Kramniks Neunte
Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer
Wladimir Kramnik ist und bleibt Schachkönig von Dortmund. Ein Sieg in der
Schlussrunde gegen Arkadij Naiditsch beseitigte gestern auch die letzten
Zweifel an seiner Klasse. Damit hat der russische Exweltmeister das
Sparkassen Chess-Meeting zum neunten Mal gewonnen.
Mit einem halben Punkt Vorsprung konnte Kramnik die letzte Partie entspannt
angehen. Er nahm sich einen Kaffee hinter der Bühne und ging zu seinem
Schachtisch. Beim Hinsetzen bemerkte er, dass es die falsche Seite mit den
schwarzen Figuren war. Auf seinen Aufschlag mit Weiß wollte der 1.93-m-Hüne
natürlich nicht verzichten und wechselte deshalb lächelnd zur anderen
Tischhälfte. Nach knapp vier Stunden gab er mit der Dame in der Brettmitte
Schach und war am Ziel.
Kramnik während der entscheidenden Partie
Eugen Schackmann, einer der Gründerväter der Dortmunder Schachtage, hatte an
diesem Brett den ersten Zug ausgeführt, worauf Kramnik und Naiditsch die
Eröffnung (Damengambit) im Eilzugtempo herunter spulten.
Eugen Schackmann eröffnet die letzte Runde
Erst nach einer Viertelstunde begann Naiditsch zu grübeln. Die Stellung war
alles andere als einfach. Im Mittelspiel opferte Kramnik plötzlich einen
Turm für einen Springer, wonach die schwarze Königsfestung geöffnet wurde.
Naiditsch wehrte sich tapfer, aber die weißen Angriffe des Russen waren zu
stark. Nach 42 Zügen musste der Dortmunder in hoffnungsloser Stellung
aufgeben.
An den Nachbartischen versuchten die Verfolger Leko gegen Jakowenko und
Carlsen gegen Bacrot ihre Spiele zu gewinnen, aber nach Kramniks Sieg gaben
sie ihre Bemühungen sofort auf.
Magnus Carlsen gegen Etiennne Bacrot
Peter Leko gegen Dmitri Jakowenko
Beide Duelle endeten friedlich. Es bleibt dabei, Wladimir Kramnik ist in
seiner zweiten Heimat Dortmund einsame Spitze. "Manche Spiele von ihm sind
so schön wie Sinfonien", sagte ein begeisterter Schachfan im Schauspielhaus.
Das kann man von den drei Siegpartien dieses Jahres auf jeden Fall sagen.
Etienne Bacrot mit Frau Nathalia
Im Meisterturnier gewann Markus Schäfer (SG Solingen) vor dem
Vorjahressieger Thomas Trella (SF Gerresheim). Das A-Open im Rathaus wurde
eine Beute des deutschen Großmeisters David Baramidze (Hamburger SK), der
lange in Dortmund lebte und die hiesige Schachschule durchlief. Im offenen
B-Turnier siegte Wladimir Dolgopoly (SV Halver).
Thomas Trella und Markus Schäfer
Der Rekordmann
Wladimir Kramnik wurde am Sonntagabend im Rathaus zum neunten Mal als
Schachkönig von Dortmund gekrönt.
Er erreichte damit eine Bestmarke für das Guinness-Buch der Rekorde und
vielleicht auch für die Ewigkeit. Noch nie zuvor in der Schachgeschichte hat
ein Großmeister ein derart hochkarätiges Turnier so oft für sich
entschieden. "Zehnmal in Dortmund zu gewinnen", das habe ich mir bis zum
Ende meiner Karriere als Ziel gesetzt", sagte der glückliche Sieger kurz
nach seinem diesjährigen Erfolg. Inzwischen Senior des Feldes, bewies der
russische Exweltmeister auch diesmal erneut seine Ausnahmestellung. Bislang
konnte noch kein anderer Denksportler Wladimir Kramnik in dessen Wohnzimmer,
dem Dortmunder Schauspielhaus, auch nur entfernt das Wasser reichen.
Erstaunlich war wiederum, mit welch effektiven Mitteln der Wahl-Pariser das
Turnier dominierte. Kramniks Kritiker werfen ihm gern Minimalismus und zu
wenig Kampfeslust vor. Seine Anhänger verweisen hingegen darauf, dass er im
entscheidenden Moment seine Schach-Genialität aufblitzen lässt und die "Big
Points" macht. So geschehen vor fünf Jahren im WM-Kampf gegen Peter Leko,
als er die letzte Partie unbedingt gewinnen musste und "auf Bestellung"
siegte. Bei diesem Chess-Meeting war es der achte Spieltag, an dem Kramnik
auf schöne Art den ersten entscheidenden Punkt gegen Magnus Carlsen holte,
als die meisten schon an den Turniersieg des jungen Norwegers glaubten.
Wladimir Kramnik absolvierte in seinen zehn Turnierpartien insgesamt viel
weniger Züge als zum Beispiel sein Landsmann Dmitri Jakowenko, der mit 81
Zügen gegen Etienne Bacrot auch die längste Partie des Turniers spielte.
Kampfgeist allein hilft mitunter jedoch nicht, wenn man auf einen Gegner
trifft, der top vorbereitet ist und die kleinsten Fehler brillant ausnutzt,
wie Kramnik es zweimal gegen Naiditsch tat.
Jakowenko gegen Kramnik
In der Hinrunde zauberte er mit Schwarz am Königsflügel ein sehenswertes
Mattfinale aufs Brett. Es war eine Russische Partie! Auch zuletzt mit Weiß
begeisterte er durch seinen ideenreichen Angriff. Die drei Gewinnpartien des
Seriensiegers werden vor allem in Erinnerung bleiben, wenn man an den
Schach-Jahrgang 2009 in Dortmund zurückdenkt.
Jako im Glück
Noch eine kuriose Geschichte aus der Rückrunde. Den 7. Spieltag wird Dmitri
Jakowenko nicht so schnell vergessen. Da hatte der Großmeister aus Moskau
zweimal Glück. Zu Beginn des Spiels fehlte er noch im Schauspielhaus.
Jakowenko hatte die Abfahrtzeit vom Hotel schlicht verpasst, weil er in
seinem Zimmer noch bis zur letzten Minute Varianten analysierte.
Normalerweise erhält ein Akteur, der zu spät zur Partie kommt, eine Null.
Das schreiben die neuen Regularien des Weltschachbundes vor. Zur
Schacholympiade in Dresden wurde es schon mit aller Härte praktiziert.
Dmitri Jakowenko aus Moskau
In Dortmund ist das Reglement humaner, die Schiedsrichter lassen das
"akademische Viertel" zu. Wer innerhalb von 15 Minuten nach dem Startgong am
Brett sitzt, darf noch spielen, ohne dass Sanktionen verhängt werden.
Jakowenko kam aber an diesem Nachmittag erst um 15.15 Uhr und 30 Sekunden
an. Mit wehenden Rockschößen sprintete er durchs Foyer des Schauspiels, nahm
drei Treppenstufen auf einmal und rannte auf die Bühne, um seinen ersten Zug
gegen den Lokalmatador Arkadij Naiditsch zu machen.
Eigentlich war die Viertelstunde abgelaufen, doch "Jako" hatte Glück, dass
Moderator Gerd Kolbe vorher länger geredet und auf der Bühne die Verdienste
von Großmeister Helmut Pfleger um die Dortmunder Schachtage gewürdigt hatte.
Dadurch erfolgte der Startgong zur Runde 7 etwas später, so dass
Schiedsrichter Andrzej Filipowicz bei dem Zuspätkommer Gnade vor Recht
ergehen lassen konnte.
Schiedsrichter Andrzej Filipowicz aus Polen
In der Sizilianischen Partie war dem kleinen Russen dann das Glück zum
zweiten Mal hold. Arkadij Naiditsch hatte ihn mit Weiß arg in Bedrängnis
gebracht und sah bereits wie der sichere Sieger aus. Aber Jakowenko wehrte
sich zäh und fand immer wieder eine Verteidigung, so dass der Dortmunder
Großmeister schließlich nach über sechs Stunden und 70 Zügen ins Remis
einwilligen musste. Arkadij wartete damit immer noch auf einen Sieg beim
Chess-Meeting. Jakowenko hatte indessen seine Lektion gelernt und kam
pünktlich zur nächsten Partie gegen den Franzosen Etienne Bacrot, die dann
die längste wurde...