Lienz, Kalmückien, Schach

von ChessBase
26.06.2005 – Seit bald 10 Jahren werden die Geschicke des Weltschachbundes maßgeblich in der kalmückischen Hauptstadt Elista beeinflusst. Der kalmückische Staatspräsident Kirsan Ilyumshinov ist seit dieser Zeit Präsident des Weltschachbundes FIDE. Wie er in seiner Autobiografie schreibt, wird in Kalmückien die Herkunft des Schachs nach buddhistischer Tradition erklärt, wonach es den Menschen von den Göttern geschenkt wurde. Nach der russischen Revolution und durch die Vorgänge infolge des Zweiten des Zweiten Weltkriegs war das Volk der Kalmücken in seiner Existenz bedroht. Die unterdrückten Kalmückischen hatten in Kosakenverbänden auf Seiten der deutschen Reichswehr gekämpft. Zum Ende des Kriegs wurden die nach Lienz, Tirol, geflüchteten Kosaken mit ihren Familien von den Engländern an die Sowjets ausgeliefert ihrem Schicksal überlassen. Gegenwärtig sind diese Geschehnisse Gegenstand eines Projektes und einer Ausstellung der Universität Innsbruck. Gerald Schendel stellt in einem ausführlichen Beitrag die Hintergründe dar und erklärt, welche Rolle das Schachspiel in diesen historischen Vorgängen spielt. Bericht bei ARD... Bericht bei ORF... Projekt der Universität Innsbruck... Zur Autobiografie von Kirsan Iljumschinov...Mehr...

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1945: Die kalmückischen Kamele
Von Gerald Schendel

1. Das Abkommen von Jalta

Gegen Ende des zweiten Weltkrieges zogen mehrere Kosakenverbände, die an der Seite der deutschen Wehrmacht gekämpft hatten, in das von Briten besetzte Gebiet von Oberkärnten und Osttirol. Darunter befand sich auch das von Helmuth von Pannwitz kommandierte XV. Kosaken-Kavallerie-Korps, zu dem ein kalmückisches Kavallerieregiment gehörte, das in die 3. Plastun-Brigade des Oberst (zuletzt Generalmajor) Iwan Kononow eingegliedert worden war.

Für das Schicksal dieser Menschen wurde ein Abkommen bestimmend, das während der Konferenz von Jalta (4.-11. Februar 1945) auf der Krim unterzeichnet worden war. In dem von Stalin, Roosevelt und Churchill unterzeichneten Protokoll der Arbeit der Krimkonferenz hieß es hierzu:

"Auf der Krimkonferenz fanden zwischen der britischen, der amerikanischen und der sowjetischen Delegation Verhandlungen mit dem Ziel statt, ein umfassendes Abkommen über Maßnahmen für den Schutz, den Unterhalt und die Repatriierung von Kriegsgefangenen und Zivilpersonen Großbritanniens, der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten von Amerika zu schließen, welche durch die jetzt in Deutschland einziehenden alliierten Streitkräfte befreit wurden. Die Texte der am 11. Februar unterzeichneten Abkommen zwischen der UdSSR und Großbritannien und zwischen der UdSSR und den Vereinigten Staaten von Amerika sind identisch. Das Abkommen zwischen der Sowjetunion und Großbritannien wurde von W. M. Molotow und Herrn Eden unterzeichnet. Das Abkommen zwischen der Sowjetunion und den Vereinigten Staaten von Amerika haben Generalleutnant Gryslow und General Dean unterzeichnet.
(...) Da jetzt eine Vereinbarung erzielt worden ist, verpflichten sich die drei Regierungen, jeden Beistand zu leisten, welcher mit den Erfordernissen der Durchführung von militärischen Operationen vereinbar ist, um dazu beizutragen, dass alle diese Kriegsgefangenen und Zivilpersonen schnell repatriiert werden."

Quelle: Teheran - Jalta - Potsdam. Dokumentensammlung, herausgegeben von Sch. P. Sanakojew und B. L. Zybulewski, Deutsche Übersetzung Verlag Progreß Moskau 1978, Röderberg-Verlag Frankfurt/M., S. 212 f.

Ein entsprechendes sowjetisch-französisches Abkommen wurde am 27. Juni 1945 unterzeichnet. Vorgesehen war eine Repatriierung "nötigenfalls unter Zwang" (vergl. Wolfgang Jacobmeyer, Vom Zwangsarbeiter zum heimatlosen Ausländer. Die Displaced Persons in Westdeutschland 1945-1951, Göttingen 1985, S. 82).

Es gab auf dem von alliierten Streitkräften befreiten Territorium mehrere Gruppen von Menschen, die sich nicht repatriieren lassen wollten: Polen, Balten, Ukrainer... Betroffen waren u.a. bekannte Schachspieler wie der Ukrainer F. P. Bohatirchuk (oder Bogatyrtschuk; er war 1927 UdSSR-Champion, versteckte sich nach dem Krieg zunächst in Bayern und wanderte später nach Kanada aus) oder der Lette
E. Zemgalis, der von Deutschland aus in die USA auswanderte (während der ersten Jahre seines Aufenthalts in Deutschland musste er die französische Besatzungszone meiden,weil die Franzosen im Gegensatz zu Briten und Amerikanern bis Juli 1947 auch Balten gewaltsam repatriierten [vergl. Tommie Sjöberg, The Powers and the Persecuted. The Refugee Problem and the Intergovernmental Committee on Refugees (IGCR), 1938-1947, Lund University Press 1991, S. 174).

Die Kosakenverbände in der Gegend um Lienz hatten sich der britischen Besatzungsmacht in der Erwartung ergeben, sie würden entweder in eine der britischen Kolonien gebracht oder demnächst in einem Krieg der Westmächte gegen die Sowjetunion eingesetzt werden. Den Briten wiederum war klar, dass die Repatriierung der Kosaken gemäß der Vereinbarung von Jalta für diese bedeutete, sie zu "Sklaverei, Folter und möglicherweise zum Tod zu verdammen" (Tagebuch-Eintrag von Harold Macmillan), doch am 27. Mai 1945 erhielten die britischen Verbände im Raum Osttirol und Oberkärnten unter strengster Geheimhaltung die Order, die Repatriierung durchzuführen.

Die Aktion begann am 28. Mai: über 1.500 Offiziere aus mehreren Lagern (darunter Alt-Emigranten, die nie Sowjetbürger gewesen waren, und deutsches Rahmenpersonal) wurden zu einer erfundenen Konferenz in Spittal/Drau gelockt. Dort wurden sie festgenommen und zur Demarkationslinie im steirischen Judenburg transportiert, wo sie den jenseits der Murbrücke wartenden Sowjets übergeben wurden. Danach ging man gegen die führungslos gewordenen Kosaken vor. In einem Lager wurde am Morgen des 1. Juni passiver Widerstand geleistet (darauf bezieht sich ein Gemälde von S. G. Korolkoff), die weiteren Transporte gingen ohne Widerstand vor sich. Bis Mitte Juni wurden über 22.500 Kosaken und Kaukasier (und Reste des Kalmückenverbandes) aus dem Drautal an die Sowjets ausgeliefert. Von denjenigen, die vor Festnahme und Auslieferung geflüchtet waren, griffen die Briten im Zeitraum vom 7. bis 30. Juni 1.356 Personen auf und lieferten sie aus. Nur wenigen gelang die Flucht.

James Bond (dargestellt von Pierce Brosnan)
kommentierte die Auslieferung der Kosaken an die Sowjetunion in dem Film Goldeneye (1995) mit den Worten: "Not exactly our finest hour."


 "Verrat an den Kosaken bei Lienz"; Gemälde von S. G. Korolkoff (1957)

2. Zur Ausstellung in Lienz

Ausgangspunkt der von dem Archäologen a.o. Univ.-Prof. Dr. Harald Stadler im Jahre 2002 in Lienz initiierten Ausstellung war nicht eine zeitgeschichtliche, sondern eine archäologische Fragestellung: "Was und wieviel bleibt von 25.000 Personen, die sich einen Monat lang in einer Region aufhalten, zurück? Wieviel wird wie lange weiterverwendet, umgenutzt oder kommt in den Boden?" Aus diesem Ansatz entwickelte sich ein interdisziplinäres Forschungsprojekt, an dem sich der Ethnologe Mag. phil. Karl C. Berger beteiligte. Im Buch zur Ausstellung (H. Stadler / M. Kofler / K. C. Berger, Flucht in die Hoffnungslosigkeit. Die Kosaken in Osttirol, Studienverlag 2005) erläutert der Historiker Dr. Martin Kofler den zeitgeschichtlichen Hintergrund.

Obwohl die Geschehnisse bereits 60 Jahre zurückliegen, rufen sie heute noch bei allen Beteiligten große Emotionen hervor. In England ist noch vor wenigen Jahren der britische Historiker Nikolai Tolstoy wegen seiner Darstellung des Geschehens (Die Verratenen von Jalta) in ein Gerichtsverfahren verwickelt worden, über das er sich in einem Interview im April 2002 mit
pravda.ru geäußert hat. Bei der Vorbereitung der Ausstellung in Lienz ist die politische und militärische Geschichte bewusst nicht in den Vordergrund gestellt worden. Es ging vielmehr darum, den Alltag der Kosaken in den Lagern nachzuzeichnen.

Von geschätzten 2,5 Millionen Objekten sind ca. 200 obertägig im Gebiet verblieben. Aus finanziellen Gründen sind aber bei weitem nicht alle "Fundhoffnungsgebiete" schon erschlossen worden. Daher markiert die jetzige Ausstellung in Lienz nur einen Zwischenstand der Forschung. In den nächsten Jahren sollen z.B. zwei große Gruben sondiert werden, in denen die Reste der zurückgelassenen Habseligkeiten auf Befehl der britischen Besatzungsmacht verbrannt wurden und unter die Erde gekommen sind. Ob man dort Reste von Schachspielen finden wird?

In der Lienzer Ausstellung wird belegt, dass die Kosaken gelegentlich gespielt haben. In dem vom 22. Juni 1941 bis 2. Januar 1945 geführten Tagebuch des Don-Kosaken Iwan Nikolajewitsch Tscherenkow ist das Kartenspiel mehrmals erwähnt. Einheimische hatten dieses Tagebuch in ihrem Haus auf dem Dachboden entdeckt und stellten es jetzt den Ausstellungsgestaltern zur Verfügung. Es bildet quasi den "roten Faden" der Ausstellung.

Militärhistorikern ist bekannt, dass die deutsche Wehrmacht dem 1945 bei Lienz gestrandeten Kalmücken-Verband im April 1943 die Lieferung von Musikinstrumenten, Spielen und ähnlichem "Betreuungsmaterial" zugesichert hat (Joachim Hoffmann, Deutsche und Kalmyken 1942 bis 1945, Einzelschriften zur militärischen Geschichte des Zweiten Weltkrieges Bd. 14, herausgegeben vom Militärgeschichtlichen Forschungsamt, 4., unveränderte Auflage [1. Aufl. 1973], Freiburg i. Br. 1986, S. 117). Dieses Material muss irgendwo geblieben sein, und es ist zu vermuten, dass sich darunter Schachspiele befunden haben.

Peter Simon Pallas (1741-1811) war ein deutscher Forschungsreisender, den die russische Zarin Katharina II. 1768 beauftragt hatte, die Situation in wenig bekannten Teilen des russischen Reiches zu erkunden. 1769 bereiste Pallas erstmals die Kalmückensteppe und erstellte eine gründliche völkerkundliche Monografie. Seine Schriften wurden weithin bekannt, von vielen erschienen Übersetzungen. Der Schachhistoriker Antonius van der Linde zitierte in Geschichte und Literatur des Schachspiels, Berlin 1874 (Bd. I, S. 63) aus Pallas, Sammlung historischer Nachrichten über die mongolischen Völkerschaften (St. Petersburg 1776, Bd. I, S. 157) zum Schachspiel der Kalmücken. 1778 erschien in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur (1. Vierteljahr, S. 249-278) ein Auszug aus der Pallas-Publikation von 1776. Darin ist auf Seite 272 zu lesen, dass die erwachsenen kalmückischen Männer in ihrer Freizeit gerne Karten und Schach spielten.



Wenn die traditionsbewußten Kalmücken im 18. Jahrhundert gerne Schach spielten, so ist zu vermuten, dass sich daran im 20. Jahrhundert, in dem Schach von der Sowjetunion staatlich gefördert wurde, nicht viel geändert hat. Kirsan Nikolajewitsch Iljumschinow, der, 1962 im Jahr des Tigers geboren, 1993 Präsident der russischen Republik Kalmückien und 1995 Präsident des Weltschachbundes FIDE wurde, erlernte zuerst das Dame- und dann das Schachspiel von seinem Großvater (vergl. Iljumschinows
Autobiografie S. 5). Die Generation von Iljumschinows Großvater - das ist die Gruppe von Menschen, welche die Zeit des zweiten Weltkrieges bewußt miterlebt und durchlitten hat.

Bemerkenswert ist übrigens, dass Iljumschinow an dieser Stelle seiner Autobiografie nicht die Schachförderung in der UdSSR erwähnt, sondern eine buddhistische Legende, wonach das Schachspiel von den Göttern erfunden wurde. Zwei Himmelsbewohner kamen einst auf die Erde herab und begannen auf der weiten Steppe Schach zu spielen. Ein junger Schafhirte kam hinzu und verfolgte die Partie. Als die Partie beendet war, verschwanden die Götter. Der Hirte blickte um sich und sah, dass seine Kleidung zerfallen, seine Peitsche zerbröckelt und er selbst ein altersschwacher Greis geworden war. Eine Horrorvision für jemanden, der in der christlichen Tradition aufgewachsen ist - welch eine Verschwendung der knapp bemessenen Lebenszeit. Aus der buddhistischen Perspektive der Wiedergeburt erhält diese Legende einen ganz anderen Sinn.

Es kann sein, dass sich in irgendeinem Haus in der Gegend um Lienz, vielleicht auf dem Dachboden, in der guten Stube oder im Keller noch ein Schachspiel von den Kosaken oder Kalmücken befindet. Die aus dem südlichen Russland stammenden Menschen, die Anfang Mai 1945 in der Gegend eintrafen (die Briten - z.B. die schottischen 8. Argyll and Sutherland Highlanders - zogen am 8. Mai 1945 in Lienz ein), kamen nicht als Eroberer. Sie benötigten vor allem Lebensmittel, zahlten mit Reichsmark oder italienischen Lire und tauschten. Als Tauschobjekte sind dokumentiert z.B. Pferde, Schreibmaschinen (!) oder Tee, Teppiche, Schmuck, Kleidung...

Prof. Dr. Harald Stadler: "Sachguterwerb durch Perlustrierung ist auch durch britische Armeeangehörige (Uhren, Schmuck, Fotoapparate) belegt. Von sowjetischen Soldaten wird überliefert, dass sie bei der Auslieferung in Judenburg besonders auf edelsteinbesetzte Kosakensäbel aus waren. Und so dürften in manch schottischen und russischen Haushalten einige Erinnerungsstücke aus dieser düsteren Zeit einen Ehrenplatz erhalten haben." (Stadler/Kofler/Berger, a.a.O. S. 43)

Nicht archäologisch erschlossen ist bisher ein nördlich des Flusses Drau bei Lienz lokalisierter Pferde-Friedhof. Tausende von Pferden, die mit den Kosaken in die Gegend um Lienz kamen, sind charakteristisch für viele Erinnerungen von Zeitzeugen: einheimische Kinder übten sich im Reiten, die Bauern fürchteten um ihre Existenz, da die Tiere ihre Felder und Wiesen abgrasten. Diese Pferde wurden nicht "repatriiert". Ein Teil wurde als Kriegsbeute nach England gebracht, ein Teil wurde den einheimischen Bauern zur Nutzung überlassen, die übrigen Pferde wurden geschlachtet oder erschossen - "Pferdefleisch war nicht hoch im Kurs", berichtete ein Zeitzeuge.

Der Erinnerungswert von fast 5.000 Pferden war für die einheimischen Österreicher höher als derjenige der 12 Kamele, die als "exotisches Element" hätten auffallen sollen, aber nur den wenigsten Personen in Erinnerung geblieben sind (Karl C. Berger in Stadler/Kofler/Berger, a.a.O. S. 35). Diese Tiere sind eingegangen oder erschossen worden. Seinerzeit wurde ein spezieller Kamel-Friedhof angelegt, der jedoch nach Auskunft von Prof. Dr. Stadler ebenfalls noch nicht archäologisch erschlossen wurde.

Zur Halbzeit der Ausstellung konnte Mitte Juni eine erfreuliche
Zwischenbilanz gezogen werden: Atamane und Erzbischöfe, Australier, Amerikaner und Russen haben sich im Gästebuch der Kosakenausstellung eingetragen. Neue Zeitzeugen haben sich gemeldet, die archäologischen Grabungen konnten fortgesetzt werden.

3. Kalmücken, Kosaken und Kamele

Dschingis Khan (+ 1227) hinterließ seinem ältesten Sohn Dschutschi und dessen Erben Batu alle mongolischen Gebiete in Westsibirien und riesige Flächen an der Wolga und in Nordkaukasien. Batu machte sich daran, Russland, Polen, Ungarn und die dahinter liegenden Länder Europas zu erobern. Am 9. April 1241 wurde ein polnisch-deutsches Ritterheer bei Liegnitz vernichtet und drei Tage später unterlagen die Ungarn an der Theiß. Der Weg in das westliche Abendland war frei. Plötzlich aber zogen die Mongolen nach Osten ab - Batu kehrte zur Wahl eines neuen Groß-Khans in die Heimat zurück.

Ein überraschender Abzug nach Osten ereignete sich erneut ein halbes Jahrtausend später. Um in die ursprüngliche Heimat im Osten zurückzukehren, verließ ein großer Teil der Kalmücken im Dezember 1770 das russische Gebiet an der Wolga, in das der mongolische Volksstamm Ende des 16., Anfang des 17. Jahrhunderts gezogen war. Die Fortwanderung der Kalmücken war Gesprächsstoff in Europa - man begann, sich mit diesem seltsamen Volk zu beschäftigen. So erschien 1774, ein Jahr nach dem von den Jaik-(Ural)-Kosaken unterstützten Pugatschow-Aufstand 1773, in der Zeitschrift Der Teutsche Merkur (6. Bd., S. 183-195) eine anonyme Rezension zu einem Auszug von Pallas, Merkwürdigkeiten der Morduanen, Kosaken, Kalmücken, Kirgisen, Baschkiren, Frankfurt/Leipzig 1773.

Den Rezensenten des Teutschen Merkurs erinnerte die Rückwanderung der Kalmücken an das "Schauspiel jener plötzlichen und unvermuteten Wanderungen, wovon die Goten uns in der ältern Geschichte Beispiele liefern". In Europa habe man über diesen Vorfall verschieden geurteilt. Sowohl in Russland wie auch in China habe man befürchtet, dass sich die wandernden Kalmücken (ca.
33.000 Haushalte oder 170.000 Personen) mit Rebellen vereinigen könnten, um gegen Moskau oder Peking zu marschieren. In einer Anmerkung (a.a.O. S. 184) fügte der Rezensent ein Beispiel historischer Zensur hinzu: "In der zwooten Ausgabe der Werke des Hrn. Rath Müllers, hat der Petersburger Hof alles ausstreichen lassen, was diese Fortwanderung der Kallmucken, wovon in Pallas Reisen, der sie lange vor ihrem Abzuge sah, die Rede ist, angeht." Gemeint ist der in Herford (Westfalen) 1705 geborene russische Staatsrat, Forschungsreisende und Historiker Gerhard Friedrich Müller (1705-1783).



Zu dem Verlauf der Wanderung bemerkte der Rezensent, dass die Kalmückenschaar mit solcher Geschwindigkeit das Gouvernement Orenburg durchwanderte, "dass die russischen Truppen, welche man abschickte, sie bei dem Übergange über die Flüsse aufzuhalten, sie nur zu erreichen nicht einmal im Stande waren" (S. 190). Unbehelligt blieb der Kalmückenzug jedoch nicht:
nur etwa 70.000 Personen erreichten im August 1771 das Ziel ihrer Reise in China, wo sie von Kaiser Qian Long empfangen wurden.
Es sei ein Glück, so meinte der Rezensent im Teutschen Merkur, dass Herr Pallas "noch eben zeitig genug" im russischen Süden angelangt sei, um Völker zu erkunden, welche sich jetzt "so tief in das Innerste von Asien gezogen haben, dass man sie so gut als verschwunden nennen kann."


Historische Karte aus Meyers Konversationslexikon 1888/89


Verschwunden? Das Jahr 1771 markierte eine Zäsur (vergl. Michael Khodarkovsky, Where two worlds met : the Russian state and the Kalmyk Nomads ; 1600 - 1771, Cornell University Press 1992), doch die Geschichte der Kalmücken in Russland setzte sich fort. Die Mehrheit der Kalmücken hatte 1771 den Süden Russlands verlassen, aber
etwa ein Viertel des ursprünglichen Bevölkerungsbestandes von 1770 war geblieben. Laut J. Hoffmann (a.a.O. S. 32) blieben 50.000 Menschen mit 13.000 Kibitkas (Jurtenzelten) zurück. Der politisch-rechtliche Status änderte sich: Das relativ selbständige Kalmücken-Khanat wurde aufgelöst, die zurückgebliebenen Kalmücken waren nicht mehr Alliierte, die seit 1608/09 dem russischen Zaren durch einen Bündnis-Eid verpflichtet waren, sondern russische Untertanen in der Kalmückensteppe.

Seit 1609 kennt man kalmückische Kosaken. 1613 schlossen sich zwei kalmückische Regimenter militärischen Einheiten der Don-Kosaken an. Die seit dem 17. Jahrhundert bezeugte
Verbindung von Kalmücken zu Kosaken intensivierte sich nach 1771: Kalmücken schlossen sich an Ural-, Orenburg-, Terek-, Don- und Kuban-Kosaken an. Im Krieg gegen Napoleon kämpften 3 kalmückische Regimenter: das 1. und 2. kalmückische Regiment sowie das 1737 gegründete kalmückische Stawropol-Kosaken-Regiment.

Aus kalmückischer Sicht ist dieser Sachverhalt insofern von Bdeutung, als heute hinter der Verwendung des Terminus "Kosaken" die Beteiligung des kleinen Volkes der Kalmücken zu verschwinden droht. Stolz betonte daher Kirsan Iljumschinow in seiner
Autobiografie (S. 12): "Die kalmückischen Regimenter waren die ersten, die [Ende März 1814] in Paris einmarschierten und den Parisern zum ersten Mal die Gelegenheit boten, Soldaten auf dem Rücken von Kamelen zu sehen." In Geschichtsbüchern wird heute, wenn überhaupt, nur der Name des Kavallerie-Generals Graf M. I. Platow (1751-1818) als Kommandeur der gegen Napoleon siegreichen Kosaken-Truppen genannt - die kalmückischen Truppeneinheiten werden nicht gesondert erwähnt.

Kamele waren für Kalmücken etwas Besonderes. Der deutsche Forschungsreisende P. S. Pallas hatte im 18. Jahrhundert berichtet, dass die nomadisierenden Kalmücken von der Viehzucht lebten, wobei sie vor allem Pferde, Rindvieh und Schafe hielten. Ziegen hatten sie nur wenige. Kamele seien "nur ein Eigenthum der Reichen und der Geistlichkeit", weil die Tiere wegen ihrer "Zärtlichkeit" (gemeint ist die Anfälligkeit für Krankheiten) und wegen ihres langsamen Wuchses nicht so sehr vermehrt werden konnten. Die Steppe sei wegen der häufigen Salzblumenplätze und salzhaften Gewächse eine vortreffliche Weide für Kamele.

Nina G. Otschirowa, Direktorin eines kalmückischen Forschungsinstituts, berichtete vor einem
UNESCO-Workshop in der kalmückischen Hauptstadt (Combating Desertification. Traditional Knowledge and Modern Technology for the Sustainable Management of Dryland Ecosystems; 23.-27. Juni 2004), dass im nordwestlichen Teil des kaspischen Gebiets seit 5.000 Jahren Viehzucht auf Weiden betrieben wurde. Auf dem Territorium Kalmückiens als unabtrennbaren Teil des russischen Imperiums habe sich im 17. und 18. Jahrhundert das ausbalancierte Ökosystem "kalmückische Steppe" gebildet. Während dieser Periode habe man mehr als 200.000 Kühe, 100.000 Pferde, etwa eine Million fettschwänziger Schafe und 20.000 Kamele gehalten. Dieses Ökosystem sei im 20. Jahrhundert durch gewaltsame Veränderungen der traditionellen Lebensweise als Folge von Kriegen, Repression, erzwungener Emigration und Exil aus den Fugen geraten. In der modernen kalmückischen Gesellschaft müsse man sich daher wieder mehr auf das traditionelle Wissen besinnen.

Der Militärhistoriker Joachim Hoffmann bemerkte, dass noch Lenin sich im Juli 1919 um das Wohlwollen der "kalmykischen Brüder" bemüht hatte (Deutsche und Kalmyken 1942 bis 1945, S. 34), dass danach jedoch die Sowjetregierung die Beseitigung der herkömmlichen Wirtschaftsweise, der lamaistischen Religion und des nationalen Kulturerbes der Kalmücken anstrebte: "Im Jahre 1935 waren 72 % der Kalmyken gegenüber 17 % in vorrevolutionärer Zeit seßhaft geworden." (J. Hoffmann, a.a.O. S. 38)

4. Deutsche und Kalmücken

1763 endete der Siebenjährige Krieg mit den Friedensschlüssen von Paris und Schloß Hubertusburg - der preußische Besitz Schlesiens wurde bestätigt (bis 1945). Im gleichen Jahr, am 22. Juli 1763, rief die russische Zarin Katharina II., eine gebürtige deutsche Prinzessin von Anhalt-Zerbst, Ausländer dazu auf, sich in Russland niederzulassen. Sie bot den Emigranten Privilegien "auf ewige Zeiten" an. Die ersten Deutschen, die dem Aufruf der russischen Zarin folgten, wurden in Gebieten entlang des Wolgastroms angesiedelt. Damit begann die Geschichte der Russlanddeutschen. Von Januar 1924 bis August 1941 bestand in der UdSSR die Autonome Sozialistische Republik der Wolgadeutschen.

Am 3. September 1765 gründeten Vertreter der Herrnhuter Brüdergemeine südlich der heutigen Stadt Wolgograd an der Mündung des Flusses Sarpa in die Wolga eine Siedlung mit dem biblischen Namen Zarpath (Sarepta; Bibel: 1. Kön. 17,9). Ihr Auftrag bestand in der christlichen Missionierung der buddhistischen Kalmücken. Die
Kalmücken-Mission scheiterte, 1892 entließ die Unitätsdirektion in Herrnhut Sarepta aus dem Kreis der Brüder-Unitäts-Gemeinden - die Seelsorge wurde von der Evangelisch-Lutherischen Kirche Russlands übernommen. Gänzlich vergeblich waren die Bemühungen der Herrnhuter jedoch nicht; ihre Missionare erlernten die Sprache der Kalmücken und übersetzten Schriften der Bibel ins Kalmückische (Matthäus-Evangelium in Kalmückisch, übersetzt von Isaak Jakob Schmidt [1779-1849], St. Petersburg 1815). Vor allem sorgten die wissenschaftlichen Publikationen von Herrnhutern zu dem Objekt ihres missionarischen Eifers dafür, dass Informationen über das unbekannte Volk der Kalmücken und deren Religion in den Westen gelangten.

Außer den Reiseberichten von P. S. Pallas erwarb sich ein Werk des Sprachforschers, Pastors und Historikers Benjamin [Fürchtegott von] Bergmann (1772-1856) bleibenden Ruhm: Nomadische Streifereyen unter den Kalmüken in Jahren 1802 und 1803, Riga 1804/05. Eine französische Übersetzung erschien 1825. Wegen seines unvergänglichen Wertes wurde das Werk 1969 in den Niederlanden nachgedruckt. Der Verfasser lernte während eines kurzen Aufenthaltes in Sarepta Kalmücken kennen. Er erlernte die Sprache und verbrachte dann ein Jahr bei diesem Volk. Im ersten Band seines Buches schilderte Benjamin Bergmann in Briefen Sitten und Gebräuche der Kalmücken. Ein umfangreicher Aufsatz erzählt dann die Geschichte von der Kalmückenflucht an der Wolga im Jahre 1771.

Bis zur russischen Revolution konnten die Kalmücken ihre nationale Identität, ihre Religion, Sitten und Gebräuche und vor allem die extensive Viehzucht auf Weiden weitgehend bewahren. Die Revolution erweckte in ihnen die Sorge, Bauern könnten ihnen ihre Weidegebiete wegnehmen. Sie verbündeten sich mit den Kosaken unter Denikin und kämpften gegen die Revolution. Die Niederlage der Weißgardisten führte 1920 zur Flucht von Kalmücken nach
Jugoslawien, Bulgarien, in die Tschechoslowakei und nach Frankreich sowie zur Gründung eines buddhistischen Tempels in Belgrad.


Zeitschrift für Buddhismus, München 1925, S. 388

Für die in Russland verbliebenen Kalmücken wurde im Jahr 1920 ein autonomes Gebiet (oblast) gegründet. Als der Widerstand gegen die Revolution gebrochen war, begannen die sowjetischen Behörden seit Mitte der 20er Jahre mit der systematischen Vernichtung der buddhistischen Tempel und Klöster. Durch die Kollektivierungspolitik wurde das Nomadenvolk in die Seßhaftigkeit gezwungen. 1935 wurde das autonome Gebiet zur Kalmückischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik aufgewertet, doch während der großen Säuberung Mitte der 30er Jahre fanden auch in Kalmückien Massenverhaftungen statt, wonach führende kalmückische Persönlichkeiten und fast alle noch lebenden buddhistischen Priester verschwanden. Ein in Deutschland lebender kalmückischer Exil-Politiker, Schamba Balinow, interpretierte die Vorgehensweise der Sowjetregierung als Versuch, "die Besonderheiten des kalmykischen Volkes auszumerzen, es auf der Grundlage der russischen Sprache und Kultur zu assimilieren, um im Interesse der russischen Großmachtsidee ein einheitliches 'Sowjetvolk' (sovetskij narod) zu schaffen." (J. Hoffmann, a.a.O. S. 39)

Bekannt ist, dass kurz nach dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges am 22. Juni 1941 zuerst die Wolgadeutschen, dann alle Deutschen, die im europäischen Teil der UdSSR lebten, deportiert wurden. Weniger bekannt ist, dass in der UdSSR die Deportation ganzer Völker lange vor diesem Krieg begann. Alexander Jakowlew, bekannt geworden als Berater Michail Gorbatschows und Vorsitzender der Kommission zur Rehabilitierung der Opfer politicher Repressionen, schrieb: "Schon am 26. April 1936 fasste der Rat der Volkskommissare der UdSSR den Beschluss über die Aussiedlung von 15.000 Polen und Deutschen als politisch Unzuverlässige aus der Ukrainischen SSR ins Gebiet Karaganda. Danach begann die Säuberung der Grenzbezirke. Zur ersten Gruppe der Deportierten gehörten 35.820 Polen." (A. Jakowlew, Die Abgründe meines Jahrhunderts. Eine Autobiographie, Faber&Faber 2003, S. 252) Bald danach wurden die Kurden aus Armenien, Aserbeidschan, Turkmenistan, Usbekistan und Tadschikistan umgesiedelt. 1937 erfolgte die massenhafte Deportation von Koreanern, Ende November 1937 begannen Repressionen gegen Letten, im Dezember gegen Griechen und Chinesen, im Januar 1938 gegen die aus dem Iran stammenden Armenier, im Februar 1938 gegen Finnen, Esten, Rumänen, weitere Chinesen, Bulgaren und Mazedonier sowie Afghanen. Auch 3.335 Engländer wurden von NKWD-Chef Jeschow der Repression unterzogen (vergl. A. Jakowlew, a.a.O. S. 256). Die UN-Flüchtlingsorganisation UNHCR veröffentlichte am 1. Mai 1996 eine
statistische Übersicht zu den "bestraften Völkern" und den Massendeportationen.

So kam es im Sommer 1942, als deutsche Truppen in Kalmückien einmarschierten (Elista wurde am 12. August 1942 eingenommen), zu einem Phänomen, über dessen Ausmaß nach dem Krieg Historiker und Propagandisten lange geschwiegen und dann gestritten haben: die Kollaboration von Kalmücken mit den Deutschen.

Faktum ist: Ende Dezember 1943 wurde die Kalmückische ASSR durch geheim gehaltenen Erlass des Obersten Präsidiums der UdSSR aufgehoben (vergl J. Hoffmann, a.a.O. S. 162), es wurde der Befehl zur Aussiedlung der Kalmücken erteilt - "wie aus heiterem Himmel. Solcherlei geschah nicht nur in Kalmykien, sondern auch im Gebiet Rostow, Stalingrad und Stawropol. Deportiert wurden insgesamt 99.252 Menschen" (A. Jakowlew, a.a.O. S. 257).

Nikita S. Chruschtschow sagte am 25. Februar 1956 in seiner "Geheimrede" auf dem XX. Parteitag der KPdSU:

" (...) Genossen! Lassen Sie mich noch einige andere Dinge erörtern. Mit Recht wird die Sowjetunion als mustergültiger Vielvölkerstaat angesehen, weil wir in der Praxis die Gleichheit aller in unserem großen Vaterlande freundschaftlich zusammenlebenden Völker sichergestellt haben.
Um so ungeheuerlicher sind die Taten, die auf Veranlassung Stalins begangen wurden und schwere Verstöße gegen die fundamentalen leninistischen Grundsätze der Nationalitätenpolitik des Sowjetstaates darstellen. Wir meinen die Massendeportationen ganzer Völkerschaften mit samt allen Kommunisten und Komsomolzen, ohne jede Ausnahme. Diese Deportationen waren durch keinerlei militärische Überlegungen diktiert.
So wurde bereits gegen Ende des Jahres 1943, als sich im großen vaterländischen Kriege durch die Durchbrüche unserer Armee an den Fronten das Blatt zugunsten der Sowjetunion wendete, ein Beschluß über die Deportation sämtlicher Karatschajer aus ihrer angestammten Heimat gefaßt und durchgeführt. Im gleichen Zeitraum, Ende Dezember 1943, ereilte die gesamte Bevölkerung der Autonomen Kalmückenrepublik dasselbe Schicksal. Im März 1944 wurden sämtliche Tschetschenen und Inguschen deportiert, und die Autonome Republik der Tschetschenen und Inguschen wurde aufgelöst. Im April 1944 wurden alle Balkaren aus dem Gebiet der Autonomen Republik der Kabardiner und Balkaren in entlegene Gebiete verschleppt, und die autonome Republik selbst wurde in Autonome Kabardinische Republik umgetauft. Die Ukrainer entgingen diesem Schicksal lediglich deshalb, weil sie zu zahlreich sind und kein Raum vorhanden war, wohin man sie hätte deportieren können. Sonst hätte er sie auch deportiert.
(Gelächter und Heiterkeit im Saal)
Kein Marxist-Leninist und überhaupt kein vernünftiger Mensch kann verstehen, wie es möglich ist, ganze Völker samt Frauen und Kindern, alten Leuten, Kommunisten und Komsomolzen für feindliche Handlungen verantwortlich zu machen, Massenrepressalien gegen sie anzuwenden und sie wegen der Schädlingsarbeit einzelner oder kleinerer Gruppen der Not und dem Elend auszusetzen. (...)" (zitiert nach: Chruschtschow erinnert sich. Die authentischen Memoiren, Rowohlt 1992, S. 525)

Einzelne oder kleinere Gruppen... Diesem "Kunstgriff" gegenüber betonte der Militärhistoriker Joachim Hoffmann:

" (...) Die deutsch-kalmykische Zusammenarbeit im Zweiten Weltkrieg war eine Folgeerscheinung des völligen Scheiterns der sowjetischen Nationalitätenpolitik. Sie war aus sich heraus entstanden und von breiten Schichten des kalmykischen Volkes getragen. In einer historisch günstig erscheinenden Konstellation haben die treibenden Kräfte versucht, sich einer allgemein als mißliebig empfundenen Herrschaft zu entledigen - das echte Motiv eines jeden politischen Freiheitskampfes. Der Befreiungsversuch ist fehlgeschlagen, und die Kalmyken sollte es teuer zu stehen kommen, daß sie die Deutschen, die 1942 gleichsam als Repräsentanten einer dritten Großmacht in ihren Gesichtskreis und in ihr Leben getreten waren, unterstützt haben. (...)" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 175)

5. "Dr. Doll", Kalmücken und Kamele

Die für deutsch- und russischsprachige Medien tätige russische Journalistin Nellja Veremej veröffentlichte im Januar 2004 in der Wochenzeitschrift Freitag. Die Ost-West-Wochenzeitung einen Bericht über das Schicksal der Kalmücken. Als Quelle benannte sie die kalmückische Anthropologin Elsa Gutschinova. Sie benützte außerdem Material (wie das Merkblatt Grundsätze für die Behandlung der Kalmücken), das in Joachim Hoffmanns Werk zu diesem Thema ausführlich dokumentiert ist. Elsa-Baïr Gutschinowa war übrigens auch schon als Beraterin für den Präsidenten Kalmückiens und des Weltschachbundes FIDE Kirsan Iljumschinow tätig.

Laut Nellja Veremej hat Elsa-Baïr Gutschinowa, "die sich mit der bis heute verdrängten Seite der Geschichte in Kalmückien befasst", den Weg des Kalmücken-Verbandes von der Wolgasteppe bis nach Österreich anhand der Anweisungen bezüglich der in Europa exotischen Kamele rekonstruiert: "Das Auffälligste waren die Kamele." Hierzu ist anzumerken, dass die Verbindung zwischen Kalmücken und Kamelen nicht eindeutig ist, da
auch deutsche Wehrmachtsangehörige Kamele einsetzten.

Den NS-Strategen sei es gelungen, schrieb Nellja Veremej, "die Fehlschläge der sowjetischen Zwangskollektivierung und der Nationalitätenpolitik zu ihren Gunsten auszunutzen. Indem sie den Bauern Land und den ethnischen Minderheiten ihr Selbstbestimmungsrecht versprachen, gewannen sie die Kalmücken für die deutsche Sache". Dann erwähnt sie einen Abwehroffizier mit dem Decknamen "Dr. Doll": "Die Verführung der Kalmücken wird Dr. Dolls geheimdienstliches Lebenswerk."

J. Hoffmanns Buch enthält einige biografische Angaben zu "Dr. Doll", dem "Vater" der Kalmücken. Als sein Geburtsdatum gilt der 2.11.1900, er starb im Juli (?) 1944, als sein Kalmückenverband bei Lublin von Einheiten der Roten Armee überrannt wurde. Der eigentliche Name von "Dr. Otto Doll", Leiter des Abwehrtrupps 103 und Sonderführer (Z), war Othmar [Rudolf] Werba [auch Wrba]. Er stammte aus dem Sudetenland, war k.u.k. Offizier und nahm unter dem ukrainischen Befehlshaber Simon Petljura (1879-1926) am russischen Bürgerkrieg teil (1918-1920). Zwischen den Weltkriegen war er als Kaufmann und Architekt tätig. Zweieinhalb Jahre hatte er anscheinend als Beauftragter der Abwehr dem deutschen Konsulat in Odessa angehört. Am 11. August 1942 wurde er in die Steppe entsandt. Sein Abwehrtrupp 103 bestand aus ihm selbst, einem deutschen Fahrer und einem Funker. J. Hoffmann: "Verständlicherweise wares es die wenigen den Verfolgungen entgangenen Priester, die den Deutschen jetzt freundlich gegenübertraten und eine erste Mittlerrolle spielten. Ein seltsamer Umstand kam ihnen hierbei zustatten, denn einige Lamas wollten das Hakenkreuz an der Uniform des Dr. Doll mit dem altbuddhistischen Heilszeichen identifizieren." (J. Hoffmann, a.a.O. S. 23)

Zu der Bewertung Dr. Dolls als "Verführer der Kalmyken" bemerkte J. Hoffmann (a.a.O. S. 125 f.): "Nicht Dr. Doll hat jedoch die Voraussetzungen der deutsch-kalmykischen Zusammenarbeit geschaffen, er hat es nur verstanden, die grundsätzlich hierzu vorhandene Bereitschaft erfolgreich zu aktivieren. Wenn es zutrifft, daß er Warnungen in den Wind geschlagen haben soll, die Kalmyken, die schon im Bürgerkrieg bis 1920 einen überaus hohen Blutzoll entrichtet hatten, könnten im Fall einer deutschen Niederlage ihrer geringen Volkszahl wegen restlos ausgelöscht werden, so wäre doch anzumerken, daß eine solche Möglichkeit im Hochsommer und Herbst 1942 noch außerhalb des damals Vorstellbaren lag. Und schließlich, das Scheitern der kalmykischen Befreiungsbestrebungen vermochte er ebensowenig zu verhindern, wie das Unglück abzuwenden, das die sowjetische Führung kraft souveränen Entschlusses im Jahre 1943 dem kalmykischen Volk bereitet hat."

Auf Seiten der UdSSR dienten kalmückische Soldaten in mehreren Verbänden. Im November 1941 wurde außerdem beschlossen, eine "110. Besondere Kalmykische Kavalleriedivison" aufzustellen (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 83 ff.). Wegen des Beschlusses zur Deportation der Kalmücken im Dezember 1943 wurden die kalmückischen Soldaten in das Hinterland abgeschoben und zum Arbeitseinsatz abkommandiert. So erklärt sich der Satz in Iljumschinows
Autobiografie (S. 12): "Ich erfuhr, dass unsere kleine Nation während des zweiten Weltkriegs dreiundzwanzig Helden der Sowjetunion hervorgebracht hat. Und wenn man sie damals nicht zum Exil verurteilt hätte, würden die Kalmücken bis zum Kriegsende diese Zahl sicherlich verdoppelt haben."

Auf Seiten der Wehrmacht wurden im September 1942 zwei kalmückische Schwadronen aufgestellt, deren Personal von Dr. Doll ausgewählt worden war. Diese Verbände wurden auf Betreiben von Major Graf v. Stauffenberg fester Bestandteil des deutschen Heeres (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 92). Danach wurden weitere Schwadronen aufgestellt. Diese Einheiten wurden erfolgreich eingesetzt bei der Nah- und Fernaufklärung im Bereich Astrachan und im Wolgadelta sowie bei der Partisanenbekämpfung.

Kalmückien blieb etwa ein halbes Jahr von deutschen Truppen besetzt. Gegen Ende des Jahres 1942 wurde das Land geräumt, die deutschen Truppen zogen sich auf den Don zurück. Was tun mit den Kalmücken? Nach Meinung der Verantwortlichen (darunter Dr. Doll) gehörten sie in die Steppe, man könnte sie allenfalls noch in den Randgebieten des Asowschen Meeres einsetzen. Unter Vermittlung des Chefs der Abteilung Fremde Heere Ost, Oberst Gehlen (dem späteren Chef des Bundesnachrichtendienstes), erging Anweisung, die Kalmücken "ihrer Eigenart entsprechend einzusetzen" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 113). Durch den Zustrom waffenfähiger Flüchtlinge war die Zahl der Kalmücken so angewachsen, dass noch im Februar 1943 neue Einheiten aufgestellt werden konnten. In deutschen Akten wurde das kalmückische Kavallerieregiment meist "Kalmückenverband Dr. Doll" genannt, die Kalmücken selbst nannten ihre Einheit "Kalmückisches Kavallerie-Korps" (J. Hoffmann, a.a.O. S. 115).

Am 6. Juli 1944 bestand das Kalmückische Kavallerie-Korps aus 147 kalmückischen Offizieren, 374 Unteroffizieren und 2.917 Mannschaften sowie 4.600 Pferden. Mitgeführt wurde einen größere Anzahl von Zivilpersonen - Frauen und Familienangehörige (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 136). Nellja Veremej bezifferte die Gesamtzahl derjenigen Kalmücken, die den deutschen Truppen gefolgt waren, weil sie in ihrer von der Roten Armee zurückeroberten Heimat "keine Überlebenschance" hatten, auf etwa
10.000 Menschen.

Mitte Januar 1945 wurden die Kalmücken im Raum Radom/Kielce ein zweites Mal von der Roten Armee überrollt und völlig zersprengt. Insbesondere unter den Familienangehörigen waren schwere Verluste zu verzeichnen. In Gruppen retteten sich die Kalmücken nach Westen, wo sie auf dem Truppenübungsplatz Neuhammer reorganisiert wurden -
die überlebenden Zivilpersonen wurden nach Bayern evakuiert. Das neuaufgebaute kalmückische Kavallerieregiment wurde nach Kroatien zum XV. Kosaken-Kavallerie-Korps in Marsch gesetzt (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 154 f.).

Zu der am 25. März 1945 beschlossenen Unterstellung aller Verbände im XV. Kosaken-Kavallerie-Korps unter Generalleutnant Wlassow kam es nicht mehr. Bei Kriegsende befand sich das kalmückische Kavallerieregiment auf dem Rückzug in Kroatien. Die Offiziere beschlossen im April 1945, dass sich das Regiment in kleinen Gruppen zu den westlichen Alliierten durchschlagen und gefangen nehmen lassen sollte. Der größte Teil der kalmückischen Soldaten fiel jedoch in die Hände jugoslawischer Partisanen, kleinere Teile des Verbandes, die über die Drau geflüchtet waren, wurden von den Briten bei Judenburg an die Rote Armee ausgeliefert (J. Hoffmann, a.a.O. S. 162).

Die Anzahl derjenigen Kalmücken, die von den Briten 1945 an die Sowjets ausgeliefert wurden, bezifferte Nellja Veremej auf
4.000. In Österreich verliert sich auch die Spur der Kamele.

6. Die Verbannung

Kirsan Iljumschinow berichtet in seiner Autobiografie (S. 23), dass noch Anfang der 1980er Jahre KGB-Angehörige ihr Prestige dadurch zu heben suchten, dass sie die Verwandten derjenigen Kalmücken zu ermitteln versuchten, die im zweiten Weltkrieg den Deutschen westwärts gefolgt waren oder das Land nach dem ersten Weltkrieg mit den Weißgardisten verlassen hatten. Dabei waren es seiner Ansicht nach die kalmückischen Emigranten, die gegen die Zwangsumsiedlung der Kalmücken protestierten, Unterschriften sammelten, Petitionen verfassten und sich an die UNO wandten. Sie waren es, die zuerst davon sprachen, dass man den Kalmücken gestatten müsse, in ihre Heimat zurückzukehren. Sie wandten sich an die Weltöffentlichkeit, wodurch sie Chruschtschow zwangen, den Kalmücken nach dreizehn Jahren im Exil die Heimkehr zu gestatten ("thus forcing Khrushchev to allow them to come back home after thirteen years in exile" (Iljumschinow, a.a.O. S. 24).

Diese Ansicht Iljumschinows stimmt überein mit der Darstellung des deutschen Militärhistorikers Joachim Hoffmann (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 168). Zwei Münchner Exilkalmücken hielten sich während der im April 1955 in Bandung stattfindenden Konferenz afro-asiatischer Staaten auf und konnten wichtige Politiker der dort repräsentierten Länder für die Kalmückenfrage interessieren. Es war vermutlich die Rücksichtnahme auf den Ruf der UdSSR in den Ländern der "Dritten Welt", die Chruschtschow 1956 zur Verurteilung der Deportierung der verfemten Völker (mit Ausnahme der Wolgadeutschen und der Krimtataren) veranlasste. Bald darauf wurde wieder ein Kalmückisches Autonomes Gebiet hergestellt, und per Erlass vom 29. Juli 1958 wurde dieses Gebiet in die Kalmückische Autonome Sozialistische Sowjetrepublik umgewandelt.

Etwa 65.000 Kalmücken kehrten aus der Verbannung an die Wolga zurück. Die Zahl derjenigen, die in den Deportierungsgebieten zu Tode kamen, ist nicht genau bekannt, doch soll sich die Zahl der Kalmücken auf dem Gebiet der UdSSR zwischen 1939 und 1959 von über 134.000 auf 106.000 verringert haben, von denen 96.000 das Kalmückische als ihre Muttersprache betrachteten (J. Hoffmann, a.a.O. S. 169).

Kirsan Iljumschinow, der heutige Präsident Kalmückiens, wurde 1962, zwei Jahre vor der Entmachtung Chruschtschows und dem Beginn der Breschnew-Ära geboren. Die überlebenden Kalmücken waren zurückgekehrt, doch sie waren voller Furcht. Es gab keine Familie, die nicht Angehörige in Sibirien verloren hatte, aber man sprach nicht gerne über die Vergangenheit, schon gar nicht vor Kindern. Die Partei wollte, nachdem sie ihre Fehler eingeräumt hatte, nichts mehr von dem Thema hören. Angesichts ständiger KGB-Verhöre habe die ältere Generation, so berichtete Iljumschinow (a.a.O. S. 10), sich angewöhnt, sich an nichts zu erinnern, um nichts zu verraten. "Ich weiß nichts, ich habe nichts gesehen, ich erinnere mich nicht" - so sei die Geschichte des kalmückischen Volkes entleert worden, die Kette zwischen den Generationen zerbrochen.

7. Kollaboration heute

Am 5. Mai 2005, wenige Tage vor den russischen Feiern zum Tag des Sieges vor 60 Jahren, veröffentlichte der bekannte russische Journalist Anatoli Medetski in der Publikation Moscow Times einen Beitrag zum Thema der Kollaboration: "Soviets Who Joined the Nazis" [der Beitrag ist auch im Ocnus-Net archiviert]. Medetski stützt sich in seinem Beitrag auf Informationen, die er von einem Geschichtsprofessor namens Nikolai Kirsanow sowie einem Wissenschaftler namens Sergei Tschujew erhalten hat. Tschujew soll das Thema der Überläufer seit sechs Jahren erforscht haben.

Erschwert würden die Forschungen auf diesem Gebiet dadurch, dass der russische Inlandsgeheimdienst die Sowjetarchive versiegelt hat, aus denen hervorgehen könnte, wieviele Menschen genau die Seiten wechselten, welche Bedrohung sie für Moskau dargestellt haben könnten und was aus diesen Menschen geworden ist. Das meiste von dem, was bekannt sei, stamme aus den Archiven der KPdSU und Berichten weißgardistischer Emigranten, die auf deutscher Seite kämpften.

Die Kosaken werden in dem Beitrag Medetskis nicht erwähnt, wohl aber, unter anderen Gruppen, die Kalmücken, aus denen die Deutschen ein Kavallerie-Korps mit 4.000 Mann bildeten. Als die Rote Armee 1943 und 1944 begann, die Deutschen zurückzutreiben, habe Stalin zurückgeschlagen, indem er Hundertausende von Krimtataren, Kalmücken, Tschetschenen, Inguschen und Balkaren deportieren ließ. Die Deportationen seien gerechtfertigt gewesen in einem Krieg, der das Land an den Rand des Zusammenbruchs gebracht hatte. "Es war keine Rache. Ein im Krieg befindliches Land mit solchem internen Widerstand muss diesen Widerstand durch eine solch grausame Methode unterdrücken", zitierte Medetski Sergei Tschujew.

Die westlichen Alliierten hätten zwar viele Sowjetbürger gefangengenommen und sie Moskau übergeben (wonach einige exekutiert und andere in Arbeitslager geschickt wurden), doch seien Sowjetbürger, die für den deutschen Nachrichtendienst tätig waren, und sowjetische Kinder, die von den Nazis in Spezialschulen zu Spionen ausgebildet worden waren, von den westlichen Alliierten zurückbehalten worden. Diese Leute seien während des Kalten Krieges zur Spionage gegen die Sowjetunion benützt worden, schrieb Medetski unter Berufung auf Sergei Tschujew am 5. Mai 2005.

8. Iljumschinow 60 Jahre nach Kriegsende

Der kalmückische Präsident Kirsan N. Iljumschinow, der am 17. März 2005 für sechs Monate zugleich Mitglied des Präsidiums des russischen Föderationsrates wurde, nahm am 8. Mai 2005 an der Eröffnung einer russisch-orthodoxen Kapelle teil, auf deren Mauern im Innern die Namen von 44.000 kalmückischen Soldaten und Offizieren eingetragen sind, die seit dem Krieg gegen Napoleon 1812 bis zum ersten und zweiten Weltkrieg getötet wurden. Die Planungen für den Bau dieser Kapelle reichen weit zurück, berichtete die russische Nachrichtenagentur REGNUM. Schon 1997 segnete der russische Patriarch Alexei II. den Boden, auf dem die Kapelle jetzt errichtet wurde.

Am 17. Juni 2005 reiste Russlands Präsident Wladimir Putin nach Kalmückien, um in Elista an einer Sitzung des Präsidiums des Föderationsrates zum Stand der russischen Landwirtschaft teilzunehmen. Zu Putins Besuchsprogramm gehörten ferner laut
RIA Nowosti eine Kranzniederlegung an der Gedenkstätte für die Helden des Bürger- und des Großen Vaterländischen Krieges sowie die Besichtigung eines buddhistischen Tempelensembles.

Der Nachrichtenagentur
Itar-Tass zufolge bat Iljumschinow den russischen Präsidenten bei dessen Besuch am 17. Juni um Hilfe bei der Lösung des Trinkwasser-Problems in Kalmückien. Es gebe zwar ein Trinkwasser-Programm für Russland, doch Kalmückien sei darin nicht enthalten.- Trinkwasser ist ein altes Problem Kalmückiens, seitdem die sowjetischen Behörden darauf drängten, die Kalmücken seßhaft zu machen. So wurde Elista als Hauptstadt mitten in der Steppe erbaut, ohne dass man die natürlichen Gegebenheiten berücksichtigt hätte, weswegen sich bald Wassermangel bemerkbar machte (vergl. J. Hoffmann, a.a.O. S. 38).

Gerald Schendel / 23.06.2005

 

 

 

 


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