörg Eisele hielt sieben Trümpfe in der Hand: „Ich habe dennoch ,weg’ gesagt, weil ich Angst hatte, es noch zu verkacken!“, gesteht der Mittelbadener seine Gedanken auf der Zielgerade. Auch die ausgesprochenen Glückwünsche an seinem Vierertisch im Magdeburger Hotel Maritim, in dem zeitgleich die Schach-Seniorenmeisterschaften von Sachsen-Anhalt ausgespielt worden waren, „wehrte ich alle ab!“ Während für alle 251 Rivalen klar war: Hier spielt der neue deutsche Skatmeister, zitterte sich der heute 54-Jährige ins Ziel – und konnte es selbst mehrere Tage danach noch nicht fassen: „Ich brauche noch zwei, drei Wochen, um den Titel zu realisieren. Es gibt wesentlich bessere Skatspieler als mich. Ich sehe mich eher als Mittelklassespieler und hatte Kartenglück“, ordnet Eisele bescheiden ein.
Gute Karten ab der ersten Runde
An die Sensation glaubte der Spitzenspieler vom Skat-Club Gut Blatt Gaggenau 1971 fast bis zuletzt nicht, obwohl er bereits ab Runde eins „gut reinkam ins Spiel“. Es war wie ein Traum, als Eisele in der dritten und vierten Serie à 48 Spiele in Führung ging und am ersten Tisch den Besten manchen Grand ankündigen konnte. „Da saßen Bundesliga-Meister und Mannschafts-Weltmeister“, zeigt der Michelbacher aus einem kleinen Dorf, das zur Stadt Gaggenau gehört, immer noch Ehrfurcht. Allerdings: „Bis auf eine Aufnahme, die in der fünften Runde, lief es eigentlich gut“, lässt der Murgtäler das Turnier Revue passieren. „Da verlor ich kurz vor Schluss zwei Spiele, ein einfaches Karo-Spiel und einen einfachen Grand, die ich eigentlich gewinnen muss.“ Ihm sei die Konzentration nach zehn Stunden verloren gegangen, erklärte der 52-Jährige sein Nachlassen. So rutschte der Außenseiter am Ende des Samstags auf Platz sechs ab. Sukzessive rückte Eisele jedoch am nächsten Morgen mit frischem Kopf wieder auf: bereits auf Platz drei nach 288 der 384 Spiele. „Danach hoffte ich darauf, dass ich es aufs Treppchen schaffe“, tauchten plötzlich erste Ambitionen bei ihm auf. Dass eine Medaille drin ist, zeigte sich in der siebten Runde, in der das Mitglied von Gut Blatt Gaggenau auf Position zwei vorrückte. „Das wollte ich halten.“
Großer Vorsprung in der Endabrechnung
Dass noch mehr geht, kristallisierte sich in der 15. der 16 Spielstunden bald heraus. „Ich hatte vor den letzten 48 Spielen 140 Punkte Rückstand“, hat das badische Skat-Ass exakt in Erinnerung. Der führende Dieter Blanke „verlor jedoch schnell ein Spiel und bekam lange kein anderes Spiel mehr. Der war schnell raus“, witterte Eisele in Magdeburg, plötzlich seine einmalige Chance. „Erst kurz vor Schluss war klar, dass ich vorne bleibe.“ Nach 16 Stunden lag der krasse Außenseiter deutlich in Front: Dank 98 gewonnener und nur acht verlorener Spiele sowie 43 Duelle, die er den Gegnern abnahm, sammelte der neue deutsche Skatmeister 10.230 Punkte. Fast 400 Zähler zurück folgte Andreas Steinle von den Bremer Skatmusikanten (9.853). Dritter wurde Blanke (SC Silberstedt) mit 9.694 Zählern.

Jörg Eisele (von rechts) ist sich nicht zu schade, um bei einem Hobbyturnier gegen die Kuppenheimer Schachspieler Ralf Ehret und Kai Götzmann Skat zu spielen.
Nach Titelgewinn war „meine Rübe ziemlich leer“
Wegen all der Aufregung orderte Eisele „erst einmal ein Bier beim baden-württembergischen Verbandspräsidenten Tobias Scheibel“. Das sei aber ein Fehler gewesen, denn „das stieg mir voll in die Birne“, konnte der 52-Jährige nun noch weniger klar realisieren, was er geschafft hat und was „alles auf mich einprasselte“. Auch mehrere Tage danach fühlte sich der neue Champion immer noch „hundemüde. Meine Rübe ist ziemlich leer“, betonte der Sieger nach 16 Stunden, die höchste Konzentration erforderten, um möglichst keine Fehler zu machen.
Durch Schach Konzentrationsfähigkeit gesteigert
Die Konzentrationsfähigkeit hat Eisele durch seine zweite Passion deutlich gesteigert: Schach. „Ich erinnere mich an 1986. Damals gab es noch Hängepartien. Ich spielte beim Badischen Kongress zehn Stunden gegen den Kuppenheimer Kai Götzmann. Das war ähnlich anstrengend wie jetzt“, vergleicht der Murgtäler den geistigen Marathon. Als Nummer zwei der SF Hörden in der Verbandsliga holte der Michelbacher zwar in der vergangenen Saison nur 2,5/7. Allerdings schlug er in der Saison des Skat-Titelgewinns im Murgtal-Derby gegen die Rochade Kuppenheim den Franzosen Jean-Luc Roos, der Internationaler Meister ist. Sogar gegen Großmeister Fabian Döttling, der in der vierten Mannschaft des deutschen Meisters OSG Baden-Baden an vorderster Front auflief, hatte Eisele Chancen auf ein Remis. „Ich opferte einen Bauern. Fabian stand danach sehr passiv und hätte mein Remisangebot angenommen, sagte er später – aber ich traute mich nicht, einem Großmeister das anzubieten“, erinnerte sich der Spieler mit einer DWZ von knapp 2000 an das ungleiche Duell. „Später wäre ich sogar mit drei Bauern weniger ausgeglichen gestanden, stellte das Programm Stockfish fest“, berichtet der originelle Schachspieler von seiner verpassten Chance. Am Schluss war es aber wie fast immer in der Verbandsliga-Runde: Eisele vergeigte in Zeitnot alle gute Stellungen und verlor. Angesichts seiner starken Gegner reichten ihm aber 1,5/7, um in der vierthöchsten deutschen Klasse mit einer Performance von 2003 DWZ einen Ratingpunkt zu gewinnen. Bei Lichess verfolgten nach dem Titelgewinn in Magdeburg einige Fans, was der Skat-Champion auf den 64 Feldern so treibt. Ihm ist das unheimlich. „Ich weiß gar nicht, wie die mich ermitteln konnten, weil ich kaum Daten hinterlegt habe“, erzählt Eisele, dass er danach seinen „Nickname Tatjana änderte“, um wieder in Ruhe blitzen zu können.

Bei dem großen Turnier in Karlsruhe mischte Jörg Eisele im B-Open mit und holte in neun Runden 5,5 Punkte.
Zwei Jahrzehnte lang „keine Lust mehr auf Skat“
Für das königliche Spiel legte Eisele lange Zeit die Karten beiseite und wollte dort mehr Fortschritte erzielen, faszinierte ihn die Welt der Springer, Läufer und Türme doch mehr. „Ich hatte keine Lust mehr auf Skat!“, sorgt das Karten-Ass für Erstaunen. Schließlich wurde der Junge, der mit 13 Jahren Skat von seinem Vater Alfred lernte, der ihn auch 1986 mit zum ersten Preisskat mitnahm, einst deutscher Jugend-Vizemeister! Mehr als zwei Jahrzehnte setzte er dennoch aus und frönte nur Schach. „All die Möglichkeiten faszinierten mich mehr, und ich wollte unbedingt besser werden“, begründet Eisele. Erst als ihn seine Schwester Anke jahrelang genug „genervt“ hatte, doch mal wieder in den Skatabend zu kommen, nahm er die Karten erneut in die Hand. Flugs war die alte Klasse wieder da: Mehrfach wurde er badischer Meister und 2018 gar baden-württembergischer Champion.
Trotzdem findet Eisele: „Im Vergleich zu den ganz Großen im Skat bin ich ein kleines Lichtlein! Die würden mich auseinandernehmen.“ Der Vereinschef vom Skat-Club Gut Blatt Gaggenau 1971 widerspricht jedoch vehement. „Natürlich sind bei den deutschen Meisterschaften starke Spieler dabei. Aber wenn ich einem aus unserer Verbandsgruppe den Titel zugetraut hätte, dann nur Jörg“, unterstreicht Jörg-Thomas David mit Blick auf den bis dato größten Vereinserfolg des Skat-Oberligisten.
Eisele zeichnet „besondere Fairness“ aus
David preist vor allem die „besondere Fairness“ seines „Serien-Vereinsmeisters“ bei Gut Blatt. Wenn der Klubvorsitzende als Kartengeber kiebitzen kann, beobachtet er gerne die kühle Spielweise von Eisele. „Er bleibt ruhig und denkt wie ein Schachspieler sehr weit voraus“, stellte der 55-jährige Club-Boss fest.

Skat-Könner und deutsche Titelträger 2023 unter sich: Jörg Eisele (rechts) trifft beim Skat-Schach-Blitzturnier der Rochade Kuppenheim auf den nationalen Schach-Pokalsieger Thilo Ehmann.
Thilo Ehmann, einst deutscher Pokalsieger im Schach von der Rochade Kuppenheim und selbst ein starker Skatspieler, kennt Eisele sowohl von den 64 Feldern als auch den 32 Karten. Seiner Meinung nach lebt der Hördener Denkstratege „unterschiedliche Naturelle bei beiden Spielen“ aus. „Im Schach spielt er meistens etwas zweischneidige Eröffnungen und sehr taktisch. Beim Skat dagegen agiert er sehr solide und verliert nur wenige Spiele.“
Das Preisgeld in Magdeburg fiel sogar noch spartanischer als im Schach aus. Lediglich 400 Euro erhielt der Sieger. „Die Ehre ist weit mehr wert“, befindet der Champion und ordnet des Weiteren ein, „und Erfolge sind schön, aber völlig unwichtig im Vergleich zur Gesundheit und Freunden! Früher war ich total verbissen im Schach und Skat. Jetzt will ich nur spielen – und verliere ich, lache ich darüber!“
Keine Karten mehr in der Hand zu halten wegen Nervenleiden CRPS
Die Erkenntnis vertiefte sich in den zwei Jahren vor seinem Triumph in Magdeburg: Nach einer kleinen Operation am Handgelenk bekam der Lagerist und Staplerfahrer CRPS (Morbus Sudeck). Das neurologische Leiden kostete ihn den Job, „Ich sah nur noch Arztpraxen und Physiotherapeuten“, erinnert sich der Angeschlagene. „Meine Konzentrationsfähigkeit litt auch darunter. Irgendwas veränderte sich im Kopf.“ Motorisch noch schlimmer: „Ein Jahr lang habe ich keine Karten angefasst, weil ich sie nicht halten konnte!“, berichtete der damals 52-Jährige von seiner Leidensgeschichte. Sie fand in Magdeburg zumindest ein sportliches Happy End: Die Karten und den großen Siegerpokal konnte Eisele halten.

Skatmeister Jörg Eisele nahm seine Siegerkappe in Magdeburg nur bei der Nationalhymne ab. Den Glücksbringer trug er selbst bei der Siegerehrung.
2…h5!? leitet unterhaltsame Partie ein
Nachstehend die unterhaltsame Partie im Geiste der Schach-Romantiker gegen Steiner, die Eisele mit dem Zug 2...h5!? einleitete.