Ulrich Stock, Jazz-und Schachexperte der Zeit, ist einer der meistgereisten Schachreporter unserer Zeit. Er ist schon lange dabei und hat für die Hamburger Wochenzeitung schon von unzähligen Weltmeisterschaftskämpfen und Kandidatenturnieren berichtet. Auch das Kandidatenturnier in Madrid im Palacio de Santoña hat er aus nächster Nähe verfolgt. Für seinen Bericht zur zwölften Runde hat der Schachreporter, selber ein versierter Vereinsspieler, seinen Blick einmal nicht aufs Brett, sondern auf die Spieler gerichtet. Was machen sie die ganze Zeit, während sie über ihre Züge nachdenken oder auf den Zug des Gegners warten. Und kann man aus ihre Grimassen und Gesten den Spielverlauf ablesen?
Ausschnitt:
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Links der Tische liegt hinter einer vier Meter hohen Tür ein Saal, in dem sich die Meister Erfrischungen holen können. Rechts der Tische geht es in einen kleinen Flur mit drei WC-Kabinen. Die Partien beginnen um 15 Uhr.
14.54 Uhr Der chinesische Großmeister Ding ist als erster da. Er setzt sich ans Brett und justiert den Stand der schon aufgestellten Figuren. Den schwarzen c-Bauern hebt er an, um einen Fussel zu entfernen.
15.00 Uhr Die Partien beginnen als virtuoses Ballett an vier Tischen: ziehen, Uhr drücken, Zug notieren, Ziehen, Uhr drücken, Zug notieren, ziehen.
15.05 Uhr In den ersten fünf Minuten dürfen akkreditierte Fotografen Bilder machen. Jetzt müssen sie den Saal verlassen, zwei dürfen bleiben. Es wird still. Zu hören ist nur das Ploppen beim Drücken der Schachuhren, das Rauschen der Klimaanlage.
15.08 Uhr Der russische Tabellenführer Nepomnjaschtschi, kurz Nepo, bringt seinen in einer Thermoskanne mitgebrachten Tee in Stellung. Lautes Schlürfen und Schlucken. Der US-Amerikaner Caruana ab nach rechts zum WC.
15.12 Uhr Nepo, zurückgelehnt, schmiegt seine Arme eng an den eigenen Leib, als würde er im Bett liegen und sich einkuscheln. Sein Gegner, der junge Iraner Firouzja, kommt im Stechschritt aus dem Erfrischungsraum, legt seinen mitgenommenen Stift zurück auf den Tisch, geht rechts weiter zum WC. Caruana, wieder da, beginnt sein Wasserflaschenritual: Flasche in halber Höhe vor den Brustkorb halten und öffnen, an die Lippen setzen, kurz den Mund spülen, dann schlucken, dann Flasche in halber Höhe wieder zuschrauben und absetzen.
15.18 Uhr Der Aserbaidschaner Radjabov springt so schwungvoll auf, dass sein Chefsessel sich nach links dreht und, langsamer werdend, schließlich stehenbleibt. Der Ungar Rapport schlendert über die Bühne. Im Gehen runzelt er seine Stirn, glättet sie, runzelt sie – als wäre er bei einem Stirnmuskeltraining. Ding ab nach rechts zum WC. Der Fairplay-Beauftragte des Weltschachverbandes schreitet die Bretter ab. Keine Beanstandungen.
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Zum ganzen Protokoll bei der Zeit...
Die Zeit Themenseite zum Kandidatenturnier...