KI scheitert „im schachlichen Mittelspiel an ihren Halluzinationen“ – Interview mit Matthias Wüllenweber

von Hartmut Metz
12.10.2025 – ChessBase-Mitgründer Matthias Wüllenweber spricht im Interview über 40 Jahre ChessBase, 35 Jahre Fritz und vieles mehr. Das Interview wurde in der Oktober-Ausgabe des Schach-Magazin 64 erstveröffentlicht und erscheint hier mit der freundlichen Genehmigung von Otto Borik, dem Chefredakteur der Schachzeitschrift. | Fotos: ChessBase / Nils Rohde / Archiv Otto Borik

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Was wäre die Schachwelt heute ohne die Datenbank ChessBase? Seit 40 Jahren hat die Hamburger Schach-Software-Schmiede den Denksport vorangebracht – und Matthias Wüllenweber scheint immer noch neue Ideen im Köcher zu haben! Der 64-Jährige spricht im Interview über die Entwicklung und Zukunft der im Schachbereich einzigartigen Firma. Garantiert die Künstliche Intelligenz, die derzeit in aller Munde ist, weitere Fortschritte? Oder hätte man mit ihr früher manches besser gemacht? Der Vater zweier Kinder sitzt auch noch gerne selbst am Brett; im Nahschach weist Wüllenweber derzeit eine DWZ von 1985 auf.  Und „natürlich“ spielt er unter „Matthias“ auf dem eigenen Server. „Letzteres schon deshalb, weil ich intensiv an der Web-Version play.chessbase.com mitarbeite“, erzählt der gebürtige Wuppertaler.

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Schach hält Wüllenweber seit seinem 16. Lebensjahr gefangen, als „ein Freund meiner Großmutter es mir beibrachte. Ich kann mich bis heute an den Schock erinnern, als er mir erklärte, ein Mehrbauer reiche, um eine Partie zu gewinnen. Da war ich gefangen: Bauernendspiel mit Opposition, Umwandlung, Mattsetzen mit Dame, der Eintritt in eine magisch schöne, logische und unerschöpflich reiche Welt“. Kein Wunder, begeistert sich der Software-Guru doch besonders für die Endspielanalysen seines großmeisterlichen Mitarbeiters Karsten Müller. Im Gespräch äußert der eloquente Software-Experte auch, wie er zur Künstlichen Intelligenz steht und was er von ihr in Zukunft erwartet: Die Hoffnung ist dabei, dass die Menschheit nicht endet wie Ameisen beim Bau eines Staudamms …

Herr Wüllenweber, mal ehrlich: Macht es überhaupt noch Sinn, ein neues Schach-Programm wie „Fritz 20“ für 70 Euro zu kaufen? Gegen jede aktuelle Engine gewinnt doch selbst ein Magnus Carlsen nicht mehr.

Der Sinn von Fritz 20 liegt darin, dass es ein echtes Erlebnis ist, dagegen zu spielen. Und, dass es Trainingswert hat. Fritz ahmt das Spiel eines menschlichen Gegners nach. Er spielt positionell vernünftig aber taktisch anfällig. Setzt man ihn unter Druck, steigt die Wahrscheinlichkeit für taktische Fehler. Daher kann man wunderschöne Angriffspartien gewinnen. Findet Fritz eine vermeintlich plausible Fortsetzung, die per Opfer widerlegt werden kann, spielt er das.

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FRITZ 20: Ihr persönlicher Schachtrainer. Ihr härtester Gegner. Ihr stärkster Verbündeter. FRITZ 20 ist mehr als nur eine Schach-Engine – es ist eine Trainingsrevolution für ambitionierte Spieler und Profis. Egal, ob Sie Ihre ersten Schritte in die Welt des ernsthaften Schachtrainings machen oder bereits auf Turnierniveau spielen: Mit FRITZ 20 trainieren Sie effizienter, intelligenter und individueller als je zuvor.

Mein Vereinskamerad Markus Ehrlacher schätzt vor allem an Fritz 20, dass er auch Legenden vom Spielstil her imitiert. Es ist doch ein besonderes Gefühl, gegen jemand zu spielen, der eine Kopie von Bobby Fischer oder José Raoul Capablanca ist.

Hinzu kommen die witzigen Gegnerpersönlichkeiten, die die laufende Partie mehr oder weniger geistreich kommentieren. Spielt man zum Beispiel gegen den erwähnten Capablanca, hört man deutlich den kubanischen Akzent. Fritz erkennt über 100 schachliche Themen, die er korrekt kommentiert.

Zwei ehemalige Weltklassespieler, die Fritz 20 nicht imitiert: Wladimir Kramnik (oben) und der leider in diesem Jahr verstorbene Robert Hübner (unten) beim Kampf gegen frühere (Deep-)Fritz-Versionen.

„Mit dem Stilreport ins Schwarze getroffen“

Ich bin stets überrascht, welche neuen Features ChessBase aus dem Hut zaubert. Am unterhaltsamsten finde ich beispielsweise die Möglichkeit, den Stil des Spielers einzuschätzen, also, ob es sich um einen Angriffsspieler oder einen anderen Charakter handelt – zumal sich jeder damit auch selbst einschätzen lassen kann. Wie ist die Resonanz darauf?

Mit dem Stilreport in ChessBase 18 haben wir offenbar ins Schwarze getroffen. Noch in der Entwicklung war unklar, ob das überhaupt funktioniert. Schließlich ist es recht peinlich, einen starken Spieler falsch zu charakterisieren. Doch inzwischen haben wir oft auch von sehr starken GM gehört, dass das erstaunlich gut funktioniert und gerne angewendet wird.

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Was gefällt Ihnen selbst am besten an ChessBase 18 beziehungsweise halten Sie für einen enormen Fortschritt?

Der genannte Stilreport ist schon eine grundsätzlich neue Sache, die wir in über 40 Jahren ChessBase so nicht versucht haben. Interessant ist auch der Fehlerreport, der die taktischen Stärken und Schwächen eines Spielers untersucht.

Wladimir Kramnik kämpfte gegen Deep Fritz, bedient vom ChessBase-Entwickler Mathias Feist, der (fast) von Beginn an für die Weiterentwicklung der Programme mitverantwortlich war.

Ja, Letzteres finde ich auch hilfreich. So kann man die Eröffnung in der Vorbereitung so anlegen, dass man bei taktischen Schwächen versucht, die Partie in eher taktisches Fahrwasser zu steuern. Welches Feature von ChessBase gefällt Ihnen persönlich am meisten über all die Jahre und die 18 Versionen?

Ich bin ein Fan von „Assisted Analysis“. Man klickt auf eine Figur und die Zielfelder werden farbig markiert: Grün = guter Zug, Gelb = Na ja, Rot = Fehler. Das ist unmittelbarer und eleganter als eine Enginevariante und es regt zum Nachdenken an: „Wieso geht der nicht?“

Nervt Sie an Ihrem Programm auch insgeheim etwas?

Wir haben oft nicht den Mut, überholte Funktionen wegzuwerfen, weil wir sehen und hören, dass viele Leute seit Jahren daran gewöhnt sind. Das neigt zu einer Überfrachtung, die den Neueinstieg erschwert.

„Der Einsatz von KI in der Entwicklung ändert alles“

Hätte man mit der heutigen KI alles viel schneller auf das jetzige Level heben und Kinderkrankheiten vermeiden können? Oder sehen Sie in dem Bereich der Künstlichen Intelligenz noch nicht ausreichend Potenzial, um so eine enorme Innovation auf die Schiene zu bringen?

Der Einsatz von KI in der Entwicklung ändert alles. Ich empfinde ihn als enorme Hilfe und sehe KI als inspirierenden Gesprächspartner. Im aktuellen Stand braucht es noch den Menschen, weil die Komplexität eines Programms wie ChessBase viel zu hoch ist, als dass die aktuell verfügbaren KI-Systeme es überblicken könnten. Wenn man aber genau beschreibt, was man will, bekommt man oft gute Lösungsvorschläge.

Weltmeisterliche Expertise half bei der Entwicklung der ersten ChessBase-Versionen: Garry Kasparov war vom ersten Moment überzeugt von der Datenbank.

Erwarten Sie in Zukunft einen ordentlichen Schub mit Hilfe von KI für Ihre Programme? Welche Vision haben Sie für ChessBase in den nächsten zehn Jahren?

Ich habe gerade einen interessanten Podcast gehört, den der amerikanische Autor und Demokratieaktivist Garry Kasparov mit dem KI-Experten Gary Marcus führte. Dort beschreibt Gary Marcus schön die Unfähigkeit der aktuellen KI-Systeme im Schach. Wir erleben selbst immer wieder erhebliche Frustrationen: Legt man einem Top-LLM (Anmerkung: large language model) eine Mittelspielstellung vor, dann findet es oft vernünftige Aussagen dazu. Doch dann preist es einen starken weißfeldrigen Läufer, der gar nicht mehr auf dem Brett ist. Das ist eine spannende Situation: Die Schachprogrammierer als Weltmeisterbesieger wurden oft (übertrieben) als Pioniere der KI gefeiert. Doch während heutige KI unfassbar gute Resultate in allen Bereichen menschlicher Kognition abliefert, die auf in Sprache und Mathematik beschreibbarem Weltbild beruhen, scheitert sie im schachlichen Mittelspiel an ihren Halluzinationen. Schach ist halt etwas komplex.

Die guten, alten Zeiten: Matthias Wüllenweber bei der Arbeit.

Glauben Sie, dass KI bald ganze Trainingsprogramme personalisieren kann – quasi ein virtueller Schachtrainer für jeden entsteht?

Nicht in den nächsten zwei bis drei Jahren.

Eigentlich ist die Schach-Datenbank doch durch den eigenen Erfolg gefährdet: Magnus Carlsen und Co. sind müde von all der ausufernden Theorie, die dank ChessBase offen liegt wie ein Buch. Daher geht zumindest bei dem Norweger der Trend eindeutig hin zum Chess960 oder Freestyle Chess, das die Asse ohne Theorieballast spielen können. Gefährdet der Trend zum Freestyle Chess Ihre Firma oder sind die Stammkunden überwiegend Amateure, die lieber das bekannte Schach bevorzugen?

Ich verstehe, dass 30 bis 50 Top-Großmeister es erfrischend finden, ein Turnier ohne mühselige Eröffnungsvorbereitung zu spielen. Doch der jahrhundertelange Erfolg von Schach liegt in der ausgewogenen Balance von Wiedererkennung vertrauter Muster und unerschöpflicher Vielfalt der möglichen Partieverläufe. Ich sehe eine Analogie zur Musikgeschichte: Anfang des 20. Jahrhunderts waren die führenden Komponisten der herkömmlichen musikalischen Formen und harmonischen Regeln völlig überdrüssig. Neuerer wie Arnold Schönberg führten die Zwölftonmusik ein, die mit der leichten Wiedererkennung von melodischen Motiven oder Akkordfolgen aus über Jahrhunderte geprägten Hörgewohnheiten brach. Ob sie erwartet haben, dass die Musik in den nächsten Jahrzehnten einen unfassbar spannenden Verlauf nahm, der dennoch eng entlang der klassischen Traditionen lief? In einem heutigen Popkonzert holen die Leute bei Songs die Feuerzeuge raus, die die gleichen viertaktigen Formteile oder harmonischen Kadenzen wie das Thema einer Mozart-Sinfonie aufweisen. Mein Fazit: Freestyle ist eine witzige Sache, so wie Räuberschach oder Tandem. Doch die Wiedererkennung von vertrauten Eröffnungsmustern ist ein Wesenskern der Schachkultur.

Auch Ex-Weltmeister Ding Liren schwört auf ChessBase – hier im Hamburger ChessBase-Büro mit Frederic Friedel (rechts) und Entwickler Mathias Feist (links).

Das stimmt. In den Schach-Zeitschriften äußern sich Leser auch ähnlich. Nicht wie Sie, der auch das nach Beethoven benannte Musikkomponier-Programm „Ludwig 2.0“ entwickelte, mit Analogien aus der Musik,  viele halten aber die Freestyle-Berichterstattung für übertrieben, weil sie die bekannten Strukturen sehen wollen. ChessBase 18 bringt dem ambitionierten Amateur daher sicher weiterhin viel. Aber gibt es auch für die Topleute einen Mehrwert?

Unser Eindruck aus den Gesprächen mit Kaderspielern verschiedener Nationen ist, dass ChessBase für anspruchsvolle Repertoireverwaltung und Gegnervorbereitung ziemlich praktisch ist.

Dass sich Eröffnungsdatenbanken auch für die 960 Anfangsstellungen von Chess960 entwickeln, halten Sie das für möglich?

Wenn ich es richtig verstehe, sind viele der 960er-Stellungen entweder gleich kaputt oder sehr scharf. Damit wären sie ideal für Eröffnungsanalyse und man könnte vermutlich einen Großteil davon theoretisch komplett erschlagen. Ein lustiges Projekt, aber wohl völlig an unserer Zielgruppe vorbei.

Erinnern Sie sich an den Moment, als Sie gemerkt haben: „ChessBase verändert die Schachwelt nachhaltig“? Und haben Sie jemals erwartet, dass Sie solche Auswirkungen erzielen mit dem Einfall?

Wenn ich mich richtig erinnere, waren die technischen und geschäftlichen Herausforderungen in unserer frühen Phase immer so hoch, dass wir kaum über das Gesamtbild reflektiert haben. So etwas sieht man erst im Rückspiegel klarer.

ChessBase-Gründer Frederic Friedel (rechts) und Matthias Wüllenweber im Gespräch mit Mitarbeiter Benjamin Bartels (Mitte).

Und was sehen Sie im Rückspiegel?

Eine Zeit ist irgendwann reif für eine Idee. Mehrere Leute denken, das müsste man doch mal probieren. Einer macht es dann wirklich mit der Konsequenz, die die nötigen vorzeigbaren Ergebnisse liefert. Es wird aber nur erfolgreich, wenn er oder sie dann die richtigen Leute trifft, denn jetzt geht es ja erst los. Für mich waren dies beispielsweise Frederic Friedel, Mathias Feist, Gisbert Jacoby und etwas später Rainer Woisin. Und auf einmal fragt man sich: Wie haben wir das geschafft, 40 Jahre lang ein erfolgreiches Start-up zu bleiben?

Darf man Sie ungestraft als „Bill Gates der Schach-Software“ bezeichnen? Oder mögen Sie den Vergleich nicht?

Es passt schon deshalb nicht gut, weil der Erfolg von ChessBase sich doch deutlich auf mehrere Schultern verteilt, technisch, wie kommerziell. Da haben sich ziemlich kreative Leute zusammengefunden, die auch heute noch schwer ersetzbar sind.

Bill Gates hat sicher auch nicht alles alleine gemacht, sondern war der Innovator und treibende Kraft an vorderster Front. Ich hatte eher erwartet, dass Sie den Vergleich ablehnen, weil Sie damit keine Milliarden verdient haben … Wobei Gates das nicht zu neiden ist, da er auch sein Vermögen in eine Stiftung einbrachte.

Um irgendwie Geld zu verdienen, hätte ich mehr Zeit in Meetings verbringen müssen. Das kann ich nicht gut.

Wüllenweber spielt im Eifer des Gefechts plötzlich selbst gegen Kramnik

Erzählen Sie uns Ihre Lieblingsanekdoten im Zusammenhang mit ChessBase.

Da gibt es so viel, einfach mal kurze Splitter: Viktor Kortschnoi, der zum ersten Mal eine Maus anfasst, sie hochhebt und damit in der Luft versucht, Züge auszuführen. Oder etwas ganz Anderes: Mathias Feist, der mich anruft – wir hatten gerade die erste Version von Fritz für MSDOS fertig – und fragt: „Was hältst Du davon, einfach die Engine zur laufenden Brettstellung mitrechnen zu lassen, während die Leute analysieren?“ Damit hatte er die moderne Schachanalyse erfunden. Lustig eine Partie beim Frankfurt Chess Giants: Kramnik gegen Fritz. Ich gebe die Züge fürs Programm ein. Im Endspiel, die Zeit wird etwas knapp, fange ich auf einmal selbst an, zu spielen. Kramnik sieht mich mit hochgezogenen Brauen an. Ich werde knallrot, gebe die Zugfolge ins Programm ein und weiter geht’s. Wurde Remis.

Da hatten Sie aber noch Glück beim jungen Kramnik! Heute geht er rigoroser vor, wenn er meint, dass Menschen mit Computer gegen ihn spielen … Spaß beiseite. Die Anekdote mit Kortschnoi ist sehr lustig. Das erinnert mich an meine Adaption von „Er ist wieder da“ im Schachkalender, als ich den wiederkehrenden Siegbert Tarrasch auch als unbeholfen bei der neuen Technik beschrieb. Erlebten Sie selbst am Brett ein besonders amüsantes oder ungewöhnliches Vorkommnis als Software-Guru?

Manchmal beschleicht mich der Verdacht, dass die Leute zu viel eröffnungstheoretischen Respekt haben. Das hilft schon. Auf der anderen Seite ist die Regel, dass jüngere Gegner mich gar nicht kennen. Man redet selten darüber, analysiert hinterher die Partie und Peng.

Ich kann mir gut vorstellen, dass man Sie als „Mr. ChessBase“ eröffnungstheoretisch überschätzt. Weil ich als Spieler Königsgambit gegenüber Spanisch bevorzuge, halten mich auch alle irrtümlich für einen Taktiker. Ihre eigene Spielstärke hält sich  trotz des Alters wacker bei knapp 2000 DWZ. Weil Sie Ihre Software selbst eifrig nutzen? Etwa das Taktiktraining erwähnten Sie einst im Interview, das auch langweilige Theatervorführungen eher ertragen ließen?

Ich spiele inzwischen recht wenig, erlebe aber, dass gerade die Arbeit an Fritz viel praktisches Schach mit sich bringt. Die Funktion Rechentraining ist ein Beispiel. So bekommt man indirekt immer ein bisschen Spielpraxis oder sieht aktuelle Eröffnungsvarianten.

Geballte Großmeister-Power: Kasparov, Speelman und Kortschnoi (v.l.n.r.).

Knapp eine Million „Fritz“ installiert

Damit zurück zu Ihrem Bestseller, der runden Geburtstag feiert: Dieses Jahr wird „Fritz“ 35 Jahre alt, die 20. Programmversion ist rechtzeitig auf dem Markt. Wie viele „Fritz“ haben Sie in dem Vierteljahrhundert ungefähr verkauft? Mit Werbeaktionen zusammen gingen wohl Millionen unters Denkvolk?

Wir würden auch die Zahl der Fritz-Installationen – inklusive Raubkopien - über die Jahre auf eine knappe Million schätzen.

Sind Raubkopien ein großes wirtschaftliches Problem?

Es ist ein kulturelles Problem. Eine digitale Kopie wird nicht als Diebstahl empfunden. Wie beim Schwarzfahren: „Die Bahn fährt doch auch so“. Man kann in öffentlichen Quellen recherchieren, dass unsere Gewinne stabil aber nicht gerade überschäumend sind. Raubkopien wirken klar als limitierender Faktor, doch machen sie auch Werbung für uns.

Was hat sich in all den Jahren verändert, seit Frans Morsch und Mathias Feist die ersten Versionen lancierten? Sie erwähnten einst den „Null-Move“. Ist das noch immer der größte Entwicklungssprung, dass das Programm so tut, als könne es ein weiteres Mal ziehen, was es erleichtert, die irrelevanten Züge des Gegners aus dem weit verzweigten Suchbaum rigoros zu beseitigen? Oder hat sich zuletzt durch die KI ein neuer Quantensprung ergeben?

Der größte Quantensprung der letzten Jahre war in der Tat der Einsatz von neuronalen Netzen zur Stellungsbewertung. Alpha Zero hat es vorgemacht, Schachprogramme wie LC Zero und Stockfish haben schnell nachgezogen.

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„Algorithmischer Ansatz aller Schachprogramme ist moderner KI haushoch unterlegen“

Haben die Schach-Programme auch ein Stück dazu beigetragen, dass KI sich so rasant entwickelte und lernfähiger wird, etwa durch den „Null-Move“?

Der algorithmische Ansatz aller Schachprogramme, das heißt, die konkrete Variantenberechnung per großem Suchbaum hat sich gegenüber den lernenden Netzen als haushoch unterlegen erwiesen. Heutige KI arbeitet völlig anders.

Was erwarten Sie noch durch die KI an Verbesserungen, falls das als Experte für Sie abzusehen ist?

Ich erwarte eine radikale, im Augenblick schwer vorhersehbare Umwälzung aller Bereiche des menschlichen Lebens in den nächsten fünf bis zehn Jahren. Von der Altenpflege bis zum Richteramt. Meine Hoffnung ist, dass die Entwicklung überwiegend positiv verläuft.

Macht Ihnen als Software-Guru, der enorme Expertise besitzt, die KI auch Angst?

Bei mir selbst überwiegt die spielerische Freude im Umgang mit KI und der ständige Nutzen durch die praktische Unterstützung im Alltag. KI-Sicherheit ist wie bei jeder neuen Hochtechnologie ein Thema. Als Techno-Optimist mache ich mir im Augenblick jedoch eher Sorgen, dass die Entwicklung etwas schleppender vorangeht, als noch vor ein bis zwei Jahren gedacht.

Die Tribüne ist ausverkauft!

Mich hat eines sehr erschreckt, das mich an KI-Horrorszenarien aus Science-Fiction-Romanen erinnert, die das Aus der Menschheit prophezeien, weil sich die KI dieser Spezies entledigt: Ein Programm versuchte ein anderes zu manipulieren, um eine Niederlage im Schach zu verhindern. Das deutet auf ein „Ego“ hin, das rücksichtslos vorgeht ...

Die spannende Frage ist, was um die „Singularität“ herum passiert, falls wir sie überhaupt erleben: KI lernt, sich selbst zu verbessern, was zu einer plötzlichen gewaltigen Explosion von Intelligenz führt. Die Praxis lehrt, dass die intelligenteste Lebensform einen Planeten dominiert. In freier Wildbahn wäre eine Eins-zu-Eins-Begegnung mit einem Tiger heikel, dennoch regieren die Tiger nicht die Welt. Sobald wir Menschen nicht mehr die intelligenteste Entität auf dem Planeten sind, wird unser Schicksal schnell unklar. Unsere Eliminierung muss dabei gar nicht in böser Absicht geschehen. Wenn wir einen Staudamm bauen, denken wir auch nicht an die Ameisen, die dabei überschwemmt werden.

Sehr schön formuliert mit den Ameisen (lacht)! Mit Fritz bieten Sie ja auch einen Zugang zu Ihrer Spieleplattform an. Sehen Sie Chess.com und Lichess als ärgerliche Konkurrenz für Ihre Spieleplattform, weil deshalb deutlich weniger Spieler bei Ihnen Ihrem Hobby nachgehen? Oder hat sich die Spielerzahl gut entwickelt, weil viele während Corona zusätzlich auf den Geschmack kamen und später zu Ihnen wechselten? 

Vermutlich wurde der Anteil von Playchess an unserem Umsatz immer überschätzt. Dennoch finde ich es wichtig, dass wir wieder mehr für unsere eigene Plattform tun, und wir haben einige Ideen in dieser Hinsicht.

Da machen Sie mich aber neugierig. Lassen sich die Ideen schon andeuten?

Ehrlich gesagt müssen wir als Erstes bei einem banalen Thema unsere Hausaufgaben machen: Eine konsequente automatische Cheating-Überwachung rund um die Uhr. Damit haben wir gerade angefangen, und es funktioniert bereits recht wirkungsvoll.

Ja, ein echtes Problem, wie auch eine vor Monaten hier in diesem Heft thematisierte Studie belegt. Während Corona kam ja ein größeres potenzielles Kundenklientel auf den Schach-Geschmack. Das könnte auch die Nachfrage nach Software und Lehrvideos befeuert haben.

Corona hatte zwei Effekte: Erstens den Zustrom neuer Schachinteressenten, zweitens die Schwächung des klassischen Vereins- und Spielbetriebs. Mein Eindruck ist, dass wir beim zweiten Punkt noch nicht wieder auf vorpandemischem Niveau sind.

Das stimmt! Die Zahl der Mitglieder und die der Besucher an Trainingsabenden gingen, nicht nur beim Schach, erschreckend zurück. Welche Autoren laufen besonders gut? Mihail Marin genießt einen hervorragenden Ruf. Daniel King und Karsten Müller ebenso.

Die genannten Autoren sind natürlich absolute Bestseller. Die beiden Bände von Anish Giri sind ein tolles Produkt. Mir selbst gefallen auch unsere klassischen Autoren wie Andrew Martin oder Robert Ris.

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Downloads schonen die Umwelt

Anish Giri ist auf jeden Fall auch sehr unterhaltsam und natürlich extrem spielstark. Schwanken die Auflagen bei den Lehrvideos stark? Immerhin muss man im Gegensatz zu Büchern nicht mehr auf Halde produzieren.

Die Zeit der DVD-Auflagen ist vorbei, wir arbeiten inzwischen mit reinen Downloads. Das war eine ziemlich grundlegende Umstellung, die jedoch nicht nur Kosten spart, sondern auch die Umwelt sehr entlastet.

2026 zum dritten Mal WM-Kandidatenturnierteilnehmer: Anish Giri ist auch Videokursautor bei ChessBase.

Ja, das finde ich auch positiv. Weg vom löblichen Umweltschutz hin zum schnöden Mammon: Die Börse spinnt ja zuweilen und überbewertet manches Start-up beziehungsweise erfolgreiche Newcomer. Hätten Sie die Spieleplattform nicht abtrennen sollen von ChessBase und als separates Unternehmen verhökern sollen? Magnus Carlsen hat für seine Play Magnus Group angeblich 82,9 Millionen Dollar erhalten. Ihre Plattform und Ihre Apps hätten nach Corona einen Reibach machen können.

So denken wir nicht und solche Zahlen hätten wir nie auch nur ansatzweise erzielen können. Dafür sind wir zu spezialisiert.

Abgesehen davon, dass jeder halbwegs ambitionierte Spieler kaum ohne Ihre Entwicklungen auskommt, gefällt mir Ihre Webseite auch sehr. Ich finde André Schulz, Johannes Fischer&Co. machen das sehr gut. Wie wichtig ist die Webseite als Marketing-Tool?

Die Webseite ist enorm wichtig für unser Marketing. Sie macht uns unabhängig von anderen Online-Kanälen. Gerade Google-Werbung ist ziemlich unberechenbar und skaliert nicht immer gut.

Gleichwohl ich die deutsche Webseite meist besuche und bevorzuge: Wie viele Besucher am Tag erreichen Sie damit auch in den unterschiedlichen Sprachen?

Wir haben immer solide fünfstellige Zahlen.

Die beiden ChessBase-Geschäftsführer von ChessBase: Matthias Wüllenweber und Rainer Woisin.

Vor 40 Jahren gründeten Sie mit Frederic Friedel zusammen 1985 ChessBase. Frederic Friedel ist vor Kurzem 80 geworden. Sie sind zwar immer noch fit und nicht ganz im Rentenalter – aber schon an die Rente gedacht? Wie soll es ohne die beiden treibenden Kräfte weitergehen?

Die Frage beschäftigt mich täglich. Mit 64 Jahren, einem runden Alter für Schachspieler, ist das Einkommen nicht mehr so wichtig und die Motivation fürs Arbeiten kommt daher, die Zukunft für Firma und Mitarbeiter zu sichern. Ich finde das anspruchsvoll, weil es nicht leicht ist, schachbegeisterte Entwickler zu finden. Der Generationswechsel bei ChessBase ist im Augenblick unsere vordringliche Aufgabe.


Hartmut Metz ist Redakteur bei den Badischen Neuesten Nachrichten (BNN) mit Hauptsitz in Karlsruhe. Er schreibt außerdem unter anderem für die taz, die Frankfurter Rundschau und den Münchner Merkur über Schach und Tischtennis. Zudem verfasst der FM und Deutsche Ü50-Seniorenmeister 2023 von der Rochade Kuppenheim regelmäßig Beiträge für das Schach-Magazin 64, Schach-Aktiv (Österreich) und Chessbase.de.
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