Klassisches Schach oder Fischer-Random-Schach? Oder beides?

von Arno Nickel
03.11.2022 – Welche Position stammt aus Fischer-Random-Partien, welche aus klassischen Schachpartien? Das fragt Arno Nickel und bricht in seinem Essay eine Lanze für das Fischer-Random-Schach. Sein Vorschlag: Das Fischer-Random-Schach als gleichberechtigt aufwerten und den Spielern bei Turnieren die Möglichkeit geben, entweder klassisches oder Fischer-Random-Schach zu spielen.

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Klassisches Schach oder Fischer-Random?

- Reflektionen über ein (noch) ungleiches Zwillingspaar -


Obwohl kürzlich die 2. FIDE-Weltmeisterschaft im Fischer-Random mit Nakamura, Nepomnjaschtschi, Carlsen und Abdusattorow stattfand, um nur vier der acht Finalisten zu nennen, fühlen sich die Anhänger dieser Schachdisziplin mit den 960 möglichen Grundstellungen immer noch wie Exoten in ihren Schachvereinen und Schachcommunities. Nicht überall, aber doch sehr verbreitet. Daran haben auch mehr als 20 Jahre intensiver Bemühungen privater Veranstalter und einzelner Vereine, bei uns zu Lande vor allem von Hans-Walter Schmitt und seinen Chess Tigers, nichts entscheidend geändert.

Dabei ist bekannt, dass viele Großmeister, die der ausufernden Eröffnungstheorie und deren Folgen für das Wettkampfschach überdrüssig sind, lieber Fischer-Random als sogenanntes „klassisches Schach“ spielen und mit der Umstellung weit weniger Probleme haben als der Durchschnittsamateur, der seine Eröffnungsvarianten und -systeme wie eine Lebensversicherung mit ans Brett bringt. Nicht das Unbekannte lockt ihn, sondern der feste Boden unter den Füßen, dort wo er sich sicher ist, nicht in irgendein Loch zu fallen. Das soll lieber der oder die Gegnerin. Fischer-Random ist für ihn kein Thema, obwohl er es kaum kennt. Typische Einwände: „Da hätte ich ja alles, was ich über Eröffnungen weiß, umsonst gelernt“ oder „Ich verstehe ja das normale Schach schon kaum, warum soll ich mir das antun?“ oder anspruchsvoller „Das ist mir zu chaotisch. Die klassische Ausgangsstellung mit ihrer Symmetrie und inneren Harmonie ist nicht zu übertreffen.“

Es soll hier nicht darum gehen, Kritiker und Skeptiker von den Vorzügen des Fischer-Randoms zu überzeugen, zumal das am ehesten gelingt, wenn jemand selbst eigene Erfahrungen damit macht. Und natürlich lässt sich über Geschmack nicht gut streiten. Aber eine Grunderkenntnis, die spätestens 2009 auch bei der FIDE ankam, sollte mittlerweile unstrittig sein: Fischer-Random bzw. Chess960 steht dem klassischen Schach in nichts nach und ist mindestens genauso gehaltvoll, egal ob es einem gefällt oder nicht. Die Tatsache, dass viele, wenn nicht gar die meisten Partien, die aus einer Chess960-Startposition entstanden, in ihrem Verlauf mehr und mehr Züge der uns vertrauten Stellungsbilder annehmen, ist ein untrügliches Indiz, dass sich diese Schachart im Grunde kaum vom sogenannten klassischen Schach unterscheidet. Die Partien haben nur eine andere Entstehungsgeschichte.

Im Anhang seien als Beispiel vier Stellungen jeweils nach dem 20. Zug von Weiß aufgeführt, von denen zwei aus dem klassischen Schach und zwei aus Fischer-Random-Partien stammen. Versuchen Sie mal, die Stellungen richtig zuzuordnen, ohne Hilfsmittel wie Datenbanken zu benutzen. Es dürfte nicht so einfach sein und meistens kaum hundertprozentig gelingen. (Die Auflösung und die zugehörigen Partien finden Sie unter einem Link am Ende des Artikels.)

Gelegentlich führen Beobachter die Tendenz zur Angleichung darauf zurück, dass die Akteure bekannte Stellungsmuster anstreben. Das trifft wohl zum Teil zu, sollte aber nicht überbewertet werden. Entscheidender ist, dass die innere Logik des Schachs ihnen kaum eine andere Wahl lässt, als den Gesetzen von Raum, Kraft und Zeit zu folgen. Die wirken hier genauso wie im klassischen Schach. Welche anderen strategischen und taktischen Motive, welche anderen Techniken sollten hier auch sonst funktionieren? Was tatsächlich keinen Erfolg verspricht, wäre der Versuch, die Eröffnungsprinzipien aus dem klassischen Schach eins zu eins auf das Fischer-Schach zu übertragen. Zwar gelten alle diese Eröffnungsprinzipien im Allgemeinen auch hier, aber die Prioritäten sind hier oft ganz anders zu setzen bzw. zu beachten, wenn zum Beispiel in der Ausgangsstellung ein Bauer ungedeckt ist und schon im ersten Zug durch einen Läufer oder die Dame bedroht werden kann. Typischer Fall: ein ungedeckter Bauer a7 wird nach 1.f3 oder 1.f4 von einem Läufer g1 angegriffen, und wenn auf b8 noch ein eingeklemmter schwarzer Turm steht, dann Hallelujah! Da wäre die Besetzung des Zentrums durch 1...d5 oder 1...e5 kein so guter Zug, was aber nicht heißt, dass das Zentrum keine Rolle mehr spielte. Beim zweiten Zug kann das schon deutlich anders aussehen. Gerade diese Relativität der Lehrsätze macht das Fischer-Random für seine Anhänger und all jene, die Kreativität als höchstes Gut schätzen, so reizvoll. Mein Fazit: Das klassische Schach und Fischer-Random sind im Grunde Zwillinge. Nach meiner Definition ist Fischer-Random nichts anderes als neoklassisches Schach und sollte nicht länger nur als Gegenpol zum klassischen Schach gedacht und behandelt werden. Meinetwegen ist es auch Neoromantik, aber das steht auf einem anderen Blatt. Wir sollten die Definition „klassisches Schach“ nicht auf die Ausgangsstellung verengen, sondern die Gesamtheit der Schachregeln als konstitutiv betrachten. Die Veränderungen an einem Punkt bedeuten nicht zwangsläufig, dass das gesamte Gebäude in sich zusammenfällt. Im Gegenteil, man muss sogar von Zeit zu Zeit, gemessen in Jahrzehnten und Jahrhunderten, kleine Veränderungen vornehmen, um das Ganze am Leben zu erhalten.

Doch genug der langen Vorrede. Die Frage, die mich und sicherlich auch andere umtreibt ist: Wie soll es nun für die Schachspieler weitergehen, die gern mehr Fischer-Random sehen und spielen würden, aber dafür zu wenige Gelegenheiten finden? Vor allem zu wenige Gelegenheiten für lange Partien zu Turnierbedingungen. Das Online-Spiel ist prinzipiell keine befriedigende Lösung, abgesehen davon, dass dort zu 90% nur geblitzt wird. Schnellturniere, die hier und da von Vereinen und privaten Veranstaltern angeboten werden, sind da schon wesentlich attraktiver, aber es sind auf die Fläche gerechnet immmer noch viel zu wenige, und es sind eben (verständlich unter Kostenaspekten) nur Schnellturniere und keine dem klassischen Turnierschach vergleichbare Angebote. Sollen wir warten, bis die Begeisterung für das Fischer-Schach „von oben nach unten“ durchsickert? Bis also die Zahl der Fischer-Schach-Fans so groß geworden ist, dass sich große Open-Turniere für Veranstalter rechnen und regionale sowie lokale Meisterschaften selbstverständlich werden? Das kann dauern, denn nicht nur Gottes, sondern auch Fischers Mühlen mahlen langsam.

 

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Wenn klassisches Schach und Fischer-Schach im Grunde Zwillinge sind, warum können sie dann nicht gemeinsam in einem Turnier auftreten? Ganz konkret und einfach gesagt: Ich möchte in einem beliebigen Schachturnier die Wahlfreiheit haben, mit meinem Gegner, falls er genauso „tickt“ wie ich, eine Fischer-Random-Partie statt eine Partie mit der klassischen Ausgangsstellung zu spielen. Meines Erachtens spricht grundsätzlich nichts dagegen, wenn auch einige turniertechnische Besonderheiten auftreten, die für die Turnierleitung Mehrarbeit bedeuten, abgesehen davon, dass sie sich mit den Regeln für Chess960 vertraut machen müssten.

Der Verleger Arno Nicke, hier bei einem Turnier in Berlin 2006, sucht einen Nachfolger für die Herausgabe des Schachkalenders


Die Sache ist gar nicht so kompliziert und würde keineswegs die bestehende Hegemonie des klassischen Schachs gefährden, denn niemand würde gegen seinen Willen dazu gezwungen, auch nur in einer einzigen Partie Fischer-Schach zu spielen. Aber für alle könnte es gleichwohl interessant sein, in einem Turnier, in dem überwiegend klassisches Schach gespielt wird, hier und da einige Fischer-Random-Partien zu verfolgen und später eventuell auch mit den betreffenden Spielern zu analysieren. Wenn dann im Laufe der Jahre zu den anfangs wenigen Chess960-Jüngern der eine oder andere neu hinzustieße, sich also quasi „taufen“ ließe, wäre das doch eine feine Sache.

Grundsätzlich stelle ich es mir bei einem Open so vor: Diejenigen Spieler, die in einem Turnier gern auch Fischer-Random spielen möchten, melden dies vor Turnierbeginn bei der Turnierleitung an und erhalten dazu dann die für beide Seiten verbindliche Gelegenheit, wenn sie bei der Auslosung nach Schweizer System auf eine(n) Gleichgesinnte(n) stoßen.

Für die Auslosung sollten strikt die Regeln nach Schweizer System angewendet werden, das heißt, es sollten keine Paarungen für oder gegen Chess960 willkürlich herbeigeführt werden. Die Startrangliste wird nach Elo (oder eventuell DWZ) festgelegt; Fischer-Random Wertungszahlen spielen vorläufig keine Rolle, solange es keine offiziell verbindlichen Zahlen dafür gibt. (Anmerkung: Sie könnten später, wenn von den Verbänden anerkannt, eine sekundäre Rolle spielen, um innerhalb der Chess960-Spielerliste eine Rangfolge festzulegen.) Die Startposition sollte erst kurz vor Beginn einer Runde ausgelost werden und für alle Fischer-Random-Spieler in der betreffenden Runde verbindlich sein.

Bei der FIDE-WM und auch in Saint Louis (dort unter dem neuen Markennamen „Chess 9LX“) bekamen die Spieler die Startposition eine gewisse Zeit vor Partiebeginn zur Kenntnis, um sich damit soweit vertraut zu machen (ohne elektronische Hilfe), dass sie nicht schon im ersten Zug viel Bedenkzeit investieren mussten, zumal sie ja mit Schnellschach-Bedenkzeit spielten. Das könnte man bei den hier angedachten Open-Turnieren genauso handhaben, wobei die FIDE-Karenzzeit von 15 Minuten recht passend erscheint.

Ein anderer Aspekt betrifft die Vermeidung von Vor- und Nachteilen bei der Farbwahl. Die einfache Möglichkeit, dass jeder Spieler eine Startposition sowohl mit Weiß als auch mit Schwarz spielt (so bei vielen Ches960-Wettkämpfen), funktioniert bei einem Open natürlich nicht. Hier hat jeder eben entweder Weiß oder Schwarz, sodass die Frage auftaucht, ob die ausgeloste Startposition einen der Spieler begünstigt. Dieses Spezialthema, zu dem es schon Computerauswertungen aller Postionen gibt, kann hier nicht vertieft werden, doch ist es nicht von prinzipieller Bedeutung. Bis heute ist – laut aktuellem Wikipedia-Eintrag – kein spielentscheidender Weiß-Vorteil für irgendeine der 960 möglichen Stellungen nachgewiesen worden. Dort heißt es desweiteren:„Das Schachprogramm Stockfish beispielsweise bewertet die 960 Eröffnungsstellungen bei einer Suchtiefe von 39 Halbzügen mit Werten zwischen 0,0 und 0,57 Bauerneinheiten Vorteil für Weiß (Mittelwert 0,18), wobei die Eröffnungsposition des traditionellen Schachs mit 0,22 Bauerneinheiten Vorteil für Weiß gewertet wird.“ Meiner Meinung sollte dieser Aspekt aber nicht überbewertet werden.

Grundsätzlich gilt gerade für das Fischer-Schach die Erfahrung: Es gewinnt der stärkere Spieler oder derjenige, der im konkreten Fall die Stellungserfordernisse unter den konkreten Turnier- und Zeitbedingungen besser verstanden und erfüllt hat, egal ob mit Weiß oder mit Schwarz. Und nebenbei bemerkt, kann sich hier in der Regel niemand auf eine Vorbereitung mit dem Computer stützen. Denkbar wäre dennoch, dass man „als verdächtig“ nachgewiesene Stellungen zur Vermeidung eines Farbvor- oder -nachteils aus dem riesigen Pool der zur Auswahl stehenden Positionen herausnimmt, wie es nebenbei bemerkt stets mit der Startposition 518 (die klassische) geschieht.

Was die Auswertung solcher hier angedachter „gemischter“ Turniere betrifft, so sollte grundsätzlich von einer Gleichwertigkeit der errungenen Punkte ausgegangen werden, egal ob sie nun mit klassischem Schach oder in Fischer-Random-Partien errungen wurden. Gleichwohl ist klar, dass es einer Änderung der FIDE-Turnierregeln bedürfte, damit solche Turniere und die erzielten Leistungen und Ratingzahlen offiziell anerkannt werden könnten; im Wesentlichen dürfte dazu reichen, dass nicht nur die klassische Ausgangsstellung, wie in den Laws of Chess der FIDE festgelegt, gilt, sondern auch die gemäß Chess960 ausgelosten Startpositionen. Das wird sicherlich nicht von heute auf morgen der Fall sein, aber sollte man deshalb eine an sich als gut befundene Idee von vornherein begraben? Private Initiativen haben langfristig schon Manches zunächst als unerreichbar Erscheinendes bewirkt. Das sollte auch hier gelten. Geduld ist gefragt, bis Fischer-Random die ihm gebührende Anerkennung als zum Mainstream gehörend finden wird. 

(Ende)

 

Hier noch einmal die vier fraglichen Stellungen:

 

 

 

Auflösung

Partien

 


Edition Marco...

 


Arno Nickel ist Schachverleger und Fernschach-GM. Er lebt mit seiner Familie in Berlin. Bereits in jungen Jahren schloss er ein Politologiestudium ab, fand Schach später aber reizvoller.

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