"Die Zeiten haben sich nicht nur in Mainz geändert": Schachorganisator Hans-Walter
Schmitt im Interview
Wenn der Vorsitzende des Chess Tigers Schach-Fördervereins und Geschäftsführer
der neu gegründeten Chess Tigers Training Center GmbH, Hans-Walter Schmitt,
über Schach spricht, glänzen seine Augen. Sei es die jährliche Chess Classic
in Mainz, das neue Chess Tigers Training Center in Bad Soden am Taunus, die
aktuelle Schachpolitik rund um die FIDE-Wahlen oder brandaktuell die Schachweltmeisterschaft
in Bulgarien, der 58-jährige hat viele Eisen im Feuer und weiß ganz genau, wann
und wie er diese zu schmieden hat. Die unermüdliche Förderung des Schachs ist
die Passion des Bad Sodeners und er weiß, dass sich das königliche Spiel dort
präsentieren muss, wo die Menschen sind und nicht in der kalmückischen Steppe.
Vor seiner Abreise nach Sofia, wo Schmitt seinem Freund Viswanathan Anand nach
Kräften bei der Verteidigung WM-Titels zur Seite stehen wird, gab er Chess Tigers-Redakteur
Mike Rosa am vergangenen Sonntag das folgende ausführliche Interview.
(Bilder: Mike Rosa & Christian Bossert)
Mike Rosa: Kürzlich sind Sie 58 geworden, doch wie man es von Ihnen gewohnt
ist, haben Sie aktuell gleich mehrere Projekte, welche Sie betreuen. Ersteres
ist die Chess Classic Mainz 2010, welche in diesem Jahr nicht wie gewohnt über
eine ganze Woche sondern lediglich drei Tage dauern wird. Wer Sie kennt, der
weiß, dass Ihnen diese Entscheidung nicht leicht gefallen sein wird. Was ist
geschehen?
Hans-Walter Schmitt: Welche "Entscheidung"? Da gibt es nichts zu entscheiden,
sondern nur abzuwägen. Das sind Zwänge und vor allem finde ich, "betreuen" ist
charmant ausgedrückt. Die Zeiten haben sich nicht nur in Mainz geändert, sondern
die unsicheren, wirtschaftlichen Verhältnisse zwingen die Sponsoren beim Geldausgeben
mehr zur Objektivität. Ganz anders als in den Bundes-, Landes- und Kommunalhaushalten
ist da das Patentrezept, nicht nur Geld auszugeben, sondern Geld zu verdienen,
um aus der Krise zu kommen. Frau Merkel und Herr Westerwelle können sich leisten,
die Zukunft unserer Kinder-Generation durch Schuldenmachen unverantwortlich
aufs Spiel zu setzen, Unternehmen müssen dagegen schauen, dass sie wirtschaftlich
überleben können, um Löhne und Gehälter zu zahlen.
Aus der Not eine Tugend machen, bedeutet nicht kleiner und schlechter werden,
sondern schlanker und effektiver, ohne den Anspruch auf Einmaligkeit zu verlieren.
Die Kernprozesse dynamisieren, ist die Losung. Jeder, der mich persönlich kennt,
weiß genau, dass es nicht einfach war, meinem Lieblingskind Chess960 eine Pause
zu verordnen. Ich hoffe dabei, dass viele Schachfreunde daraus erkennen können,
dass ich eher zur Gruppe der leidenschaftlichen Pragmatiker gehöre, als zu den
blindwütigen Hasardeuren oder Schönwetterorganisatoren. Wer die Chess Classic
mag, kann das in diesem Jahr unter Beweis stellen, indem er mitspielt.
Der Herr der Tiger
MR: Aus dem großen Open haben Sie jetzt die Grenke Rapid World Championship
gemacht, an welcher jeder teilnehmen kann. Sogar der amtierende Schnellschachweltmeister
Levon Aronian hat zugesagt, seinen Titel in diesem Format zu verteidigen. Eine
tolle Geste des Champions …
HWS: Nicht nur der amtierende Schnellschach-Weltmeister zeigt sich von seiner
besten Seite. Auch unsere anderen Freunde aus der ganzen Schachwelt möchten
mithelfen, die großen Anstrengungen der Chess Tigers Organisation in den letzten
Jahren für dieses einmalige Turnier zu unterstützen. Wie ist es sonst zu erklären,
dass der Durchschnitt der Top 10 gesetzten Spieler Elo 2737 beträgt? Auch bei
den Amateuren zeichnet sich mehr und mehr ab, dass sie begeistert sind von der
Konzentration auf drei Tage. Dass der Weltmeister Viswanathan Anand und die
Weltmeisterin Alexandra Kosteniuk am Freitag das Turnier nicht nur durch die
Pressekonferenz eröffnen, sondern ihr Publikum mit außergewöhnlichen Simultans
erfreuen, lässt den echten Schach-Liebhaber auf ein einmaliges Schnellschach-Open
hoffen. Wer durfte in seinem Leben schon in einer offenen Schnellschach-Weltmeisterschaft
mitspielen und das mit solchen Koryphäen? Das einzige, was jeder Freund der
Chess Classic Mainz tun kann, damit das Turnier auch noch seine 11. Auflage
in 2011 in Mainz erlebt: Anmelden, Teilnehmen und Freunde mitbringen!
MR: Derzeit sorgen Sie mit der Gründung des Chess Tigers Training Center
für Aufsehen. Was hat das CTTC den interessierten Schachlernenden zu bieten
und wie können diese Ihre zahlreichen Angebote und Leistungen nutzen?
HWS: Die schon sehr umfangreiche Bibliothek der über 1500 Lektionen der Chess
Tigers Universität im Internet bekommt als logische Erweiterung ein praxisorientiertes
Brüderchen.
Die ganze theoretische Schachlernerei bekommt einen sehr praktischen Anwendungsteil
mit den Wochenendseminaren von ausgewählten regionalen, nationalen und internationalen
Trainern. Dabei werden die "Vermittlungsprozesse" wesentlich effizienter gestaltet
und der Schwerpunkt auf praktisches Aneignen von Spielsituationen besonders
ins Visier genommen.
Chess Tigers Training Center bei Nacht
Die Universität bekommt mit dem "echten" Partiesimulator für jeden ein weiteres,
lernmotivierendes Instrument an die Hand. ("Achtung, Suchtgefahr!") Dem "Vermittler
von Schachwissen", also den Trainern und/oder Jugendleitern, wird ein individuell
konfigurierbares Werkzeug - "die Jukebox" - zur Verfügung stehen, mit welcher
sich die benötigten Trainingsunterlagen bequem zusammenstellen lassen.
Alles in allem eine für das Schachtraining sehr geeignete systematisch und methodische
Umgebung. Dazu kommen soll die Vernetzung der Generationen. Vormittags bieten
wir den Senioren, nachmittags den Schülern und abends allen, die das
Clubbering
mögen, im Treffpunkt Schach (Chess Tigers Training Center, Brunnenstraße 9 in
Bad Soden am Taunus) die Möglichkeit, Schach zu lernen und zu spielen.
MR: Vor wenigen Tagen feierten Sie erst im kleinen Kreis und danach mit
einem Tag der offenen Tür die Eröffnung des CTTC. Waren Sie zufrieden mit den
ersten Resonanzen?
HWS: Die Resonanz war gut und wir alle waren fürs Erste damit zufrieden. Wir
wussten, dass uns noch ein bis zwei Wochen fehlten, um die "B9" für die Chess
Tigers gewohnt perfekt zu präsentieren. Da wir 4 Tage vorher noch von einem
außergewöhnlichen Rückschlag heimgesucht wurden, macht das Ergebnis, das für
den Aufbau sorgende ganze Team zufrieden. Einigermaßen gelungen war es schon,
obwohl alle sehen mussten, dass in zwei Räumen keine Flachbildschirme mehr hingen.
Die allerersten Lektionen im CTTC erteilte der Weltmeister persönlich
Das Publikum war breit gefächert und Erik Zude entdeckte sogar einen Fünfjährigen,
der ihm in einer Testpartie stark zusetzte - ein echtes Talent, dem geholfen
werden muss! Alles in allem ein wirklich interessanter Auftakt. Natürlich wissen
wir, dass unser Angebot sehr eloquent ist. Entscheidend für den zukünftigen
Erfolg wird sein, ob die Angebote stimmen und wir den gut 5000 Vereinsspielern
in der Rhein-Main-Taunus Region einen individuellen Nutzen mit dem breitgefächerten
Angebot bringen, den emsig tätigen Vereinen mehr Mitglieder bescheren und unser
Bad Sodener Ehrenmitglied und Partner, Weltmeister Vishy Anand, seinen Titel
in Sofia verteidigen kann.
MR: Apropos WM, unter anderem wird im CTTC auch eine Live-Kommentierung
der bald startenden Schachweltmeisterschaft mit GM Klaus Bischoff stattfinden.
Sie selbst werden dieser nicht beiwohnen können, da Sie als Mitglied des Teams
rund um Weltmeister Viswanathan Anand selbst in Sofia sein werden. Können Sie
uns sagen, was genau Ihre Aufgaben beim Projekt "Titelverteidigung" waren und
sind?
HWS: Ich mache eigentlich nicht viel, ich bin einfach nur da, wenn es gilt.
Anand hat ein exzellentes Team um sich geschart und jeder Einzelne ist hoch
motiviert und weiß genau, was zu tun ist. Das fängt bei seiner Frau Aruna an
und hört bei mir auf. Wer jetzt das kleine oder große Rädchen ist, spielt keine
Rolle, Hauptsache ist, dass sie wie ein Schweizer Uhrwerk ineinander greifen.
Zwei wichtige Rädchen im WM-Uhrwerk Aruna Anand und Hans-Walter Schmitt
Im Chess Tigers Training Center in Bad Soden hoffe ich, dass die Liebhaber des
königlichen Spiels voll auf Ihre Kosten kommen, wenn der beste Kommentator der
deutschen Schachszene, Klaus Bischoff und der fachliche Leiter Dr. Erik Zude
das Geschehen in Sofia live kommentieren und im stilvollen Ambiente ihr Fachwissen
zum Besten geben.
Natürlich wird die Chess Tigers on Tour Crew authentische und zeitnahe Live-Kommentare
dazuwürzen und ihre Sicht der Dinge ergänzend über Skype aus Sofia mitliefern.
MR: Sie nach dem Ausgang des WM-Matches zu fragen, erübrigt sich, doch
verraten Sie uns, welchen Eindruck der amtierende Weltmeister aktuell auf Sie
macht und warum er Ihrer Meinung nach Veselin Topalov schlagen wird!
HWS: Es gibt keine Garantien für einen Sieg. Jeder der Protagonisten hat sich
sicher sehr gut vorbereitet, wird sicher versuchen in die bestmögliche Form
bis zum 23. April zu kommen und dann wird die Sache am Schachtisch im Military
Club Sofia geklärt. Meiner Ansicht nach ist der Ausgang völlig offen, aber ich
bin sicher, dass Vishy alles daran setzen wird, die Bonner Geschichtsschreibung
zu wiederholen. Mit einer Matchscore von -2 gegen Vladimir Kramnik in langsamen
Partien ist er angereist und mit dem Ausgleich derselben ist er später abgereist.
MR: Den größten Vorteil verspricht sich der Herausforderer nicht von der
Tatsache, dass er auf heimischen Boden spielen darf, er führt vielmehr den Altersunterschied
von fünf Jahren an. Kann dieser tatsächlich entscheidend sein?
HWS: Hier gilt die alte Fußballregel im Grunde genauso auch im Schach: "Es gibt
keine alten oder junge Spieler, es gibt nur gute und weniger gute, bei gleichguten
muss der Tiebreak her".
Vishy Anand und Hans-Walter Schmitt und im Hintergrund Ehefrau Cornelia Schmitt
MR: Topalovs Manager Silvio Danailov hat kürzlich angekündigt, sein Schützling
würde Anand dazu zwingen, unter den Sofia-Regeln zu spielen und folglich während
der Partien nicht mit ihm kommunizieren und nicht auf Remisangebote reagieren.
Das scheint den Weltmeister aber nicht sonderlich zu beeindrucken, oder?
HWS: Silvio Danailov ist ein behänder Jongleur mit allen möglichen Vorteilsnahmen
in allen Situationen für seinen Mandanten, aber es scheint ihm entgangen zu
sein, dass es in Zweikämpfen überhaupt keinen richtigen Nutzen bringt, die Hauptstadtregel
der Bulgaren zu vereinbaren, weil doch jeder ein - "berechtigtes" oder "unberechtigtes"
- Remisangebot still mit dem Weiterspielen der Partie ablehnen kann. Also hat
sein Schützling Veselin es selbst in der Hand, einfach, wie es in traditionellen
WM-Kämpfen üblich ist, nach seinem Gusto zu handeln.
Der amtierende Weltmeister Viswanathan Anand wird ihm niemals ein Angstremis
anbieten, sondern bestimmt eine vernünftige und großzügige Auslegung des edlen
Spiels mit allen seinen Finessen vorleben, wobei ein Remisangebot auch immer
unter taktischen Gesichtspunkten zu betrachten ist. Soweit ich mich erinnern
kann, hat Anand bei seiner Titelverteidigung in Bonn 2008 seinem Gegner Vladimir
Kramnik keinmal ein Remis angeboten. Hoffentlich kommt nicht noch einer auf
die Idee, wie es oft in unserem ehrwürdigen alten Schachklub von einem graumelierten
Herrn des Öfteren zu hören war, wenn einer gegen ihn aufgeben wollte: "Abgelehnt,
jetzt wird gespielt, bist Du matt bist!"
MR: Ein Wort noch zur diesjährigen Präsidentenwahl bei der FIDE. Neben
dem amtierenden Kirsan Ilyumzhinov hat der zwölfte Schachweltmeister Anatoly
Karpov seine Kandidatur angekündigt und dabei bereits großen Zuspruch von vielen
europäischen Verbänden - beispielsweise auch vom Deutschen Schachbund - erhalten.
Wie stehen Sie dazu?
HWS: Es ist für mich keine Überraschung, dass sich der 12. Weltmeister der Schachgeschichte
für dieses Amt bewirbt, hatte er doch schon Mitte/Ende der neunziger Jahre damit
geliebäugelt. Zurzeit könnte er gute Chancen haben, das unstete Dasein der FIDE
mit neuen Ideen und Taten oder auch "Back to the roots" zu beenden. Sein Beziehungsgeflecht
in der Schachwelt und deren Organisationen ist sicher sehr gut, aber ob es reicht
in Russlands politischem Umfeld genug Einfluss und Stimmen gegen Ilyumzhinovs
Geld zu gewinnen, ist eher fraglich. Obwohl ihm sein neuer bester Freund Garry
Kasparov die uneingeschränkte Unterstützung zugesagt hat.
Vielen Dank für das Gespräch!