Jon Speelman: Ein Blick aufs Kandidatenturnier

von ChessBase
15.03.2016 – Der englische GM Jon Speelman hat Mathematik studiert und gehörte in den 80er und 90er Jahren zur Weltspitze im Schach. Zwei Mal hat er am Kandidatenturnier teilgenommen, zwei WM-Kämpfe hat er als Sekundant begleitet. Seit 1993 kommentiert er das Schachgeschehen für große englische Zeitungen. Nach drei Runden Kandidatenturnier zieht er eine erste Bilanz. Mehr...

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Gerne verzichte ich hier auf einen Wettstreit mit den schönen Kommentaren Sagar Shahs, der in Moskau für ChessBase vor Ort ist, und Runde um Runde jede Partie ausführlich und kompetent analysiert. Aber ich würde gerne auf ein paar kritische Momente hinweisen, zu denen es in den ersten drei Runden kam. Dinge, die oft unbedeutend scheinen, aber die dennoch viel über Zuversicht und Ehrgeiz der Teilnehmer des Kandidatenturniers verraten.

Beginnen wir mit Viswanathan Anand. Als ich die faszinierende Analyse von James Jorasch und Chris Capobianco gesehen habe, in der sie den Ausgang des Kandidatenturniers anhand von Computersimulationen vorhersagen, war ich, wie viele andere Leser auch, verblüfft über die geringen Erfolgschancen, die Anand zugebilligt wurden - lediglich 6,7%. Die Statistiken, die durch eine Simulation von einer Million Turnieren, erzeugt wurden, sind gewiss nicht ungenau, aber über die Annahmen, mit der diese Zahlen erzeugt wurden, kann man streiten. So schien Anand vor dem Kandidatenturnier 2014 in schlechter Form zu sein, doch am Ende gewann er souverän, und hat so gezeigt, dass er im Alter von 45 definitiv in der Lage war, zu großer Form aufzulaufen.

Wen interessieren Statistiken, wenn man Anand heißt?

Sein Sieg gegen Levon Aronian in der ersten Runde des Kandidatenturniers 2014 in Khanty-Mansiysk war erschreckend souverän. Das kann man von seinem Sieg Veselin Topalov in der ersten Runde in Moskau nicht sagen, denn Topalov verpasste die Gelegenheit zu einem möglichen Knock-out mit 20...Lxf2+.

Anand - Topalov

Was wäre passiert, hätte Topalov 20...Lxf2 gesehen?

Die Partien der ersten Runde können großen Einfluss auf den weiteren Verlauf des Turniers haben. Ein nahe liegendes Beispiel, das noch nicht weit zurückliegt, ist Magnus Carlsens Niederlage gegen Topalov in der ersten Runde des Norway Chess Turniers in Stavanger 2015, als Carlsen die Bedenkzeitregelung nicht kannte, und in Gewinnstellung die Zeit überschritt. Der weitere Turnierverlauf der beiden Spieler gestaltete sich danach ganz unterschiedlich. Zugegeben, Carlsen verlor ein paar Monate später beim Sinquefield Cup 2015 noch einmal gegen Topalov, aber das war eine normale Partie, und Carlsen erholte sich später von dieser Niederlage, wohingegen Topalov später einen Einbruch erlitt.

Ungewöhnlich scheint für Spieler eines solchen Niveaus jedoch, dass beide eine Möglichkeit wie 20...Lxf2+ übersehen. Allerdings haben beide danach vernünftig fortgesetzt, wobei Anands Spiel nach der Zeitkontrolle tödlich war. In einem Turnier über 14 Runden mit nie nachlassender Spannung, ist es wichtig, seine Kräfte klug einzusetzen. Anands Partie gegen Levon Aronian in der zweiten Runde war ein gutes Beispiel, wie man das macht, denn Anand erhielt aus der Eröffnung heraus eine sehr anständige Stellung, aber versuchte dann weder zu viel noch zu wenig, und akzeptierte, dass die Stellung am Ende ungefähr ausgeglichen sein würde, wenn sich Aronian gut verteidigte. Seine Partie in Runde drei gegen Fabiano Caruana bewegte sich ebenfalls in diesem Rahmen, denn keiner der beiden Spieler ging ungewöhnliche Risiken ein.

Die statistische Analyse vor dem Turnier sah Caruana als Favoriten. Das war keine große Überraschung und bereits im sechsten Zug seiner Partie gegen Hikaru Nakamura in Runde eins zeigte Caruana, aus welchem Holz er geschnitzt ist.

Nakamura - Caruana

Stellung nach 6.exd4

In solchen Stellungen nimmt man mit einem Zug 6...d5 vielleicht eine gewisse Zeit des Leidens auf sich, aber natürlich kann man die dann entstehende Stellung verteidigen. Ich glaube dennoch, dass Caruana die Stellung nicht gefallen hat, und wenn wir seinen Zug 6...Se7 betrachten, dann war er mutiger und fordernder als 6...d5, und obwohl Nakamura später besser stand, hat sich Caruana doch ziemlich überzeugend verteidigt.

Nakamura: lassen ihn seine Nerven im Stich?

Nakamura hat versucht, die Öffentlichkeit und vermutlich auch sich selbst davon zu überzeugen, dass man das Kandidatenturnier auch als normales Turnier betrachten kann. Doch in seiner Partie gegen Karjakin in Runde zwei gelang ihm genau das nicht. In letzter Zeit hat Nakamura begonnen, vom Königsinder zu "ordentlichen" Eröffnungen gegen 1.d4 überzugehen. Gegen den Königsinder gibt es so viele theoretisch gewichtige Varianten, dass man die Idee dahinter nachvollziehen kann: so gefährlich er in diesen Stellungen auch sein mag, so könnte der Faktor Furcht gegen die Weltklasse vielleicht doch nicht besonders schwer ins Gewicht fallen. Aber dennoch fühlt er sich in damenindischen Stellungen offensichtlich immer noch nicht ganz zu Hause und seine Niederlage gegen Karjakin war ziemlich drastisch. Nakamura sah nie wirklich glücklich aus, und redete sich in einer Stellung, in der er schlechter stand - wenn auch nicht so schlecht wie vorher - ein, dass in der Stellung eine Kombination für ihn verborgen war, obwohl diese Kombination einfach nicht ging.

Karjakin - Nakamura

Hier spielte Nakamura 29...Sxg3??

Ich muss gestehen, dass ich nicht sofort gesehen habe, dass Df2 und Tc7 gewinnt, als ich die Partie von zu Hause aus verfolgt habe, aber ich bin mir sicher, dass ich die Widerlegung in einer Partie gesehen hätte, und auch Nakamura würde sie nur in einem von Hundert Fällen übersehen - und somit ist dieser Fehler kaum typisch für ein normales Turnier. In Runde drei geriet er mit Weiß gegen einen ausgezeichnet vorbereiteten Peter Svidler ebenfalls in Schwierigkeiten: aber dann riss sich Nakamura zusammen und rettete sich in einem schwierigen Endspiel.

Nakamura - Svidler

In dieser schwierigen Stellung bewies Nakamura große Zähigkeit.
Problematisch ist nur, dass er diese Stellung überhaupt bekam.

In der Vorhersage von Jorasch-Capobianco wurden Svidler die wenigsten Chancen eingeräumt, das Turnier zu gewinnen. Das scheint keineswegs unvernünftig zu sein, denn gegen die absoluten Spitzenspieler scheint er gerne in ruhigem Fahrwasser zu segeln. Mithin gibt es keinen Grund, warum er in Moskau schlecht abschneiden sollten, aber zugleich scheint unwahrscheinlich, dass er besonders gut spielt. Ein gewisser Mangel an Ehrgeiz und Selbstvertrauen - aber vielleicht auch einfach nur Realismus - zeigte sich in der zweiten Runde in seiner Partie gegen Topalov, in der er darauf verzichtete, Topalov mit 23.a3 ernsthaft zu prüfen und stattdessen 23.a4 spielte - nun wäre die Partie nach 23.a3 sicher auch Remis ausgegangen, aber dennoch war diese Fortsetzung definitiv kämpferischer.

Svidler - Topalov

Nach 22...a5

Svidlers sehr schnell und souverän gespielte Eröffnung gegen Nakamaru war äußerst eindrucksvoll, auch wenn Svidler seinen Vorteil am Ende nicht in einen ganzen Punkt verwandeln konnte. Allerdings könnte man sich auch auf den Standpunkt stellen, dass Svidler solche Endspielvorteile verwerten muss, wenn er um den ersten Platz kämpfen will.

Anish Giri landete in der Computersimulation vor dem Turnier auf dem dritten Platz. Letztes Jahr hatte er einen phantastischen Lauf und hat eine enorme Zahl von Partien (im klassischen Schach) ohne eine einzige Niederlage überstanden. Er ist jung, fit und überaus motiviert. Wie motiviert sah man in Runde eins gegen Aronian, als Giri den Kampf bis zum bitteren Ende fortsetzte, aber auch in Giris Partie gegen Caruana in Runde zwei, in der beide Spieler einen guten Kampf ablieferten, der zeigte, dass beide Spieler gut in Form sind.

Anish Giri, der vor dem Turnier als einer der Favoriten gehandelt wurde.

In seiner Partie gegen Karjakin aus Runde drei gingen beide Seiten entschlossen zu Werke.

Giri - Karjakin

[Event "FIDE Candidates 2016"] [Site "Moscow RUS"] [Date "2016.03.13"] [Round "3"] [White "Giri, A."] [Black "Karjakin, Sergey"] [Result "1/2-1/2"] [ECO "E15"] [WhiteElo "2793"] [BlackElo "2760"] [SetUp "1"] [FEN "2rqr1k1/3n1pp1/bppb1n2/p2p3p/N2P4/1P1NP1P1/PB3PBP/2RQR1K1 w - - 0 19"] [PlyCount "24"] [EventDate "2016.03.10"] 19. Bh3 Ng4 20. Nf4 g6 21. Bxg4 hxg4 22. Qxg4 Nf6 23. Qg5 Be7 24. Nxg6 fxg6 25. Qxg6+ Kh8 26. Nc5 bxc5 27. dxc5 Rf8 28. Qh6+ Kg8 29. Qg6+ Kh8 30. Qh6+ Kg8 1/2-1/2

Sagar Shah hat diese Partie detailliert analysiert, aber meiner Ansicht nach ist die "Wahrheit" weniger wichtig, als die Fähigkeit der Spieler, trotz des großen Drucks, dem sie in diesem Turnier ausgesetzt sind, ihre normale Spielstärke abzurufen und vernünftige Züge zu spielen, wenn sie vor schwierigen Entscheidungen stehen.

Karjakins Entscheidung, einen Bauern zu opfern, anstatt sich einzumauern, zeigt das Vertrauen, das er in sein positionelles Urteil hat, und der Zug 23...Be7, der Weiß beinahe dazu auffordert, wenn nicht sogar befiehlt, die Figur zu opfern, zeigt zudem noch, wie viel Vertrauen Karjakin in seine Rechenfähigkeit hat.

Giri kam der Aufforderung nach und opferte die Figur, aber entschied sich dann gegen 26.e4 (was Weiß mehr Raum verschafft, aber ebenfalls zum Remis führen sollte) und spielte stattdessen mit 26.Sc5 eine ästhetisch ansprechende Fortsetzung, die Karjakin zwar zwang, den einzigen Zug 27...Tf8 zu finden, aber Schwarz trotzdem nicht vor schwere Verteidigungsprobleme stellte. Im Internet gab es Stimmen, die meinten, Giri hätte nach seinem Opfer nicht das Remis durch Dauerschach forcieren sollen, aber ich vermute, Giris Turnierplan besteht darin, Niederlagen zu vermeiden und ab und zu eine Partie zu gewinnen.

Damit bleibt noch Aronian übrig, der das Turnier mit einer hartnäckigen Verteidigungsleistung gegen Giri begann:

Giri - Aronian

Aronian kam in Runde eins gegen Giri in Schwierigkeiten,
doch am Ende konnte er sich retten.

Hier muss man nicht 53...Tf4 spielen, aber trotzdem ist das der Zug, den Schwarz machen will - und Aronian zeigte gutes Urteilsvermögen - und gute Nerven - als er sich für den Übergang ins Bauernendspiel entschied, in dem er eine Festung errichten konnte. In der zweiten Runde spielte Aronian dann gegen Anand und hielt das Gleichgewicht, obwohl er leicht hätte daneben greifen können; in Runde drei nutzte Aronian dann einen Fehler von Topalov zu seinem ersten Sieg.

Wessen Lächeln werden wir also am Ende sehen, wenn das Wandbild fertig ist? Ich fürchte, für eine solche Enthüllung ist es noch zu früh, aber ein paar Hinweise gibt es schon.

Beim Kandidatenturnier in London 2013 gewannen Carlsen und Kramnik mit je 8,5 Punkten aus 14 Partien (+3) und in Khanty-Mansiysk 2015 wurde Anand mit 8,5 aus 14 klarer Sieger. Im Moment sieht es nicht so aus, als ob einer der Teilnehmer beim Kandidatenturnier 2016 in Moskau eine Siegesserie hinlegen wird, also gehe ich einmal davon aus, dass 8,5 oder vielleicht auch 9 aus 14 auch dieses Mal reichen werden. Der nahe liegende Plan, um ein solches Ergebnis zu erzielen, besteht darin, auf Sicherheit zu spielen und gegen den einen oder anderen Gegner zu gewinnen.

Von den drei Spielern, die sich nach drei Runden die Tabellenführung teilen, scheint Anand in sehr guter, aber nicht in absoluter Top-Form zu sein. Aronian hat einen Gang zugelegt, doch den besten Eindruck hat bislang vielleicht Karjakin hinterlassen, als er gegen Nakamura in Ruhe die Spannung erhöht hat, was Nakamura schließlich zu einem Übersehen provozierte, und anschließend kam Karjakin durch entschlossenes und selbstbewusstes Spiel zu einem schnellen Remis gegen Giri.

Auch Caruana und Giri machen bislang einen guten Eindruck und sind sicher in der Lage, zuzuschlagen, wenn sich die Möglichkeit ergibt.

Svidler hat mit Schwarz sehr gute Vorbereitung bewiesen (wobei seine Weißpartie gegen Topalov keineswegs überzeugend war), aber scheiterte dann an der Chancenverwertung. Nakamura wirkt schrecklich nervös, aber könnte durchstarten, wenn alles zusammen kommt. Topalov ist in schlechter Form.

Nach dem nächsten Ruhetag sollte das Bild klarer geworden sein.

Über den Autor

Jonathan Speelman wurde 1956 geboren und entschied sich 1977 nach einem erfolgreichen Abschluss des Mathematikstudium am Worcester College in Oxford zu einer Laufbahn als Schachprofi. 1977 wurde er Internationaler Meister, 1980 folgte der Großmeistertitel. Von 1980 bis 2006 war er Mitglied der englischen Olympiamannschaft.

Er wurde drei Mal Britischer Meister und qualifizierte sich zwei Mal für die Kandidatenwettkämpfe, die damals noch im k.o.-System ausgetragen wurden. 1989 kam er ins Halbfinale des Kandidatenturniers, aber unterlag dort 3,5:4,5 gegen Jan Timman. 1993 arbeitete er als Sekundant von Nigel Short beim Weltmeisterschaftskampf Shorts gegen Garry Kasparov und 1995 arbeitete er als Sekundant von Viswanathan Anand be dessen WM-Kampf gegen Garry Kasparov in New York 1995.

Seit 1993 schreibt er eine wöchentliche Schachkolumne für den "Observer" und seit 1998 schreibt er für den "Independent". Speelman bietet Online-Training an, puzzelt gerne und liebt schwierige Kreuzworträtsel und Killer-Sudokus.

Für Rückfragen, Kritik, etc, benutzen Sie bitte  Jonathan Speelmans Email-Adresse.


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