Kandidatenturnier: A day at the races

von André Schulz
11.03.2018 – Aus rein schachlicher Sicht war der Auftakt des Kandidatenturniers toll. Drei Siege in der ersten Runde, vier interessante Partien. Das Drumherum war jedoch nicht so toll. Es gibt viele organisatorische Mängel.

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Karjakin: "Eigentlich gefällt mir hier gar nichts."

Fotos: André Schulz

Der Start des Kandidatenturniers ist gelungen - im Sinne von: Es ist gestartet. Für die Kandidaten selbst ist diese Phase in etwa so heikel, wie der Start eines Rennens bei der Formel Eins. Im Unterschied zu dieser, starten die Turnierteilnehmer beim Schach zwar alle aus derselben Position, aber trotzdem: Der Start kann schon die Richtung vorgeben. Die Gewinner nehmen Rückenwind mit. Die Verlierer wissen, dass sie nun in einer der nächsten Partien mehr Risiko gehen müssen, um den Rückstand aufzuholen. Mit einem Fehlstart - zwei Niederlagen am Anfang vielleicht, kann man fast schon raus aus dem Rennen um den Turniersieg sein. Auch für die Organisatoren ist der Start eines Turniers, besonders eines solchen Turniers, das im Mittelpunkt der weltweiten Aufmerksamkeit steht, ein heikler Moment - mehr als ein Moment, denn wenn etwas nicht richtig organisiert wurde, kann es einige Zeit dauern, bis es repariert werden kann. Vielleicht geht es auch gar nicht, weil die Umstände vor Ort es nicht mehr erlauben. Dabei gibt es ganz unterschiedliche Perspektiven. Die Zuschauer vor Ort sehen viel mehr als das, was den Zuschauern draußen im Internet gezeigt wird. Und sie haben andere Bedürfnisse und Erwartungen. Die Medienvertreter haben wieder andere Interessen als die Zuschauer. Sie möchten in Ruhe arbeiten können. Und die Spieler haben noch andere Wünsche. Sie möchten Bedingungen vorfinden, unter denen sie ihr bestes Schach zeigen können.

Die Turnierbedingungen für die Zuschauer vor Ort, für die Journalisten und für die Spieler sind jedoch alles andere als optimal, hier beim Kandidatenturnier in Berlin. Dem Schach haftete über eine lange Zeit etwas Provinzielles an. Turniere wurden (und werden ja auch noch) oft in Gaststätten, Hotelsälen, Schulaulen oder Turnhallen gespielt, manchmal in (oft auch leeren) Theatern. Nun soll das Schach professioneller werden, um es besser vermarkten zu können. Agon, der Vermarkter der FIDE, ist bemüht, den Turnieren auf dem Weg zur Weltmeisterschaft und der Weltmeisterschaft selbst einen coolen Anstrich zu geben. Was anderswo gang und gäbe ist, soll auch den Schachevents dazu verhelfen, besser auszusehen: Hippe Locations, schöne Aufsteller auf denen die Sponsoren-Logos gut wirken, Pressekonferenzen nach den Partien, in denen die Spieler Rede und Antwort stehen müssen, auch wenn sie verloren haben. Das ist im Prinzip ein guter Ansatz, wird hier aber leider auf Kosten der Infrastruktur und der Spielbedingungen verwirklicht. 

Schach in der Black Box

Die Spieler sitzen um einen großen schwarzen Würfel herum im Spielsaal. Die Zuschauer können sich die Partien auf dieser Ebene  anschauen oder von den nächsten beiden Stockwerken aus darauf herunterblicken. Die Stockwerke sind in der Mitte offen und geben den Blick nach unten frei. Das wirkt auf den ersten Blick sehr cool, wie in einem Musikclub. Der Hamburger Mojoclub bietet ähnliche Perspektiven, aber hier tritt zum Beispiel Wolf Alice auf, und das ist alles andere als ruhig. Die Zuschauer drängen sich um das Geländer und versuchen einen Blick zu erhaschen.

Zuschauer auf den Galerien

Ob man von hier die Partien versteht, ist fraglich. Und noch hat sich niemand zu weit über die Brüstung gelehnt und ist auf einen der Spieltische gefallen. Sitzgelegenheiten für die Zuschauer gibt es keine. Da man sich nicht so richtig in einem Spielsaal befindlich fühlt, sind die Zuschauer auch nicht so leise, wie es eigentlich nötig wäre. Der Zuschauerbereich ist abgedunkelt, aber manchmal geht doch das Licht an. Das obere der beiden offenen Zuschauerstockwerke ist übrigens nur den Besitzern der teureren Silver-Eintrittskarte vorbehalten. Dahinter verbirgt sich eine merkwürdige Logik. Je weiter weg man vom Spieltisch ist, desto teurer wird der Eintritt? Beim Fußball und im Theater ist es anders herum.

Blick von oben auf die Spieler

Im 4. Stock wird auf Deutsch live kommentiert. Am Samstag saßen dort Ilya Zaragatzki und Niclas Huschenbeth. Das Stockwerk hat Loftcharakter und ist weitläufig. Es gibt sogar einige Sitzbänke, nicht bequem, aber immerhin. Der Raum ist mit einem Aufsteller optisch in zwei Hälften geteilt. In der anderen Hälfte finden die Pressekonferenzen statt, die wie immer von Anastasya Karlovich überaus routiniert moderiert werden. Die Live-Kommentare während der Partie sind für die Zuschauer allerdings nur schwer verständlich. Auf dieser Ebene ist nämlich auch die einzige Möglichkeit zum Schachspielen - es stehen ein paar Tische dafür bereit - und die einzige Gelegenheit für die vielen Schachfreunde sich zu treffen und sich zu unterhalten. Das passierte am Eröffnungstag auch ausgiebig, störte aber die Zuschauer der Live-Kommentierung. Die Kommentierungsebene im 4. Stock ist zudem auch der einzige Platz im Gebäude, wo man etwas zu essen bekommt. Es gibt hier zwei Automaten mit Schokoriegel und dergleichen.

Wer hat ein braunes Bändchen

Dafür ist es im 5. Stock ruhig. Auch dieser ist zweigeteilt. Durch einen Vorhang abgetrennt sitzt links Judith Polgar im VIP-Bereich und kommentiert, am Eröffnungstag zusammen mit Yannick Pelletier.

Yannick Pelletier, Judit Polgar, Lennart Ootes

VIPs sind kaum welche da. Es gibt sogar eine Bar mit freien Getränken für die VIPs. Wer rein will, braucht ein braunes Bändchen. Die Jornalisten (grünes Bändchen) dürfen hier nicht rein, immerhin aber überall sonst. Sie sind nebenan untergebracht. Das ganze Kühlhaus am Gleisdreieck hat den Charme eines Rohbaus. Der Pressebereich befindet sich quasi im Dachboden und das sieht hier auch so aus.

Der Weg zum Pressebereich unter dem Dach

Hier wird man beim Arbeiten nicht abgelenkt

Mit ein paar mobilen Stellwänden wurde der Organisationsbereich vom Medienbereich abgetrennt. Die Medienvertreter haben Strom und Internetzugang. Es gibt ein paar Campingtische und Klappstühle. Auch die Partien sind auf einem Bildschirm zu sehen. Zu essen gibt es allerdings nichts, auch keinen Kaffee, aber kostenloses Wasser. Wenigstens dehydrieren muss hier niemand. Toiletten sind allerdings weit weg. Im 2. Stock und im Erdgeschoss. In einer Ecke sitzt der unverwüstliche Leontxo Garcia, Schachjournalist der ersten Stunde quasi, ein Veteran. "Dies ist die schlechteste Organisation, die ich in 35 Jahren Tätigkeit erlebt habe", lautet sein vernichtendes Urteil. 

Es ist aber nicht alles schlecht. Auch für die Fach-Journalisten, von denen es ja nicht so viele gibt, ist es nett, sich zu treffen und über das Schach zu unterhalten.

Maria Emelianova verbessert die Arbeitsatmosphäre

Am späten Nachmittag wurde es langsam dunkel. Lampen gab es im Medienbereich noch keine, aber nach kurzer Nachfrage wurde schnell eine mobile Lichtquelle am Dachgestühl montiert. Es wurde Licht. Zwischendurch hing auch mal die Übertragung der Partien auf dem Bildschirm etwas. So war die Diskussion unter den Journalisten darüber, ob Ding Liren bei der rasenden Zeitnot die Stellung halten könne, hinfällig. Weder Stellung noch Zeitangabe war korrekt. Sechs Minuten vor 21 Uhr fiel im ganzen Haus das Internet aus. Nichts ging mehr, kein Signal rein und auch keins raus. Eine Partie lief noch, Mamedyarov gegen Karjakin, war aber bald auch zu Ende. 

Am späten Aband gab es einen schriftlichen Protest einiger Journalisten. Ilya Merenzon versprach schnelle Besserung.

Die Spieler reißen es raus

Trotz der widrigen Bedingungen sorgten die Spieler mit ihren Partien für einen tollen Auftakt. Eigentlich hätte es vier Entscheidungen geben müssen. Levon Aronian hatte Ding Liren in der Eröffnung völlig überspielt. Zum Auftakt der Runde hatte sein Staatspräsident Serzh Sargsiyan an seinem Tisch den Eröffnungszug gemacht. Der Tisch war umlagert von Zuschauern, die mit ihren Handys Fotos für ihre private Fotogalerie machten. Nur die Journalisten, die sehr früh einen Platz am Tisch ergattert hatten, konnten ihre Pressefotos schießen. Nach der Eröffnung zog der armenische Präsident mit seinen Begleitern, etwa zehn oder zwölf Mann, ab und fuhr dann mit dem Aufzug in den VIP-Bereich. Wie die armenische Armee alle Mann in den kleinen Aufzug gepasst haben, bleibt ein Rätsel. Aronian klemmte Dings Dame auf überaus hässliche Weise auf a6 ab, aber dann widerfuhr ihm eine Ungenauigkeit und die Partie endete doch remis. In der Pressekonferenz zeigte sich Aronian enttäuscht.

Die erste entschiedene Partie lieferten bald danach Fabiano Caruana und Wesley So. So hatte mit Schwarz recht offensiv begonnen, handelte sich aber Probleme ein und wurde von Caruana dann überrollt. Auf die Frage nach den Spielbedingungen äußerten sich die beiden Spieler zurückhaltend und höflich.

Vladimir Kramnik spielte gegen Grischuk eine Art Damenbauerspiel und stand die ganze Zeit besser. Grischuk verbrauchte viel Zeit. Er verteidigte sich tapfer, aber am Ende setzte sich der Routinier durch. Grischuk war zur Pressekonferenz als erster erschienen und saß dort mit versteinertem Gesicht.

Grischuk ist nicht zufrieden

Später sagte er: "Das ist ein schlechter Tag für mich. Die Spielbedingungen sind absolut grauenhaft. Das klingt jetzt wie eine Entschuldigung, weil ich verloren habe. Aber das ist es nicht. Es gibt nicht einmal Wasser auf der Toilette." Grischuk hätte eigentlich nichts sagen müssen, in seinem Gesicht konnte man alles ablesen. Kramnik zeigt sich konziliant: "Die Bedingungen sind für alle Spieler die gleichen."

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Shakriyar Mamedyarov ist der Aufsteiger des letzten Jahres. Die Art und Weise, wie er den zähen Karjakin im Endspiel niederrang, ist beeindruckend. Dies war die längste Partie des Tages und die dritte Entscheidung. In der Pressekonferenz urteilte Karjakin auf die Frage nach den Spielbedingungen: "Ich mag das Hotel nicht, ich mag den Spielort nicht und außerdem war es sehr laut während der Partie. Eigentlich gefällt mir gar nichts."

Auch sonst gibt es einige weitere organisatorische Mängel. Mamedyarov bemerkt, dass er auf den Bildschirmen im Spielsaal, wo eigentlich nur die Partiestellungen zu sehen sein sollten, im Vorbeigehen Judit Polgar sah, die exakt über seine Stellung gegen Karjakin sprach. "Da waren keine Varianten zu sehen, aber das kann doch nicht sein", meinte er.

Selbst mit ihrer Webseite hatte Agon massive Probleme. Die Partienotationen waren dort nicht zu sehen. Der Videostream mit den Kommentaren von Judit Polgar und Yannick Pelletier war auf der Hauptseite auch nicht zu finden, sondern lief versteckt auf einer Unterseite www.worldchess.com/berlin/. Wenige Tage vor dem Start des Turniers gab Agon bekannt, dass sie diesmal nicht das exklusive Recht an den Partienotationen für sich beanspruchen, offenbar schon mit dem Wissen, dass sie selber aufgrund von technischen Problemen welcher Art auch immer, nicht in der Lage wären, die Partien auf ihre Webseite zu bringen.

Trotz allem lassen sich die Schachfreunde in Berlin und in Deutschland die Freude an diesem Event nicht nehmen. Sie sind in großer Zahl angereist, zum Teil auch von weit her. Hier und da gibt es auch laute Kritik an verschiedenen Mängeln. Die Partien sind jedoch großartig und die Freude darüber, dass man sich hier beim gemeinsamen Hobby treffen kann, ist unübersehbar. Der Österreichische Schachbund ist ebenfalls mit hochrangigen Vertretern angereist. Man möchte die nächste Weltmeisterschaft 2020 nach Wien holen, denn der ÖSB wird 100 Jahre alt. "Wir haben ein paar schöne Spielorte in Wien, zum Bespiel im Rathaus."Wenn es aber den Stil haben soll wie hier beim Kandidatenturnier, können wir das auch bieten," bietet Christian Hursky, der neue Präsident des Verbandes an. "Wir haben zum Beispiel das "Haus des Meeres", ein umgebauter Flakturm. Die Schachweltmeisterschaft 2020 in der alten europäischen Schachmetropole Wien: Das wäre doch großartig!

 

 

 

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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