Hallo Karsten. Du hast vor kurzem ein neues
Buch über Bobby Fischer veröffentlicht.
Bobby Fischer: The Career and Complete Games
of the American World Chess Champion. Das Buch zeichnet die Karriere von
Fischer nach und enthält alle bekannten Partien von Fischer und Du hast sie
alle kommentiert. Das Buch ist schön gemacht, hat ein übersichtliches Layout
und enthält viele schöne, teilweise unbekannte Fotos, aber trotzdem die
Frage: Brauchen wir nach Agurs Buch über Fischers Schachstil, Hübners
ChessBase-DVDs und Kasparovs Buch über Fischer noch ein weiteres?
Der Verleger Hanon W.Russell konnte mich
davon überzeugen, dass es nach Fischers Tod angemessen ist, ein Buch mit
allen Turnierpartien zu bringen. Außerdem steuerte er viele Fotos bei und
konnte Larry Evans und Andy Soltis für das Vorwort bzw eine Diskussion von
Fischers Beiträgen zur Eröffnungstheorie gewinnen.
Was hat Dein Buch, was andere Bücher über
Fischer nicht haben?
Dadurch dass ausnahmslos alle bekannten
Turnierpartien betrachtet werden, entsteht ein vollständiges Bild, so dass
Fischers gesamte Schachkarriere vom Wunderkind bis zum Weltmeister
nachvollzogen werden kann.
Du hast alle Partien von Fischer nachgespielt
und kommentiert. Bei manchem noch aktiven Spieler stelle ich mir das
ziemlich langweilig vor. Wie war das bei Fischer?
Langweilig war es jedenfalls nicht, denn es
gibt so gut wie keine kurzzügigen Remis oder Partien, die völlig inhaltsleer
sind. Ein anderes Moment, durch das oft Spannung hineinkam, war übrigens der
Vergleich der Analysen von Fischer, Hübner und Kasparow. Nicht selten waren
sie verschiedener Meinung und ich musste mich dann auf eine Seite schlagen.
Fischer war ein Wunderkind: Mit 14 wurde er
US-Meister, mit 15 wurde er der jüngste Großmeister aller Zeiten, ein
Rekord, der erst 34 Jahre später gebrochen wurde. Mit 15 gehörte er schon
zur Weltspitze, aber Weltmeister wurde er erst mit 27. Wo würdest Du die
entscheidenden Momente in Fischers Karriere sehen? Und war er Anfang der
70er tatsächlich so viel besser als Anfang und Mitte der 60er – und wenn ja,
warum?
Kurz skizziert könnte man Fischers
Schachkarriere wie folgt umreißen: zunächst der Aufstieg vom Wunderkind in
die erweiterte Weltspitze von 1955-1962. Danach der Dämpfer beim
Kandidatenturnier in Curacao, wo er als einer der Topfavoriten nur im
Mittelfeld landet. Als Konsequenz spielt er viel seltener und vor allem in
den USA. Am Interzonenturnier 1964 in Amsterdam nimmt er nicht teil und 1967
reist er klar in Führung liegend aus Sousse ab - einer der mysteriösesten
Momente in seiner gesamten Schachkarriere. Erneut zieht er sich weitgehend
zurück und spielt 1969 keine Turnierpartie. Dieser Phase scheint im
Nachhinein gesehen entscheidende Bedeutung beizukommen. Er trainiert
intensiv und kehrt zum Match UdSSR gegen den Rest der Welt gestärkt in die
Turnierarena zurück, um die beste Phase seiner Karriere einzuleiten. Von
1970-1972 erzielt er eines der besten, wenn nicht das beste Ergebnis, was je
erreicht wurde. Er verliert nur 5 von 102 Partien, gewinnt zwei
Kandidatenmatches (gegen Taimanow und Larsen) mit 6-0 und liegt vor dem WM
Match 125 Punkte vor Weltmeister Spasski auf Platz 1 der Eloliste. In dieser
Phase war er stärker als zuvor, weil er selbst schachlich gereift war, in
den Eröffnungen variabler agierte und sich bei den Gegnern eine Art
Fischerangst eingestellt hatte. Selbst Spasski war sich vor dem WM Match
nicht mehr sicher, besser als Fischer zu sein.
Fischer hat viele Menschen zum Schach
gebracht. Was fasziniert an seinem Spiel und was fasziniert Dich an seinem
Spiel?
Klarheit und Kampfgeist.
Was zeichnet sein Spiel aus, was sind seine
Stärken, was sind seine Schwächen?
Als Stärken fallen besonders seine Kondition
und sein Wille, bis zur letzten Patrone zu kämpfen und alles dem Schach
unterzuordnen, ins Auge. Weiterhin war er besonders stark in Endspielen mit
einer leichten Initiative und bei der Transformation von Vorteilen. In
Matches gelang es ihm oft, die psychologische Initiative zu übernehmen und
dem Gegner seinen Willen aufzuzwingen. Schwächen zu nennen ist viel
schwieriger. Anfangs war das zu starre Festhalten an bestimmten Eröffnungen
eine Schwäche, die in der Periode 1970-1972 aber weitgehend überwunden
wurde. Auch sein Drang stets die Kontrolle zu behalten, führte manchmal
dazu, dass er Risiken scheute. Durch seinen enormen Kampfeswillen führte das
dennoch nicht zu vielen Remisen. Weitere Schwächen liegen sicher auf
psychologischem Gebiet, die beispielsweise zur Abreise aus Sousse führten,
aber in der Periode 1970-1972 nicht sehr zum Tragen kamen. Danach wohl umso
mehr.
Angenommen, Du wärest Coach und müsstest
einen Deiner Schützlinge auf Fischer vorbereiten: Was würdest Du ihm
empfehlen, welche Eröffnung sollte er spielen, was sollte er anstreben, was
vermeiden?
Das hängt natürlich auch davon ab, wer gegen
Fischer antreten soll. Man könnte mit Weiß sowohl in der Najdorf-Variante
aggressiv angreifen als auch 1.d4 spielen, um zu versuchen, dauerhaft die
Kontrolle zu behalten, wie Spasski es im Revanchematch 1992 oft getan hat.
Mit Schwarz kommt Caro-Kann stark in Frage – dagegen hat Fischer vieles
versucht, aber so richtig überzeugend wirkt das nicht. Zu vermeiden sind auf
jeden Fall Stellungen, in denen Fischer die Kontrolle und eine leichte
Initiative hat.
Und was muss man tun, wenn man Schach wie
Fischer spielen will?
Alles im Leben dem Schach unterordnen - das
hat neben den Vorteilen aber sicher auch Nachteile.
Wie aktuell ist Fischers Art Schach zu
spielen heute noch? Welches Erbe hat er hinterlassen?
In Bezug auf Fischers Eröffnungen sind vor
allem Najdorf und Königsindisch aktuell wie eh und je. In Bezug auf seinen
Stil haben viele vom Studium seiner Partien stark profitiert. Selbst in der
Sowjetunion war sein Meisterwerk Meine 60 denkwürdigen Partien sehr
populär. Auch sonst ist sein Erbe so enorm, dass ich das hier in der Kürze
nicht umfassend darstellen kann.
Das Buch enthält viele schöne Fotos und
biographische Skizzen, aber verzichtet darauf, die vielen Kontroversen, die
Fischers Karriere prägen, auszuschlachten und zu bewerten. Dennoch eine
Frage zu Fischers Biographie. Als Mensch war Fischer war schwierig und
exzentrisch, als Schachspieler liebte er Klarheit und Kontrolle. Muss man
Fischers Schach und seine Biographie trennen oder ist Fischers Hingabe an
das Schach eine Reaktion auf seine psychische Labilität?
Hier bin ich überfragt und das ist auch ein
Grund, weshalb ich im Buch solche Fragestellungen vermeide, wann immer es
möglich ist.
Dein Buch ist weitgehend neutral, strittige
Fragen in Fischers Karriere, wie zum Beispiel seine Vorwürfe, die Sowjets
hätten das Turnier in Curacao verschoben, werden erwähnt, aber nicht
kommentiert. Warum?
Wenn man dieses Fass aufmacht, bekommt man es
nicht mehr zu. Jedenfalls nicht innerhalb von 400 Seiten, und viel mehr
sollte das Werk nicht haben. Außerdem denke ich nicht, dass ich hierfür der
richtige Autor bin. Daher habe ich versucht, mich fast ausschließlich auf
das Schachliche zu konzentrieren.
Auf dem Höhepunkt seiner Karriere hat sich
Fischer vom Turnierschach zurückgezogen und über die Gründe dafür wurde viel
spekuliert. Was meinst Du?
Auch ich kann natürlich nur spekulieren.
Nachdem Fischer sein Lebensziel, Weltmeister zu werden, erreicht hatte, fiel
er vermutlich in ein Loch und zog sich völlig zurück. Vor dem angesetzten
Match gegen Karpov 1975 überkam ihn vielleicht Angst, er könnte verlieren
und hätte nichts mehr zu gewinnen, weil er 1972 den alles entscheidenden
Meilenstein schon gesetzt hatte. 1992 ist er wieder angetreten, weil Spasski
für ihn eine bekannte Größe darstellte, während Karpov 1975 ihn vor viele
unangenehme unbekannte Fragen stellte. Aber das Ganze bleibt natürlich
rätselhaft.
Fischer war Autodidakt und hatte keinen
Trainer. Trotzdem hat er sich zu einem universellen Spieler entwickelt. Wäre
er mit Trainer noch besser geworden?
In der Zeit 1970-1972 spielte er meiner
Meinung nach wirklich extrem gut. Daher ist es unwahrscheinlich, dass er in
dieser Zeit noch besser hätte sein können. Nach seinem Sieg 1972 sieht es
anders auch. Aber es wäre hierfür wohl kein Trainer im klassischen
schachlichen Sinn vonnöten, sondern eine andere Konstellation beispielsweise
mit einem guten Freund, dem Fischer vertraut und auf den er hört.
Fischers Siegeswillen ist legendär. Ist das
ein Mythos oder zeigt sich dieser Siegeswillen tatsächlich in seinen
Partien?
Das ist kein Mythos, sondern Fischers
Kampfgeist zeigt sich tatsächlich in Partien. Er macht so gut wie keine
Kurzremis und spielt durckvoll einfach immer weiter. So hat Tal zur
Hängepartie der 2.Partie des Matches gegen Taimanow gesagt, dass er sie
remis gegeben hätte. Aber Fischer spiele eben bis zum nackten König weiter.
So passiert das Wunder: Taimanow kommt mit 81...Ke4? vom Weg ab und geht
unter.
Fischer hat viele berühmte Partien gespielt.
Welche empfindest Du als besonders typisch für seinen Stil?
Das kann ich so nicht umfassend beantworten.
Zum Einstieg halte ich sein Kandidatenmatch gegen Taimanow für sehr
geeignet. Hier kommen viele von Fischers Stärken klar zum Tragen. Allerdings
sind seine Schwächen hier natürlich unterrepräsentiert.
Hast Du eine Lieblingspartie Fischers?
Auch das ist eine sehr schwierige Frage. Aber
sein Endspiel mit Turm und Läufer gegen Turm und Springer aus der 4.Partie
gegen Taimanow ist immer wieder lehrreich und beeindruckend.
Magnus Carlsen wird gelegentlich nachgesagt,
er spiele wie Fischer. Was denkst Du darüber?
Das ist eine sehr interessante These, die
beim ersten Eindruck recht gut passt. Magnus hat einen starken Kampfgeist,
eine gute Endspieltechnik und beginnt Komplikationen nur, wenn er sie
kontrollieren kann. Aber genauer habe ich darüber noch nicht nachgedacht.
Das sollte ich vielleicht mal in Angriff nehmen...
Du kanntest Fischer und seine Partien
natürlich schon vor der Arbeit an dem Buch. Wie hat sich Deine Einstellung
zu Fischer während des Schreibens verändert?
Mir ist noch klarer geworden, was es für eine
Leistung war, dem mächtigen sowjetischen Schachimperium die höchste Krone
abzujagen. Schachlich gesehen ist mein Respekt vor Fischer noch gestiegen,
menschlich sieht es natürlich anders aus, aber ich habe mich im Buch ja
absichtlich auf das rein schachliche beschränkt.
Hat Dich etwas in seinen Partien besonders
überrascht, musstest Du Vorurteile korrigieren oder Ansichten ändern?
Ja, ich hatte früher den Eindruck, dass
Fischer öfter opfert und mitunter auch unklare Lagen anstrebt. Mir ist nun
klarer geworden, dass er die Kontrolle doch sehr hoch gewichtete.
Garry Kasparov hat in seinem Buch über seine
Vorgänger geschrieben, Fischer sei womöglich der beste Spieler aller Zeiten.
Was denkst Du darüber?
Ich stimme dem zu - wie ich ja auch im Buch
ausführe. Das Hauptargument ist dabei nicht einmal seine herausragende
Leistung in der Zeit von 1970-1972 sondern die Wirkung, die er auf das Spiel
und die Welt hatte. Es kam während des Matches gegen Spasski in den
Hauptnachrichtensendungen und Medien der USA und Westeuropas vor und Fischer
löste in der ganzen Welt einen enormen Schachboom aus. Das Spiel war einfach
nicht mehr dasselbe.
Wenn man die rein schachliche Wirkung eines
Weltmeisters betrachtet, so ist natürlich auch Kasparov ein heißer Kandidat,
der in diesem Punkt Fischer sogar übertrifft und ja immer noch hart
schachlich arbeitet. Er ist meine Nummer 2.
Wer ist der nächste Spieler, dessen Partien
Du analysieren wirst?
Ich habe einige Lasker- und einige
Tal-Partien für Buchprojekte analysiert, aber es handelt sich jeweils
natürlich nur um eine Auswahl. Für die Analyse aller Partien scheint Fischer
in der Tat der ideale Weltmeister zu sein. Alle anderen haben unter anderem
einfach zu viele Turnierpartien für ein einziges Buch gespielt. Außerdem
kommt Fischers klarer Stil einem solchen Projekt entgegen, weil man mit
weniger Kommentaren auskommen kann.
Vielen Dank für das Gespräch!
Karsten Müller, Bobby Fischer: The Games and Career of the
American World Chess Champion, Russell Enterprises 2009, 408 Seiten,
kartoniert, 31,95€.