While Justice Sleeps ist ein routiniert geschriebener Thriller mit kompliziertem Plot. Die Geschichte beginnt, als Howard Wynn, streitbarer und brillanter Jurist und einer von neun Richtern am Supreme Court, dem obersten Gericht der USA, in ein Koma fällt. Doch noch vorher hatte der Richter festgelegt, wer in einem solchen Fall sein gesetzlicher Vormund wird und unter anderem über die Verlängerung lebenserhaltender Maßnahmen entscheiden sollte: nicht seine Frau, nicht sein Sohn, seine nächsten Angehörigen, sondern die junge Rechtsreferendarin Avery Keene, eine seiner Angestellten.
Keine einfache Aufgabe für die junge Juristin, denn eigentlich sollte der Richter im Supreme Court in wenigen Wochen über den Zusammenschluss zweier großer Biotechnologiefirmen befinden. Eine Entscheidung, bei der es um sehr viel Geld, die Möglichkeit der Heilung zahlreicher Krankheiten, aber auch die Möglichkeit der Manipulation von genetischem Material geht.
Bei ihren Nachforschungen, wie Richter Wynn zum Zusammenschluss der beiden Firmen stand, stößt Avery auf die Partie Lasker – Bauer, die für Wynn, einen leidenschaftlichen Schachspieler, mehr als nur eine hübsche Partie gewesen zu sein scheint, sondern mit der er Avery auch eine Botschaft übermitteln will. Allerdings muss sie diese Botschaft schnell verstehen, denn in ihrer neuen Rolle als gesetzlicher Vormund wird sie zur Zielscheibe mächtiger politischer Interessengruppen, die wollen, dass der Richter möglichst bald stirbt, damit der freigewordene Posten am Supreme Court neu und politisch konformer besetzt werden kann.
Doch nach etlichen erfolgreich überstandenen Anschlägen auf ihr Leben, findet Avery schließlich heraus, wer ihr Gegner ist, und kann bei dem für das Genre des Justizthrillers obligatorischen Showdown vor Gericht ihren juristischen Sachverstand beweisen und im Sinne des Richters handeln.
Dabei ist die Begegnung Lasker-Bauer allerdings nicht die einzige Schachpartie, auf die Avery und ihre Helfer und Freunde im Laufe ihrer Recherche stoßen. So entdecken sie im Ferienhaus des Richters das folgende kryptische Manuskript:
Bei näherem Hinsehen dürften Schachspieler schnell erkennen, dass der auf den ersten Blick unverständliche Code die Notation einer Schachpartie darstellt, in der die englischen Figurenbezeichnungen K, Q, R, B und N, für King, Queen, Rook, Bishop und Knight durch R, V, H, O und G ersetzt worden sind.
Historisch versierte Schachspieler erkennen vielleicht auch, wer hier gegen wen gespielt hat: es ist die Partie Kasparov gegen die Welt, die vom 21. Juni bis 22. Oktober 1999 über das Internet gespielt worden ist, und in der Kasparov gegen Schachspieler aus aller Welt antrat, die nach virtueller Beratung mit einem Team aus Experten und Expertinnen jeden Tag über ihren Zug abstimmten.
Garry Kasparov | Foto: ChessBase
Kasparov bezeichnete die ungewöhnlich inhaltsreiche Partie voller Finessen hinterher als "Die größte Partie der Schachgeschichte. Die schiere Zahl der Ideen, die Komplexität und den Beitrag, die sie zum Schach geleistet hat, machen sie zur wichtigsten Partie, die je gespielt wurde." (Zitiert in Tim Harding, 64 Great Chess Games, Dublin: Chess Mail 2002. Quelle des Zitats: Wikipedia.) Zusammen mit Daniel King hat Kasparov unter dem Titel Kasparov Against the World: The Story of the Greatest Online Challenge auch ein Buch über diese Partie geschrieben, das im Jahr 2000 erschien.
Allerdings sind beide Schachpartien nur mehr oder weniger überzeugendes Beiwerk in Abrams’ Justizthriller, der zwar spannend ist, aber doch vielen bekannten Mustern des Genres folgt und sowohl in Sachen Logik als auch bei der Zeichnung der Figuren nicht immer überzeugt.
Trotzdem, und bei allen Schwächen der oft gewollt wirkenden schachlichen Vergleiche, die sich durch das Buch ziehen, ist es irgendwie nett, Schachpartien wie Kasparov gegen die Welt oder Lasker – Bauer in einem modernen Justizthriller zu entdecken.
Sei es auch nur, um sich diese Partien noch einmal in Erinnerung zu rufen.
Aufmerksamkeit dürfte While Justice Sleeps auch weniger wegen der dort verwendeten Schachmotive bekommen, sondern vor allem durch die Autorin Stacey Abrams, die in den USA eine sehr prominente politische Figur ist.
Stacey Abrams 2019 | Foto: Sister Circle TV (https://youtu.be/lfYj0Ckdj9E) Quelle: Wikipedia
Abrams wurde am 9. Dezember 1973 geboren und studierte an der renommierten Yale University Jura. Sie ist Mitglied der Demokratischen Partei und war ab 2011 Vorsitzende der Fraktion der Demokraten im Bundesstaat Georgia. Dort bewarb sie sich 2018 auf den Posten des Gouverneurs und ist damit die erste schwarze Frau der US-Geschichte, die von einer der beiden großen Parteien für ein Gouverneursamt aufgestellt wurde.
Allerdings unterlag Abrams bei der Wahl dem Republikaner Kemp knapp mit 48,8% zu 50,3% der Stimmen. Zuvor hatte Kemp als amtierender Secretary of State jedoch eine Reihe von Maßnahmen durchgesetzt, die Kritiker als Versuche bezeichneten, demokratisch geneigten Wählern die Teilnahme an der Abstimmung zu erschweren oder sie auszuschließen.
Abrams klagte gegen die Wahl und gründete zugleich die Initiative Fair Fight Action, mit der sie zahlreiche Wählerstimmen mobilisieren konnte, die bei der Präsidentschaftswahl 2020 maßgeblich dazu beigetragen haben, dass das Wahlergebnis in Georgia, einem traditionell republikanischen Staat, zugunsten von Herausforderer Joe Biden ausging.
Neben ihrer politischen Karriere und ihrer Karriere als Juristin feierte Abrams auch als Autorin Erfolge. Ihre beiden Sachbücher Our Time is Now und Lead from the Outside schafften es auf die Bestsellerliste der New York Times und außerdem veröffentlichte sie unter dem Pseudonym Selena Montgomery acht Romane. While Justice Sleeps ist der erste Roman, der unter ihrem wirklichen Namen erscheint.
Stacey Abrams, While Justice Sleeps, Doubleday Mai 2021, 384 Seiten, ca. 17,00 Euro
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Schach in der Literatur