Krieg und Frieden in City Chess
Von Dagobert Kohlmeyer

Eingang nach Chess City
City Chess ist ein Vorort
von Elista, der eigens für die Schacholympiade 1998 errichtet wurde. Den
Mittelpunkt bildet der große Schachpalast, in dem sich im Herbst vor acht Jahren
die gesamte Schachwelt traf.

Chess Palace


Ein Bauer aus Stein
Topalow war seinerzeit
dabei, Kramnik nicht. Trotzdem wurden die Russen Olympiasieger. Bei den Frauen
triumphierte China.
Heute werden die Häuser in
City Chess vielfältig genutzt. In einer Seitenstraße finden wir das FIDE-Büro,
in dem mehrmals im Jahr die ELO-Zahlen errechnet werden. Oben in der ersten
Etage sitzt Webmaster Casto Abundo.



Helferinnen

Das „Faktotum“ des
Weltverbandes arbeitet seit einem Vierteljahrhundert für die FIDE. Der
Philippino ist seit Campomanes’ Zeiten dabei. In Elista hat er sein Glück
gefunden: „Ich bin seit sechs Jahren mit einer Kalmückin verheiratet, Nachwuchs
haben wir auch. „Ich gehe hier nicht mehr weg“, sagt er bei unserem Besuch.

Casto Abundo
Wir frühstücken täglich im
Restaurant des Schachpalasts. Schiedsrichter Geurt Gijssen sitzt an unserem
Tisch und hat beste Laune. Er war in Elista schon vor zehn Jahren WM-Referee bei
Karpow und Kamsky sowie Hauptschiedsrichter bei der Olympiade. Iljumschinow
setzt den erfahrenen Holländer gern zu Hause bei seinen Events ein und ist sich
dessen Loyalität sicher.

Geurt Gijssen und gute Fee
Gijssen war lange vor den
Delegationen der beiden Spieler vor Ort und hat sich, um die Mentalität der
Leute wissend, um jedes Detail gekümmert. Es war auch nötig. Bis zur vierten
Partie ahnt der 72-jährige Mann aus Nijmegen allerdings nicht, was in den
folgenden Wettkampftagen an ungeahntem Stress auf ihn zukommt.
Die Villen, in den die
Teams der Spieler wohnen, sind für Normalsterbliche eigentlich unzugänglich.
Vier bis sechs Wachleute stehen ständig vor den Häusern von Kramnik und Topalow,
ein Eindringen ist schier unmöglich. Aber wenn man hartnäckig genug ist und dazu
noch Reporterglück hat, geschieht manchmal ein Wunder. Visavis vom Schachpalast
steht Topalows Villa. Deutlich zu erkennen an der dort wehenden bulgarischen
Flagge.

Mit meinem Moskauer
Kollegen Jewgeni Gik können wir eines Vormittags vor der Partie in die Residenz
des FIDE-Champions eindringen. Zwei Hostessen des Organisationsteams
erleichterten uns die Sache. Wir gehen ihnen einfach hinterher, so dass die
einfach gestrickten Security-Boys aus Kalmückien denken, wir gehören dazu.

Im Foyer sitzen Topalow, seine Sekundanten Ivan Cheparinow und Alexander
Onischuk. Francisco Vallejo ist nicht zu sehen. Weselin selbst will nichts
sagen, bittet auch darum, keine Fotos zu machen. Aber sein Manager empfängt uns
fröhlich. Wir steigen eine Treppe hinauf in einen gemütlichen Salon.

Danailov mit Hostessen

Jedes Team hat neben dem
Manager und den Sekundanten, einen Physiotherapeuten und einen Koch. Topalow
brachte nach Elista auch noch einen Hellseher mit. So wurde es jedenfalls vorher
in die Welt gesetzt. Offiziell gehört dieser nicht zum Team, doch physisch
existiert er, erfahren wir von Silvio Danailow. Einige Minuten scherzen wir, das
Gespräch dreht sich um Wahrsagen, Betrügen und andere dubiose Dinge. Der
Fragesteller ahnt nicht im Entferntesten, dass nach dem ersten Matchdrittel aus
dem Scherz bitterer Ernst wird.
Wie ist der Name des
Hellsehers, Silvio?
„Er heißt Sergej und weiß
übrigens das Ergebnis des WM-Matchs schon.
Und, wie geht das Duell
aus?
Lasst euch überraschen.
Ihr habt euch viele
Vorwürfe anhören müssen, dass bei der WM in San Luis während der Partien
betrogen wurde. Was ist an der Geschichte dran?
Natürlich nichts.
Komm schon. Unsere Leser
interessiert vor allem, wie der Mikrochip in Weselins Kopf eingepflanzt wurde?
Auf brutale Weise. Wir
bohrten mit der Maschine ein Loch in seine Stirn.
Zeig mal, wo!
Hier oben über den Augen.

Team Topalov
Und dann?
Setzten wir den Mikrochip
ein und klebten das Loch wieder zu.
Hm. Wo versteckt ihr
denn hier euren Hellseher?
Ihr seid gerade an ihm
vorbeigegangen, grinste Danailow.
(Ich drehte mich um.
Niemand zu sehen.)
Das ist ein virtueller
Hellseher, darum habt ihr ihn nicht bemerkt.“
Wir wollten nicht wieder
auf die Straße gehen, ohne wenigstens eines der Geheimnisse Topalows wirklich
gelüftet zu haben. Wichtiger ist es allerdings, dass dies Kramnik am Brett
gelingt, dachte ich. Nachdem wir genug gescherzt hatten, kamen wir doch noch zur
Sache.
Wie war die Präparation
auf das WM-Duell?
Wir haben in der
Vorbereitung alles getan und wollen gewinnen. Weselin kämpft in jeder Partie um
den Sieg. Kramnik ist anders gestrickt. Er gibt sich auch mit Remis zufrieden,
wenn die Stellung noch nicht ausgekämpft ist. Das wollen wir nutzen. Weselins
große Stärke ist der Kampfgeist.
Ist damit auch der
merkwürdige Turnierverlauf in Sofia zu erklären?
Ja. Alle fragten sich, wie
kam sein gewaltiger Endspurt zustande? Ganz einfach. Durch kämpferisches Schach
und Energie bis zuletzt. Die anderen haben hingegen alle nachgelassen.
Ponomarjow zum Beispiel
stand gegen Topalow glatt auf Gewinn.
Ja. Er konnte einzügig
gegen Vesko gewinnen, und hat es nicht geschafft. Auch die anderen hatten am
Ende keine Power mehr. Das ist alles.
Gegen Wladimir Kramnik wird
es hier viel schwerer. Der ist mit Sicherheit sehr gut vorbereitet und hat auch,
wie immer vor großen Matches, an seiner Physis gearbeitet.
An einem anderen Tag gehe
ich zu Kramniks Villa, möchte dort mit Carsten Hensel einen Kaffee trinken. An
der Hauswand hängt im Gegensatz zu Topalows Residenz keine Staatsflagge.

Ich brauche einige Minuten,
um der Wache klarzumachen, dass ich verabredet bin. Bis in den Vorraum darf ich,
dann muss ich warten.

Ein Uniformierter sucht
lange, findet Carsten aber nicht. Stattdessen kommt Waleri Krylow heraus. Der
legendäre Therapeut aus Moskau hat schon Karpow betreut und vor diesem viele
Olympiasieger und Weltmeister in anderen Sportarten. Mit Wladimir Kramnik
arbeitet der 64-Jährige nun auch schon mehr als zehn Jahre zusammen, machte ihn
u.a. für die WM-Matches gegen Kasparow und Leko fit. „Bei aller Freundschaft,
ich kann dich nicht hineinlassen. Die Jungs schlafen noch alle, waren gestern
lange auf“ (es war der Morgen nach Kramniks zweiter Gewinnpartie).
Das Gespräch mit Carsten
Hensel findet dann am Nachmittag im Pressezentrum statt. Schon vor Elista hatte
mit der Dortmunder gesagt: „Das Match wird mehr als hart. In Elista wird es
Krieg geben. Einen größeren als 1972 in Reykjavik zwischen Fischer und Spasski.“
Ich hielt das damals für übertrieben. Die nächsten Tage in Elista belehren uns
alle eines Besseren. Carsten Hensel, der Silvio Danailow seit San Luis 2005
nicht mehr vertraut, hat die Lage nüchterner eingeschätzt. Die beiden Manager
waren sich damals in Argentinien einig über einen attraktiven WM-Austragungsort
in Mitteleuropa. Die WM-Börse stand, alles schien geregelt. Bis die Bulgaren
einen Rückzieher machten, mit dem Hinweis, dass es nicht interessant sei, gegen
Kramnik zu spielen. Was und wer steckte dahinter? Und wie kam es nach ein paar
Monaten zum plötzlichen Sinneswandel Topalows, doch gegen Kramnik zu spielen,
aber am Ende der Welt in Elista? Wir werden wohl im Moment nicht auf jede Frage
eine schlüssige Antwort bekommen. Die Schachwelt war ja erst einmal froh, dass
ein Vereinigungsmatch überhaupt stattfindet.
Was mit der schönen
Eröffnungsfeier und den ersten Partien in Elista so großartig begann, wird nach
einer knappen Woche zum Albtraum. Die Fakten sind bekannt,. nach Partie 4
beginnt der Psychokrieg außerhalb des Bretts. Danailows absurde Anschuldigungen
in Richtung Kramnik sind auch auf dieser Website mehr als ausführlich
dargestellt und kommentiert worden.
FIDE-Präsident Iljumschinow
erfährt von der ernsten Krise bei einem Treffen mit Putin in Sotschi. Nach
peinlichen Fragen des russischen Präsidenten, was da in seinem Elista bei der
Schach-WM auf der Toilette vor sich gehe, eilt der Kalmücke schleunigst zurück
und schlägt sein Lager direkt in City Chess auf. Dort wird tage- und nächtelang
verhandelt. Wenn die Luft im Raum zu dick wird, geht man nach draußen und redet
weiter. Iljumschinow will und muss das Match retten. Er übernachtet im
olympischen Dort, um in jeder Minute bei den Kampfhähnen und ihren
Verhandlungsführern sein zu können. Der Kreml pocht, wie man hört, auch darauf,
dass es weitergeht.
Aus dem friedlichen City
Chess ist ein Schauplatz der Auseinandersetzung geworden, wo von den
Konfliktpartien sowie dem FIDE-Chef alle Register gezogen werden. Bitten und
Drohungen, Psychologie und harte Worte, Zuckerbrot und Peitsche wechseln
einander ab. Kramnik bekommt in allen Punkten Recht, nur die Null wegen seines
Nichtantritts im fünften Spiel bleibt stehen. Iljumschinow soll sich in Lausanne
über die juristischen Feinheiten erkundigt haben. Aber auch Kramniks Manager hat
mit Reinhard Rauball aus Dortmund einen exzellenten Sportjuristen an seiner
Seite. Ab Partie 6 jedenfalls spielt sein Mandant nur unter Vorbehalt und lässt
sich die Möglichkeit offen, den Minuspunkt per Klage wieder loszuwerden.
Der weltweiten
Unterstützung seiner Großmeisterkollegen kann sich Wladimir Kramnik sicher sein.
Ich telefoniere während der heißen Phase, als der Abbruch des Matchs in der Luft
hängt, mit Anatoli Karpow und frage nach seiner Meinung. Der Exweltmeister sagt:
„Kramnik ist um einen Punkt betrogen worden. Ich hätte an seiner Stelle gar
nicht weiter gespielt.“ Einige Tage später stimmt gar Karpows Erzfeind
Kortschnoi ihm zu und sagt dasselbe. Karpow verweist darauf, dass man bei der
Auswahl des Appellationskomitees Sorgfalt walten lassen muss: „Früher wurden von
der FIDE fünf Namen genannt, und die Spieler konnten dann drei Personen ihres
Vertrauens auswählen. Es gab dabei nicht immer Übereinstimmungen. Aber man
bildete eine Rangfolge, und wer die meisten Punkte bekam, wurde Mitglied der
Jury“.
Was nicht nur den
Berichterstatter, sondern viele Beobachter stutzig macht, ist die Tatsache, dass
Makropoulos trotz Amtsenthebung als Mitglied des AC weiter in Elista als
FIDE-Beobachter bleiben darf. Auch Jorge Vega, der Kontinentalpräsident
Amerikas, waltet weiter seines Amtes.

Jorge Vega
Und vom neu hinzugezogenen
Bors Kutin weiß man, wie gewogen er Iljumschinow ist. Vor Turin betrieb der
ECU-Präsident trotz anderer Haltung seiner Organisation (die war für Bessel Kok)
Wahlpropaganda für den kalmückischen FIDE-Chef. Nibelungentreue wird eben auch
heute noch belohnt.
Mit einem weiteren
Störmanöver (Fritz-Statistik von Kramniks Zügen) macht sich der Topalow-Manager
vor ein paar Tagen in der Schachwelt vollends unmöglich. Die Kommentare in den
Zeitungen und der Schachpresse sind entsprechend. Interessant wird sein, wie die
großen Schachveranstalter in Wijk aan Zee, Linares usw. künftig zu Danailow
stehen werden, der vom Grand Slam des königlichen Spiels träumt, aber nur die
Städte einbinden will, die genügend Kohle für die großen Stars hinlegen.
Dortmund würde nach Danailows Rechnung nicht dazugehören, womit sich der Kreis
zu Carsten Hensel wieder schließt. Die beiden werden in diesem Leben mit
Sicherheit keine Freunde mehr.
Die Sticheleien der
bulgarischen Seite gehen weiter. Ist Bobby Fischer mit seinem kapriziösen
Verhalten ihr Vorbild? Seit einigen Partien erscheint Topalow in Elista erst
nach Kramnik zur Pressekonferenz. In einem Interview mit der Sofioter Zeitung „Trud“
vom Samstag lässt der Bulgare wenig Gutes an seinem Gegner und wärmt die
Toilettenstory noch mal auf. Darüber hinaus wirft er ChessBase News eine
einseitige Berichterstattung klar zugunsten von Kramnik vor.
Trotz alledem bleibt die
Weltmeisterschaft Gott sei Dank bis zum Schluss spannend. Nach Weselin Topalows
Doppelschlag in Partie 8 und 9 hat sich Wladimir Kramnik nun wieder gefangen und
im zehnten Spiel eindrucksvoll zurückgelangt. Ob ihm sein vorheriger Besuch im
Buddha-Tempel von Elista etwa geholfen hat? Psychologisch scheint der Moskauer
jetzt im Vorteil zu sein. Die Spannung wird bis zum Donnerstag jedenfalls noch
weiter steigen. Denkbar sind jetzt vor allem zwei Szenarien: Nach 12 Partien
gibt es ein 6:6 und Tiebreak. Oder die Geschichte von Brissago wiederholt sich,
Kramnik gewinnt wie damals gegen Leko die letzte Partie mit Weiß und bleibt
Weltmeister! Vielleicht kommt alles auch ganz anders…
Text und Fotos: Dagobert Kohlmeyer