Kieseritzkys "unsterbliche Partie"

von Stephan Oliver Platz
19.07.2021 – Adolf Anderssens "unsterbliche Partie", 1851 in London gespielt, ging in die Schachgeschichte ein. Aber auch sein damals unterlegener Gegner Lionel Kieseritzky hat eine "unsterbliche Partie" gespielt. Stephan Oliver Platz hat diese gefunden und untersucht ausführlich Kieseritzkys Beitrag zum Königsgambit.

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Kieseritzkys Unsterbliche

Anlässlich des 150. Jahrestages der „Unsterblichen Partie“ zwischen Adolph Anderssen und Lionel Kieseritzky veröffentlichte Dagobert Kohlmeyer einen interessanten Artikel auf ChessBase, in welchem er zu Recht darauf hinwies, dass Sieger immer bewundert werden, während man sich für die Verlierer weniger interessiert. Aber das muss ja nicht so bleiben! Deshalb habe ich mir Kieseritzky's Partien einmal näher angesehen und tatsächlich einige wahre Perlen darunter entdeckt. In diesem Artikel möchte ich mich daher der Frage widmen: Wie spielte Lionel Kieseritzky Schach und was ist sein Vermächtnis für die Schachwelt?

Vom Mathelehrer zum Mittelpunkt des Café de la Régence

Lionel Kieseritzky wurde am 1. Januar 1806  in Dorpat (Livland, heute zu Estland gehörend) geboren und starb am 18. Mai 1853 in Paris. Er war deutsch-baltischer Herkunft und gehörte damit zu der in Estland und Lettland lebenden deutschsprachigen Minderheit. Dorpat, das heute Tartu heißt, gehörte damals zum Russischen Kaiserreich und hatte eine deutschsprachige Universität, an der auch Kieseritzky von 1825 bis 1829 Philologie und Jura studierte. Er verließ die Universität ohne Abschluss und arbeitete stattdessen als Mathematiklehrer. Das Schachspielen soll Kieseritzky schon als Kind von seinem Vater und seinem Bruder Felix gelernt haben. Leider liegen uns aus jener Zeit kaum Partien von ihm vor.

1839 siedelt Kieseritzky nach Paris über. Damit kommt Schwung, aber auch ein großes Stück Unsicherheit in sein Leben. Die achte Auflage des Bilguer (1916) berichtet dazu in der von O. Koch verfassten Abhandlung „Das Schachspiel der neuen und neuesten Zeit“ folgendes: „Er verließ, weil die häuslichen Verhältnisse unleidlich für ihn wurden, Livland, kam im Jahre 1839 nach Paris, um dort ein Unterkommen als Lehrer der Mathematik und des Schachspiels zu finden und wurde bald der Mittelpunkt des Café de la Régence.“ (a)

Dieses Café war damals neben dem Londoner „Simpson's-in-the-strand“ der exklusivste Treffpunkt für europäische Schachspieler. Von der Tatsache, dass der Neuling Kieseritzky schnell zum Mittelpunkt des Café de la Régence avancierte, können wir schlussfolgern, dass er für damalige Verhältnisse entweder besonders stark gewesen sein oder zumindest für das Publikum sehr attraktives Schach gespielt haben muss. Wir werden das nachher noch anhand von einigen seiner Partien klar erkennen.

Ein „genialer Meister“ und „hervorragender Theoretiker“

Das „Lehrbuch des Schachspiels“ von Jean Dufresne, 7. Auflage, Leipzig 1901, charakterisiert Kieseritzky folgendermaßen: „Älterer genialer livländischer Meister, hervorragender Theoretiker, lebte in Paris, Mitkämpfer im Londoner Turnier 1851. Erfinder der nach ihm benannten Spielweise im Königsgambit.“ (S. 531) Das zeigt, dass man damals eine hohe Meinung von ihm hatte. Wenn dem so ist, dann sollten doch auch einige geniale Partien von ihm zu finden sein.

Ein Blick in die Mega Database

Ein unerlässliches Hilfsmittel für alle schachhistorisch Interessierten stellt die Mega Database von ChessBase dar. Wer dort den Suchbegriff „Kieseritzky“ eingibt, findet innerhalb weniger Sekunden 92 von ihm gespielte Partien. In 43 Fällen führte er die weißen Steine und gewann 26-mal bei 13 Niederlagen und 4 Remisen. Mit den schwarzen Steinen war er fast ebenso erfolgreich, denn von insgesamt 49 Partien gewann er 27 und verlor nur 16, während 6 remis ausgingen. Da bei weitem nicht alle von Kieseritzky gespielten Partien aufgezeichnet und veröffentlicht wurden, müssen solche Zahlen natürlich mit der notwendigen Vorsicht betrachtet werden. Trotzdem vermitteln die vorliegenden Partien einen guten Einblick in die Art und Weise, wie Kieseritzky Schach spielte. Wir sehen uns nachher noch einige bemerkenswerte Beispiele an.

Welche Eröffnungen bevorzugte Kieseritzky?

Auch diese Frage lässt sich mit Hilfe der Mega Database leicht beantworten. Man braucht dazu nur das Spielerlexikon aufzurufen, Kieseritzky suchen, Mausklick rechts, dann auf „Gegen Weiß vorbereiten“ und „Gegen Schwarz vorbereiten“. Im Handumdrehen hat man alle Informationen, die man braucht und kann das Eröffnungsrepertoire des Spielers gut ablesen. (Mit der Big Database geht das alles übrigens auch. Sie enthält dieselben Partien, nur ohne Anmerkungen.)

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Bei Kieseritzky zeigt sich nun, dass er im Anzuge am liebsten mit 1.e2-e4 eröffnete, was seine Gegner meist mit 1. ... e7-e5 beantworteten. Seine Lieblingseröffnung ist das Königsgambit 2.f2-f4, welches er nach der Annahme stets mit 3.Sg1-f3 fortsetzt. Das Königsläuferspiel 2.Lf1-c4 sieht man bei Kieseritzky ebenfalls, wenn auch nur etwa halb so oft wie das Königsgambit. Seltener spielt er die Italienische Partie und das Schottische Gambit. Gegen Sizilianisch 1.e2-e4 c7-c5 baut er sich entweder mit 2.b2-b3 und 3.Lc1-b2 oder mit 2.Lf1-c4 und 3.Sb1-c3 auf. Ein offener Sizilianer mit 2.Sg1-f3 und 3.d2-d4 geht bald in eine Variante des Morra-Gambits über, da Kieseritzky nach c5xd4 nicht wiedernimmt, sondern den Bauern mit Lf1-c4 und c2-c3 endgültig opfert. Gegen Französisch 1.e2-e4 e7-e6 greift Kieseritzky meist zur Abtauschvariante 2.d2-d4 d7-d5 3.e4xd5 e6xd5 und nun 4.c2-c4, wonach eine dem Damengambit ähnliche Stellung entsteht. Das Damengambit 1.d2-d4 d7-d5 2.c2-c4 kommt auch, aber erheblich seltener als 1.e2-e4 zur Anwendung, wobei Kieseritzky im abgelehnten Damengambit seinen Damenläufer nicht nach g5, sondern nach f4 entwickelt (2. ... e7-e6 3.Sb1-c3 Sg8-f6 4.Lc1-f4).

In den von Kieseritzky mit Schwarz gespielten Partien wurde fast ausschließlich mit 1.e2-e4 eröffnet, was er regelmäßig mit 1. ... e7-e5 beantwortet. In nur zwei Partien griff Kieseritzky stattdessen zu 1. ... c7-c5. Nach 1.e2-e4 e7-e5 2.Sg1-f3 Sb8-c6 3.Lf1-c4 zieht Kieseritzky fast immer Lf8-c5, wonach sich die üblichen Abspiele der Italienischen Partie ergeben (4.c2-c3 Sg8-f6). Das Evans-Gambit 4.b2-b4 verteidigt er nach der Annahme Lc5xb4 5.c2-c3 meist mit Lb4-d6 (statt des üblichen Lb4-a5, was auch in einer seiner Schwarz-Partien vorkommt), ein Zug, der das Zentrum stützt, aber auch den d-Bauern blockiert und den Läufer c8 einsperrt. Ansonsten finden wir auch einige andere Eröffnungen, so Schottisch und Schottisches Gambit (mit der waghalsigen Fortsetzung 4. ... Lf8-b4+), Spanisch (mit der klassischen Verteidigung 3. ... Lf8-c5, die auch Bobby Fischer einige male spielte) und die Ponziani-Eröffnung (mit der Verteidigung 3. ... Sg8-f6).

In der Russischen Partie fällt auf, dass Kieseritzky es auf die unklaren Verwicklungen nach dem riskanten 1.e2-e4 e7-e5 2.Sg1-f3 Sg8-f6 3.Sf3xe5 Sf6xe4!? 4.Dd1-e2 Dd8-e7) ankommen lässt (ein Sieg und ein Remis geben ihm Recht). Das Königsgambit 1.e2-e4 e7-e5 2.f2-f4 nimmt er an und verteidigt es nach 3.Sg1-f3 zu gleichen Teilen mit 3. ... g7-g5 und 3. ... Lf8-e7 (Cunningham-Gambit). Im Königsläufergambit (3.Lf1-c4) hat Kieseritzky eine Spezialvariante mit frühzeitigem Gegengambit b7-b5, darauf kommen wir später noch zurück. Kurios ist auch seine  Verteidigung gegen das Damengambit, welches er annimmt, um nach 3.e2-e4 mit dem fragwürdigen f7-f5?! fortzusetzen. Ein Sieg und eine Niederlage stehen damit zu Buche, denn mehr als zwei mit dem Damenbauern eröffnete Partien sind auch nicht vorhanden. Andere Eröffnungszüge spielen praktisch keine Rolle, nur je eine Partie beginnt mit 1.f2-f4 d7-d5 bzw. 1.g2-g3 e7-e5 2.Lf1-g2 d7-d5.

„Der eigensinnigste und schrulligste Spieler“

Warum ist die Banane krumm oder mit anderen Worten: Weshalb ließ sich Kieseritzky in zahlreichen Partien auf so krumme Varianten und Verteidigungen ein? Der englische Großmeister Howard Staunton, der von 1843 bis 1851 als der stärkste Spieler der Welt galt, machte sich in seinem Buch „Chess Praxis“ darüber Gedanken:

„Bei all seinem feinen Genie und seinem außerordentlichen Wissen über das Spiel war Kieseritzky der eigensinnigste und schrulligste Spieler. (...) Diese Exzentritäten sind auf eine mentale Unausgeglichenheit zurückgeführt worden. Ich bin geneigt, sie zumindest zum Teil einer anderen Ursache zuzuschreiben. Er hatte eine große Abneigung dagegen, Vorgaben zu geben, und da seine Gegner ihm zumeist sowohl an Geschicklichkeit, als auch an Buchwissen unermesslich unterlegen waren, konnte er es sich natürlich leisten, wenn er mit ihnen gleichauf spielte, eine Menge zu riskieren. Wie wichtig war der Verlust von ein paar Tempi oder von zwei oder drei Bauern für jemanden, der sich um einen Turm stärker fühlte als sein Gegner? Wahrscheinlich erwarb er auf diese Weise jene Vorliebe für überstürzte Angriffe und skurrile Verteidigungen, die seinem Spiel schadeten und sich so schrecklich gegen ihn auswirkten, wenn er es mit Männern von seinem eigenen Format zu tun bekam.“ (b)

Stauntons Einschätzung dürfte, was die Eröffnungen anbelangt, nicht auf alle von Kieseritzky bevorzugten Varianten zutreffen, denn viele Spielweisen, die den damaligen Schachmeistern skurril erschienen, sind heute gang und gäbe. So hat es z. B. Kieseritzky's 5. ... Ld6 im angenommenen Evans-Gambit bis in die Enzyklopädie der Schacheröffnungen geschafft („C51“), ebenso wie sein 2.b3 gegen Sizilianisch („B20“). In diesen beiden Fällen war er wohl eher seiner Zeit voraus. (Nebenbei: Aaron Nimzowitsch wurde auch vorgeworfen, skurril und ungesund zu eröffnen. Wie denkt man heute darüber?) Was Kieseritzky's Spielstil betrifft, so wird Staunton wohl richtig liegen. Und doch verdanken wir eben dieser Art, Schach zu spielen, viele aufregende und spannende Partien wie zum Beispiel die folgende.

Kieseritzky's Unsterbliche

Beim Nachspielen von Kieseritzky's Partien fielen mir viele verblüffende Züge und erstaunliche Opferkombinationen auf. Er kann in der Tat als ein typischer Vertreter der romantischen Schachepoche bezeichnet werden. Sehen wir uns nur einmal die folgende Partie an, die Kieseritzky am 5. Januar 1846 in Paris gegen Conrad Vitzthum von Eckstädt spielte. Ich nenne sie „Kieseritzkys Unsterbliche“:

 

Diese Partie wurde in dem von Kieseritzky herausgegebenen Buch „Cinquante Parties jouées au Cercle des Échecs et au Café de la Régence“ veröffentlicht (c)

Wettkampfsiege über Horwitz und Harrwitz

1846 gewann Kieseritzky einen Wettkampf gegen Bernhard Horwitz (1807 – 1885) mit 7:4 =1. Die Tatsache, dass von 12 Wettkampfpartien nur eine einzige remis endete, zeigt, wie kompromisslos damals gekämpft wurde. Horwitz stammte aus Deutschland und war, ehe er nach London übersiedelte, ein führendes Mitglied der Berliner Schachgesellschaft und einer der sieben „Plejaden“, einer Gruppe von Schachmeistern, zu denen auch noch Ludwig Bledow, Paul Rudolph von Bilguer, Tassilo von Heydebrand und der Lasa, Karl Mayet, Wilhelm Hanstein und Karl Schorn gehörten.

1847 spielte Kieseritzky einen Wettkampf gegen den aus Breslau stammenden und später in London, Paris und Bozen lebenden Schachmeister Daniel Harrwitz (1823 – 1884) und siegte mit 11:5 =2. Auch hier gingen nur zwei Partien remis aus, ein Ergebnis, was unter heutigen Spitzenspielern schon fast undenkbar wäre. Harrwitz war ein durchaus starker Spieler, der 1848 gegen Adolph Anderssen ein 5:5 Unentschieden erreichte und 1858 gegen Paul Morphy immerhin drei Partien gewann (bei fünf Niederlagen und einem Remis).

Kein Glück in London 1851

1851 fand in London die Weltausstellung statt, und der englische Großmeister Howard Staunton kam auf die Idee, aus diesem Anlass ein internationales Schachturnier zu veranstalten. Auch Kieseritzky als führender Spieler Frankreichs wurde dazu eingeladen. Leider sorgte ein unglückliches Reglement dafür, dass er in dem Turnier mit seinen insgesamt 16 Teilnehmern nur drei Partien spielen durfte, denn es wurde im KO-System ausgetragen, und in der ersten Runde genügten zwei Siege zum Weiterkommen (Remisen zählten nicht).

Das Schicksal wollte es, dass Kieseritzky in der Auftaktrunde ausgerechnet gegen den späteren Turniersieger Adolph Anderssen gelost wurde. Er verliert die erste Partie mit Weiß nach groben Schnitzern schnell durch Matt im 20. Zug. In der zweiten läuft es besser, und im Endspiel hätte er sich zweimal durch auf der Hand liegende Züge den Gewinn sichern können. Aber er verpasst die Chance, und die Partie endet nach dem 55. Zuge remis. In der dritten Partie bringt Kieseritzky ein unvorsichtiger Bauernzug (12.f4?) in Verlegenheit, der nach weiteren schlimmen Fehlern zu Figuren- und Partieverlust nach nur 17 Zügen führt.

Wenn man sich diese drei Partien gegen Anderssen ansieht, entsteht der Eindruck, dass Kieseritzky in dem Londoner Turnier völlig von der Rolle war. In der Form hätte er auch gegen einen anderen Gegner keine Chance gehabt.

Zahlreiche freie Partien und Anderssen's Unsterbliche

 

Offenbar nutzte Kieseritzky seinen Aufenthalt in London dazu, etliche freie Partien gegen die anwesenden Meister zu spielen. Im Internet kursiert eine Zusammenstellung, derzufolge er dabei gegen Henry Thomas Buckle, Karl Mayet, Josef Szén, Johann Jakob Löwenthal, Henry Edward Bird und sogar Adolph Anderssen siegreich gewesen sein soll. (d) Inwieweit das alles zutrifft und ob die Zahlen vertrauenswürdig sind, lässt sich nicht so leicht feststellen und bedürfte jedenfalls einer sehr aufwendigen Überprüfung. Sind wirklich alle gespielten freien Partien berücksichtigt worden? Oder basieren die angeführten Ergebnisse nur auf den bekannt gewordenen, also in Büchern und Schachzeitschriften veröffentlichten Partien? Vielleicht hat ja ein ChessBase-Leser hierzu verlässliche Informationen. In diesem Falle wäre ich um eine entsprechende Mitteilung mit Quellenangaben dankbar.

In einer dieser freien Partien gegen Kieseritzky gelang Adolph Anderssen seine „Unsterbliche“. Nachdem er alle seine Figuren bis auf zwei Springer und einen Läufer geopfert hatte, setzte er seinen Gegner, der noch alle drei Schwer- und alle vier Leichtfiguren auf dem Brett behalten hatte, im 23. Zuge spektakulär matt:

 


Kieseritzky's Lieblingsverteidigung gegen das Königsläufergambit

Damit wären wir bei einer von Kieseritzky's Lieblingsvarianten angelangt, die auf uns heutige Schachspieler befremdlich wirkt, damals aber durchaus ernstgenommen wurde. Das Königsläufergambit 1.e2-e4 e7-e5 2.f2-f4 e5xf4 3.Lf1-c4 verteidigte Kieseritzky nämlich  regelmäßig mit einem frühzeitigen b7-b5!?, meist unter Einschaltung von 3. ... Dd8-h4+ 4.Ke1-f1. Dass er mit dieser Verteidigung auch gewinnen konnte, zeigt unter anderem die folgende, unglaubliche Partie. Erneut sehen wir romantisches Wildwest in Reinkultur:

 

So schlecht ist Kieseritzky's Gegengambit also nicht, was auch die Tatsache unterstreicht, dass sowohl Adolph Anderssen, als auch der große Paul Morphy es später selbst einmal mit Schwarz spielten, Morphy sogar in drei Partien.

Das Kieseritzky-Gambit

So heißt die folgende, von Kieseritzky empfohlene Variante des Königsgambits:

1.e2-e4 e7-e5 2-f2-f4 e5xf4 3.Sg1-f3 g7-g5 4.h2-h4 g5-g4 5.Sf3-e5!

Dieser Zug ist sicherer als das damals ebenfalls sehr gebräuchliche 5.Sf5-g5!? („Allgaier-Gambit“), was Weiß nach h7-h6 zu dem Springeropfer 6.Sg5xf7 zwingt.

In der folgenden Partie verteidigt sich Schwarz gegen das Kieseritzky-Gambit mit dem damals üblichen 5. ... h7-h5, und es entwickelt sich trotz frühzeitigen Damentauschs ein flottes Spiel. Er versäumt es in der Folge allerdings, seinen Damenturm ins Spiel zu bringen (24. ... Kb7!), was Kieseritzky die Gelegenheit gibt, mit 26.Sxc5! die Weichen auf Sieg zu stellen. Das Freibauernrennen entscheidet er zu seinen Gunsten, und nach 35 Zügen geht der unglückliche schwarze Turm verloren (35. ... Kb7 36.Sa5+):

 

Kieseritzky's Gegner in den beiden obigen Partien war John William Schulten (1821 – 1875), ein deutsch-amerikanischer Schachspieler, über den wenig bekannt ist. In der Mega Database fand ich 47 von ihm gespielte Partien, zum Großteil Niederlagen gegen starke zeitgenössische Schachmeister, darunter Pierre de Saint-Amant, Bernhard Horwitz, Lionel Kieseritzky, Daniel Harrwitz, Gustav Richard Neumann, Ignaz Kolisch, Adolph Anderssen und Paul Morphy. Gegen den amerikanischen (inoffiziellen) Weltmeister soll Schulten im November 1857 in New York 24 freie Partien gespielt haben, von denen 23 verloren gingen. Aber immerhin bewies er Ausdauer und gewann sogar eine Partie gegen Morphy in nur 18 Zügen. (e)

Königsgambit Band 1

Williams analysiert zahlreiche Neuerungen und Varianten, die jedem Angriffsspieler gefallen, der nach einer interessanten Variante gegen 1...e5 sucht! 3.Lc4 führt zu ungewöhnlichen, inhaltsreichen Stellungen, in denen Schwarz unter Druck steht.

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Königsgambit Band 2

Eine der interessantesten Varianten im Königsgambit ist 3.Sf3, insbesondere die ‘Widerlegung des Königsgambits’ (Fischer) 3...g5. Außerdem werden Nebenvarianten behandelt.

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Boris Spassky und Bobby Fischer auf Kieseritzky's Spuren

Natürlich hat das Königsgambit heute bei weitem nicht mehr den Stellenwert wie zu früheren Zeiten. Man sieht es allein schon daran, dass z. B. das „Handbuch des Schachspiels“ noch 1916 in der von Großmeister Carl Schlechter überarbeiteten achten Auflage dem Königsgambit 131 von 752 Seiten widmet (17,4 %), während die letzte Ausgabe von „Modern Chess Openings“ (MCO 15) aus dem Jahre 2008 mit 15 von 739 Seiten auskommt (2 %). Dennoch wurde die nach Kieseritzky benannte Variante des Königsgambits auch in den letzten Jahrzehnten immer wieder einmal von starken Großmeistern gespielt, darunter Nigel Short, Alexei Fedorov, John Nunn und natürlich Boris Spassky, der Weltmeister von 1969 bis 1972. Man denke nur an seine Gewinnpartie gegen Bobby Fischer, die er mit dem Kieseritzky-Gambit eröffnete und nach wechselhaftem Verlauf für sich entscheiden konnte. Im 26. Zug unterläuft Fischer der entscheidende Fehler (26. ... Tf8?), wonach Spassky Gewinnstellung erlangt:

 

Diese Niederlage veranlasste Bobby Fischer dazu, nach 1.e2-e4 e7-e5 2.f2-f4 e5xf4 anstelle von 3. ... g7-g5 das vorsichtigere 3. ... d7-d6 zu empfehlen, um auf diese Weise das gefährliche Kieseritzky-Gambit zu vermeiden. Nach 4.d2-d4 g7-g5 5.h2-h4 g5-g4 darf nämlich der weiße Springer wegen des bereits auf d6 stehenden Bauern nicht mehr nach e5.

Master Class Band 1: Bobby Fischer

Kein anderer Weltmeister erreichte auch über die Schachwelt hinaus eine derartige Bekanntheit wie Bobby Fischer. Auf dieser DVD führt Ihnen ein Expertenteam die Facetten der Schachlegende vor und zeigt Ihnen u.a die Gewinntechniken des 11.Weltmeisters

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Kieseritzky's Vermächtnis

Was der Schachwelt von Kieseritzky bleibt, sind neben der nach ihm benannten Eröffnungsvariante vor allem seine Partien, von denen viele in der Mega Database von ChessBase zu finden sind, darunter seine berühmte Verlustpartie gegen Adolph Anderssen, ausführlich kommentiert von Großmeister Robert Hübner.

Wer des Französischen mächtig ist, kann sich außerdem Kieseritzky's Buch „Cinquante Parties jouées au Cercle des Échecs et au Café de la Régence“ (50 Partien, gespielt im Schachzirkel und im Café de la Régence) in digitalisierter Form kostenlos herunterladen. (f)

Von 1849 bis 1851 war Kieseritzky außerdem Herausgeber der Schachzeitung „La Régence“. Auch davon gibt es eine digitalisierte Ausgabe. (g)

Beim Nachspielen der Partien in diesen Publikationen sind allerdings einige Schwierigkeiten zu überwinden. Dazu O. Koch: „Leider huldigte Kieseritzky einer höchst unpraktischen Notation (...) Dieses eigensinnige Verfahren hat seinen Schriften den Eingang in weitere Kreise verschlossen.“ (a)

Ein Beispiel: Die Eröffnungszüge 1.e2-e4 c7-c5 2.Sg1-f3 Sb8-c6 3.d2-d4 c5xd4 würden in Kieseritzky's „lexikographischer Notation“ folgendermaßen aussehen: 1.e45 c53 2.G36 B63 3.d44 c44-d.

 

Quellen und Anmerkungen:

(a) O. Koch, „Das Schachspiel der neuen und neuesten Zeit“, abgedruckt in dem „Handbuch des Schachspiels“ von Paul Rudolph von Bilguer und Tassilo von Heydebrand und der Lasa, achte, von Carl Schlechter neubearbeitete Auflage, Berlin und Leipzig 1916, S. 102

(b) Howard Staunton, „Chess Praxis“ (London 1860), S. 175

(c) L. Kieseritzky, „Cinquante Parties jouées au Cercle des Échecs et au Café de la Régence“ (Paris 1846), S. 8

(d) http://dts-web1.it.vanderbilt.edu/~spinrajp//chessmatches.html

(e) Andere Quellen sprechen von 29 Partien, was mir wegen der ungeraden Zahl weniger wahrscheinlich vorkommt.

(f) https://archive.org/details/cinquantepartie00unkngoog

Dem „Cercle des Échecs“ gehörten 1849 laut Mitgliederliste 68 Schachspieler an, von denen Pierre de Saint-Amant und Lionel Kieseritzky die prominentesten waren. Außerdem gab es noch 10 Ehrenmitglieder: Calvi, von der Lasa, Jänisch, Laroche, Lewis, Mongredien, Petrow, Staunton, Szén und Walker.

https://www.schach-chess.com/media/deutsch/Schachgeschichte/Schachcafe/membres-cercle-des-echecs-paris-1849.jpg

(g) https://archive.org/details/bub_gb_UBRBAAAAYAAJ

 


Stephan Oliver Platz (Jahrgang 1963) ist ein leidenschaftlicher Sammler von Schachbüchern und spielt seit Jahrzehnten erfolgreich in der mittelfränkischen Bezirksliga. Der ehemalige Musiker und Kabarettist arbeitet als freier Journalist und Autor in Hilpoltstein und Berlin.

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