Garry Kasparov kehrte vergangene Woche nach 12 Jahren im Ruhestand wieder in den Ring zurück. In St. Louis bestritt er das Rapid- und Blitzturnier, wo er sich mit den besten Spielern der Welt messen konnte. Sein Ergebnis ist unterm Strich wohl als durchwachsen zu bezeichnen: im Rapidturnier erspielte Kasparov mit 4.0/9 einen Platz im Mittelfeld, im Blitz konnte er mit 9.0/18 ebenfalls nicht um den Turniersieg konkurrieren.
Garry Kasparov ist zurück im Ring
Doch die nackten Zahlen bedürfen einer Interpretation. Die spannenden Frage lautete ja nicht, ob Kasparov das Turnier gewinnt oder nicht, sondern ob der, von vielen als stärkster Schachspieler aller Zeiten bezeichnete, Weltmeister der Jahre 1985-2000 noch mithalten kann. Dafür wollen wir im folgenden Überlegungen anstellen und Beobachtungen darlegen.
Eröffnungstheoretisch auf höchstem Niveau
Vishy Anand war in den 90er Jahren einer der großen Rivalen Kasparovs. 1995 unterlag der Inder im WM-Kampf, der auf der 107. Etage der Südturms des World Trade Centers in New York ausgetragen wurde. Vor dem Turnier in St. Louis meinte Anand im Interview, er sei sich sicher, Garry würde nicht mit leeren Händen erscheinen. Und Anand sollte Recht behalten.
Kasparov scheute vor allem im Rapid keinesfalls vor theoretischen Duellen zurück. Mit Weiß forcierte er oftmals die Hauptvarianten des klassischen Nimzoinders (4.Dc2). Gleich in der ersten Runde deutete er gegen Sergey Karjakins 4...d5 seine Ambitionen an, Eröffnungsvorteil zu erspielen:
Gegen den Hauptzug 4...0-0 wählte er mit 5.a3 ebenso die Hauptvariante und entkorkte mit 9.h4!? eine verrückte Neuerung, die er gleich in drei Blitzpartien anwenden konnte.
Vishy Anand, Levon Aronian und Hikaru Nakamura bekamen das kuriose 9.h4 von Kasparov serviert.
Dieses hausgemachte Rezept Kasparovs schlug ein: in allen drei Partien kam er zu Vorteil. Insbesondere der Eröffnungsverlauf gegen Nakamura dürfte Kasparov gefallen haben. Dort konnte er nach der Provokation 11.h5-h6 den g-Bauern nach vorne preschen:
Mit Schwarz vertraute Kasparov gegen 1.e4 nahezu ausschließlich der Waffe seiner alten Tage, dem Najdorf-System. Es hatte den Anschein, als wollten sich die wenigsten auf eine Diskussion der scharfen Hauptvarianten einlassen: Anand wählte in beiden Weißpartien 3.Lb5, Caruana optierte im Blitz gar für den geschlossenen Sizilianer, den er bereits in der 3. Runde des Sinquefield Cups gegen Nepomniachtchi auf dem Brett hatte. Den offenen Sizilianer bekam Kasparov nur drei Mal aufs Brett.
Schließlich findet sich in der MegaBase 2017 genau eine Partie, in welcher Kasparov mit 6.h3 konfrontiert wurde. Zu seinen Zeiten war dieser bescheiden wirkende Zug keine wirkliche Option, heute muss er fast als Hauptvariante gelten.
Kasparov wählte in beiden Partien 6...e6. Gegen Navara stürmte Kasparov wie wild los und opferte Material, gegen Dominguez Perez wählte er einen strategischen Plan, welcher ihm einen grandiosen Sieg einbrachte - dazu später mehr...
Flexibilität
Während Kasparov mit Schwarz seinen alten Lieben Najdorf und Grünfeld-Indisch treu blieb, so wieß sein Weißrepertoire eine höhere Flexibilität auf. In 14 Weißpartien eröffnete er 7 Mal mit 1.d4, 6 Mal mit 1.e4 und einmal 1.c4. Innerhalb des 1.d4-Kosmos blieb er konstant bei den Varianten seiner Wahl, insbesondere der klassischen 4.Dc2-Variante des Nimzoinders, welche er in sechs Partien aufs Brett bekam. Spielte er 1.e4, so war das Feld weiter. Gegen Caruanas Französische Verteidung wählte er die Hauptvariante, gegen Navaras Caro Kann griff er zum aggressiven Shirov-System.
Auftakt zu einer der halsbrecherischsten Partien Kasparovs, in welcher er ...
Eine Analyse der Schlussphase dieser Partie finden Sie weiter unten, diese muss leider unter "Verpasste Chancen" verhandelt werden.
Aggression
Die Wahl des aggressiven 5.g4 gegen Navara stand keineswegs alleine dar. Mit Schwarz wie Weiß blieb Kasparov seinem Stil treu und feuerte frühstmöglich aus allen Rohren. Weitere Beispiele:
Man bekommt fast den Eindruck, Kasparov hätte sich Aronians ironische Aussage "Play h4 whenever you can" zu Herzen genommen.
Ein Hommage an die weit vergangenen romantischen Ansätze der Eröffnungsbehandlung lieferte Kasparov in der Blitzpartie gegen Karjakin:
Kasparov mit unbändiger Energie, Karjakin wirkt dagegen wie ein scheues Reh. Nach wildem Verlauf endet die Partie Remis.
Verpasste Chancen
Zu dieser Überschrift lieferte Kasparov leider einiges an Material. Der drastischste Fall ereignete sich in der oben bereits erwähnten Rapid-Partie gegen David Navara.
Auch gegen Aronian ließ Kasparov im Rapid eine gute Chance liegen:
Der spätere Sieger Levon Aronian sprang Kasparov im Endspiel von der Schippe.
Eine gute Stellung gegen Anand endet ebenso im Remis. Kasparov kann seine Unzufriedenheit nicht verbergen.
Zeitnot
Die fehlende Praxis machte sich vor allem beim Zeitmanagement Kasparovs bemerkbar. In nahezu jeder Rapid-Partie lag er auf der Uhr im Hintertreffen. In der ersten Runde investierte er ausgangs der Eröffnung gar 11 Minuten für einen relativ unkomplizierten Zug.
Häufige Zeitnot war der Grund, dass Kasparov in vielen Partien unter Druck geriet. Die Konstellation, dass der Ex-Weltmeister sich mit wenigen Minuten auf der Uhr durch die Mittelspiele navigieren musste, während seine Gegner oftmals noch deutlich über 10 Minuten Reserve hatten, war an der Tagesordnung.
Die tickende Uhr war der beständige Feind Kasparovs.
Das Meisterstück
Seine wohl beste Partie gelang Kasparov in der vorletzten Runde gegen Lenier Dominguez. In einer Najdorfvariante wählte er früh eine Blockadestrategie der schwarzen Felder, die letztlich von vollem Erfolg gekrönt war. Klar, eine Blitzpartie ist niemals fehlerfrei, doch es ist schön anzusehen, wie die Dominanz der schwarzen Figuren mehr und mehr zunimmt.
Alle Partien Kasparovs:
Fotos: Lennart Ootes (Grand Chess Tour)
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