Kontroverse um Hans Niemann 2.0?

von André Schulz
14.09.2023 – Kramnik sorgte kürzlich mit einer Online-Partie gegen Hans Niemann, in der er sich aus Protest nach Art des Narrenmatts mattsetzten lassen wollte, für Aufregung. Kramnik geht es aber nicht so sehr um die Person von Hans Niemann, sondern um das Cheating-Problem im Online-Schach generell. Er schätzt, dass das Problem viel größer ist als man denkt und trug seine Argumente in einem langen Video-Interview vor. | Foto: Amruta Mokal

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Im letzten Herbst stieg Magnus Carlsen aus dem laufenden Sinquefield Cup aus, nachdem er von Hans Niemann besiegt worden war. Bald danach weigerte sich Carlsen bei einem Online-Turnier seiner Play Magnus Group, gegen Niemann zu spielen. Carlsen gab die Partie nach dem ersten Zug auf. Der Norweger ließ auf Twitter nach seinem Rückzug vom Sinquefield Cup und seinem Verhalten in der Online-Partie ein paar vage Andeutungen folgen. Ohne es klar auszusprechen beschuldigte er den jungen US-Großmeister des Cheatings, des Spielens mit unerlaubter Computerhilfe. 

Der Vorfall brachte dem Schach weltweit in den Medien ungeahnte Schlagzeilen. In Hikaru Nakamura, der in seinem Videostream bei der Kommentierung der Partien von Niemann keinen Zweifel darüber offen ließ, was er von der Partieführung hielt, und in der Online-Plattform Chess.com fand Magnus Carlsen Verbündete bei seiner Anschuldigung gegen Niemann. Chess.com veröffentlichte, dass Niemann in früheren Jahren bei vielen Online-Partien mit verbotener Computerhilfe gespielt hätte. Niemann räumte das ein, erklärte aber, dass er noch nie bei Partien am Brett mit verbotener Computerhilfe gespielt hätte. Es gab eine große öffentliche Diskussion, mit der üblichen Aufteilung in zwei Fraktionen: die eine Fraktion nahm Niemann in Schutz mit dem Hinweis darauf, dass es ja "keine Beweise" gäbe. Die andere Fraktion fand Niemanns Partien und Erfolge auf vielen Open und auch Einladungsturnieren vor dem Sinquefield Cup verdächtig. Experten sorgten mit ihren Expertisen, die den Verdacht entkräften oder verdichten sollten, für zusätzliche Verwirrung, 

Die Fraktion, denen Niemanns Partien und Erfolge verdächtig vorkamen, war deutlich leiser, was wohl auch daran lag, dass Hans Niemann über seine Anwälte Magnus Carlsen, Hikaru Nakamura und chess.com auf je 100 Mio. US-Dollar Schadensersatz verklagt hatte. Die Klage wurde in Teilen abgewiesen. Kürzlich haben sich die Parteien verglichen und den Streit beigelegt.

Die Kontroverse und Diskussion ist aber nun mit einem neuen Beteiligten neu aufgeflammt. Der neue "Player" in der Runde ist einer von Magnus Carlsens Vorgänger auf dem Weltmeisterthron, kein Geringerer als Vladimir Kramnik.

Bei einem Online-Turnier auf der Plattform Chess.com traf Kramnik nun kürzlich auf Niemann und wurde von diesem mit den schwarzen Steinen in der Berliner Verteidigung, Kramniks Spezialwaffe, die ihm 2000 im Wettkampf gegen Garry Kasparov den Weltmeistertitel eingebracht hatte, überspielt.

Kramnik hatte offenbar das Gefühl, dass diese Niederlage nicht unter regulären Bedingungen zustande gekommen war. In der folgenden Partie gegen Hans Niemann wollte Kramnik sich nach 1.e4 f6 2.d4 g5 nach Art des Narrenmatts mattsetzen lassen und drückte damit seinen Protest aus. Niemann lehnte das Angebot durch Aufgabe der Partie ab.

Niemann reagierte auf Kramniks unausgesprochenen Anschuldigungen, mit dem Angebot, sein Schachverständnis von Kramnik in einem persönlichen Training untersuchen zu lassen.

Die Kontroverse um Hans Niemann schien neu aufgeflammt. Aber Kramnik geht es nicht so sehr um Niemanns Person. Vladimir Kramnik ist generell der Auffassung, dass bei Online-Turnieren, die für alle Spieler offen sind, speziell die "Titelt Tuesday"-Serie von Chess.com in einem hohen Maße mit Computerhilfe betrogen wird. In seinem Profil auf chess.com führte Kramnik dazu mit anderen User eine intensive Diskussion.

Auch andere Großmeister haben durchaus den Eindruck, dass bei Online-Turnieren viele Spieler mit unerlaubten Hilfsmitteln spielen, äußern sich aber nur hinter vorgehaltener Hand. Schließlich möchten sie auch weiterhin Online-Turniere mitspielen dürfen und unbewiesene Anschuldigungen - und wie sollten sie auch "bewiesen" werden - führen zu Shitstorms an den "sozialen" Prangereinrichtungen im Internet und möglicherweise auch zu juristischen Konsequenzen.

Die Anbieter von Online-Plattformen bemühen sich natürlich, dem Computerbetrug einen Riegel vorzuschieben, mit Hilfe von Überwachungsprogrammen, die die Übereinstimmung der gespielten mit Computerzügen messen, und mit statistischen Erhebungen. Doch die Aufgabe bleibt schwierig. 

Als Gast im Video-Podcast "C-Squared" von Cristian Chirila und Fabiano Caruana hat sich Kramnik nun noch einmal ausführlich zu Wort gemeldet und Argumente für seine Auffassung vorgetragen.

Kramnik war aufgefallen, dass seine Gegner bei Online-Turnieres sehr viel häufiger die hohe Quote von 90% und mehr Genauigkeit in ihren Partien erreichen als beispielsweise gegen Carlsen, Nakamura oder Caruana. Gegen Carlsen hätten die Gegner nur in 3 von 100 Partien mit großen Genauigkeit gespielt. Gegen ihn, Kramnik, wäre das in 27 von 100 Partien der Fall gewesen. Das sei aber statistisch unwahrscheinlich. Die Quote müsste in etwa gleich groß sein.

Kramnik schlussfolgert, dass Carlsens Gegner es nicht wagen, gegen den Norweger mit Computerhilfe zu spielen, weil ein Sieg über Carlsen zu auffällig wäre. Gegen ihn, Kramnik, machten sie es aber viel häufiger. Anders sei die Diskrepanz bei den Genauigkeitszahlen nicht zu erklären, so Kramnik.

Er berichtete auch, dass er einen Spieler beim Spielen beobachtete, wie dieser Serien von Partien mit geringer Genauigkeit spielte, dann wieder Serien mit Partien mit hoher Genauigkeit, in denen die Gegner keine Chance hatte. Für Kramnik ein klarer Fall eines Cheaters, der sich diesen "Spaß" aber schon über ein Jahr lang erlaubt hatte, ohne dass er sanktioniert worden war.

Kramnik drückte zudem seine Überzeugung aus, dass das "Cheating"-Problem beim Online Schach sehr viel größer sei, als bisher angenommen würde. Er schätzt, dass etwa 20% der Teilnehmer an den "Titled Tuesday"-Turnieren zumindest zeitweise mit unerlaubter Computerhilfe spielen.

Kramnik votiert für ein härteres Vorgehen gegen Betrüger im Online-Schach. Schon bei viel geringeren Anhaltspunkten für Cheating müsse man sie disqualifizieren. 

Das Video-Interview:

Inzwischen hat sich auf Twitter auch Maxime Vachier-Lagrave zu dem Thema geäußert. Der Franzose fordert zumindest bei Turnieren, in denen es Preisgelder zu gewinnen gibt, Kameraüberwachungen der Spieler und härtere Strafen für überführte Betrüger, zum Beispiel auch für Turniere mit Partien am Brett.

Allerdings sind die meisten Online-Turniere Privatveranstaltungen und keine offiziellen FIDE-Turniere. Deshalb wird der Wunsch nach Sanktionen auch außerhalb der virtuellen Welt wohl unerfüllt bleiben.


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.