Krise? Welche Krise?

von André Schulz
02.05.2019 – Nachdem Magnus Carlsen kometenhaft in die Weltspitze aufgestiegen war und Weltmeister wurde, lief es in den folgenden Jahren nicht mehr ganz so rund. Besonders im letzten Jahr war der Weltmeister mit seinem Schach unzufrieden. Doch jetzt hat der Norweger seine alte Form wieder gefunden. | Foto: Die Sieger mit Antje Leminsky (Eric van Reem)

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Magnus Carlsen 

In der aktuellen Weltrangliste der FIDE vom 1. Mai wurden die Grenke Chess Classic noch gar nicht berücksichtigt. Allein schon mit seinen Ergebnissen in Wijk aan Zee und Shamkir hat Magnus Carlsen im Laufe des Jahres 2019 fast 30 Elopunkte hinzu gewonnen und thront jetzt mit Elo 2861 und 45 Punkten vor Fabiano Caruana über allen anderen Schachspielern der Welt. 45 Elopunkte - das ist auch der Abstand vom Zweiten, Caruana, zum Neunten der Weltrangliste, Alexander Grischuk. Mit seinem ebenso überragenden Ergebnis in Karlsruhe/Baden-Baden springt Carlsen auf Elo 2875 in der Live-Eloliste und ist von seinem Rekordergebnis vom Mai 2014, als er 2882 erreichte, nicht mehr weit entfernt. 

Magnus Carlsen schien schon mit der Art seiner Titelverteidigung gegen Sergey Karjakin 2016 in New York nicht zufrieden gewesen zu sein. Beim Tata Steel-Turnier 2017 wurde er dann als Zweiter von Wesley So übertroffen. Und beim folgenden Grenke Turnier 2017 stahl ihm Levon Aronian klar die Show und hängte den Weltmeister gleich um 1,5 Punkte ab.

Bei seinem Heimturnier in Stavanger landete Carlsen gar nur im hinteren Mittelfeld und war mit zwei Niederlagen nach Wertung nur Vorletzter. Besser war es dann beim Sinquefield Cup, wo Carlsen immerhin wieder einen guten zweiten Platz belegte, diesmal hinter Maxime Vachier-Lagrave.

Etwas überraschend nahm Magnus Carlsen dann am World Cup teil, schied aber früh gegen Bu Xiangzhi aus. Das hatte allerdings auch sein Gutes, denn so konnte Carlsen noch auf die Isle of Man eilen, um hier am ausgezeichnet besetzten Open teilzunehmen, das er überzeugend gewann. Die folgenden Wochen waren durch Schaukämpfe und viele Aktivitäten bei Online-Blitzturnieren geprägt. Das Turnierjahr 2017 schloss der Weltmeister dann bei den London Chess Classic wenig erfolgreich mit einem Platz im Mittelfeld ab. 

Das Turnierjahr 2018 begann nicht schlecht, mit einem geteilten ersten Platz beim Tata Steel Turnier in Wijk aan Zee, zusammen mit Anish Giri. Bei den Grenke Chess Classic wurde Carlsen von Fabian Caruana übertroffen, der gerade das Kandidatenturnier gewonnen hatte und eigentlich hätte müde sein müssen. War er aber nicht. So reichten Carlsen solide "plus 2" nicht, da Caruana "plus 4" spielte. Im Gashimov Memorial konnte Carlsen nachlegen, kam auf "plus 3" und gewann das Turnier. Doch seine gute Form konnte er nicht bis zum Norway Chess Turnier konservieren, verlor dort eine Partie gegen Wesley So, wurde aber immerhin noch Zweiter, hinter Caruana. Carlsen spielte dann beim Turnier in Biel mit, wurde hier aber von Shakhriyar Mamedyarov übertroffen, gegen den er eine seiner beiden Partien verlor. Carlsen kam auf "plus 2", war aber beim Zieleinlauf ganze 1,5 Punkte hinter dem Sieger.

Im Sinquefield Cup reichten "plus 2" zum ersten Platz, den Carlsen sich aber mit Levon Aronian und Fabiano Caruana teilen musste - nach Wertung wurde er Zweiter. Schließlich hatte Carlsen sich auch noch - kurz vor Beginn der Weltmeisterschaft - zu einer Teilnahme am Europacup der Vereine in Porto Carras überreden lassen, erzielte aber mit "+ 1" auch nur ein eher schwaches Ergebnis. 

Dann folgte der Wettkampf um die Weltmeisterschaft gegen Fabiano Caruana. Der US-Großmeister war in der Weltrangliste inzwischen schon bedenklich nahe an Carlsen heran gerückt. Caruana befand sich ohne Zweifel in Topform, während Magnus Carlsen mit seinem eigenen Schach haderte und unzufrieden war. Auf der Eröffnungspressekonferenz wurden die Spieler gefragt, wen sie zum Vorbild hätten, und Carlsen antwortete sein Vorbild sei er selber, so wie er vor ein paar Jahren gespielt hätte. Was die anwesenden Journalisten für einen guten Witz hielten, hatte der Norweger aber durchaus ernst gemeint.

Im Wettkampf gegen den Herausforderer bewies der Weltmeister immerhin, dass er so gut wie unbesiegbar ist, wenn er selber kein großes Risiko eingeht. Alle zwölf Partien endeten remis. Im folgenden Stichkampf bewies Carlsen dann allerdings auch noch, dass sein Leistungsvorsprung gegenüber dem Rest der Spitzenspieler bei kürzeren Bedenkzeiten noch größer ist als auf der langen Distanz. 

Nach dem Wettkampf gab es einiges Gemecker über die vielen Remispartien, vom Fachpublikum aber auch Lob für das hohe Niveau der Partien. Trotzdem schien es, als ob Magnus Carlsen den Spaß am Schach etwas verloren hätte. Seine Schwester machte während der WM auf Twitter Andeutungen, als ob Carlsen sich vom Schach zurückziehen wolle.

Dann gewann Magnus Carlsen im Dezember 2018 in St. Petersburg die Blitzweltmeisterschaft und später tat er kund, dass er durch dieses Turnier den Spaß am Schach zurück gewonnen hätte. 2019 wirkt der beste Spieler der Welt dann wie ausgewechselt.

Carlsens Turnierjahr begann mit "+5" beim Tata Steel Turnier. Das reichte, um den ebenfalls formstarken Anish Giri auf den zweiten Platz zu verweisen. In Shamkir wiederholte Carlsen seinen Erfolg, wieder "plus 5", diesmal allerdings nach nur neun Runden. Und bei den Grenke Classic legte der Weltmeister sogar noch eine Schippe drauf. Hier wurden es "plus 6". Eloleistung: 2942 Elopunkte.

Von den bisher 2019 gespielten 31 Partien gewann Carlsen 16 Partien. 15 Partien spielte er remis. Es ist überhaupt lange her, dass jemand gegen Carlsen gewinnen konnte. Seit 59 Partien ist er unbesiegt. 

Carlsen ist wieder so gut wie in seinen besten Zeit und hält es sogar für möglich, Elo 2900 zu knacken. 

Interview mit dem Weltmeister nach seinem Sieg bei den Grenke Classic

Video: Grenke

Es sind aber nicht nur die guten Ergebnisse, die beeindrucken, es ist vor allem die Art und Weise, wie Carlsen seine Partien gewinnt. In früheren Jahren beeindruckte der Norweger durch sein tiefes Schachverständnis, seine Ausdauer und seine weltmeisterliche Spielkunst im Endspiel. Jetzt schient es, als ob Carlsen in seinen strategischen Spielanlagen eine noch tiefere Erkenntnisstufe erreicht hätte. In einem Interview berichtete Carlsen en passant, dass er die Partien des neuen Über-Schachprogramms AlphaZero studiert hätte. Das haben viele andere Spieler auch. Aber vielleicht hat Magnus Carlsen sie besser verstanden? 

Allerdings hat der Weltmeister auch sein Eröffnungsprogramm verbessert. Mit der Sweshnikow-Variante kam frischer Wind in sein Schwarzrepertoire, gelegentlich experimentiert er auch mit der Königsindischen Verteidigung. Und seine Englische Eröffnung ist eine Waffe. Eins ist nun klar: Magnus Carlsen, noch keine 30 Jahre alt, hat seine schachliche Entwicklung bei Weitem noch nicht abgeschlossen. Die Schachwelt ist gespannt, wohin sie ihn führen wird. Und es macht viel Spaß ihm dabei zuzuschauen.

 


André Schulz, seit 1991 bei ChessBase, ist seit 1997 der Redakteur der deutschsprachigen ChessBase Schachnachrichten-Seite.

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