London Chess Classic: Nihal Sarin "gestalkt"

von Thorsten Cmiel
19.12.2017 – Wenn über die Weltmeister der Zukunft geredet wird, fallen zwei Namen - die der beiden indischen Wunderkinder Praggnanandhaa und Nihal Sarin. Letzterer war im Open der London Chess Classic auf Normenjagd. Thorsten Cmiel hat den jungen Meister aus der Ferne "gestalkt" und sein Spiel unter die Lupe genommen. (Foto: Lennart Ootes)

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Nihal Sarin gestalkt in London

Wenn man seinen eigenen schachlichen Horizont erweitern will, dann ist es eine interessante Idee, einem starken Spieler über die Schulter zu schauen. Magnus Carlsen und Konsorten haben als Anschauungssubjekte den Nachteil, dass deren Partien oft klinisch einwandfrei verlaufen. Zudem entscheidet sich mindestens zu 50 Prozent der Ausgang jeder Partie bereits in der Vorbereitung. Das ist für die Zuschauer gelegentlich langweilig angesichts hoher Remisquoten, wie wir sie aktuell in manchen Runden in London zur Kenntnis nehmen mussten.

Die Wirklichkeit für die meisten Schachspieler findet in Open und jenseits theoretischer Mikrovorteile statt. Bei Offenen Turnieren müssen Spieler, die (noch) kein Repertoire wie ein Anish Giri oder Levon Aronian ausgearbeitet haben, gezielt Risiken eingehen. Solche Risiken entstehen beispielsweise dann, wenn man sich auf Eröffnungen der Gegner einlässt und versucht mit kleinen Verbesserungen aufzuwarten.

Wunderkinder aus Indien

Ich entschied mich aus der Ferne, etwa 10.000 Kilometer entfernt von London, einen Spieler schachlich zu „stalken“. Meine Wahl fiel auf Nihal Sarin. Eines der zwei aktuell hoffnungsvollsten schachlichen Wunderkinder aus Indien. Der 13-jährige Inder hatte zu Beginn des Jahres 2017 noch eine Rating von 2340 und sich im Laufe des Jahres kontinuierlich gesteigert, zwischendurch den IM-Titel errungen und eine GM-Norm in Norwegen gescort. Medial zumindest wird ein Wettrennen mit der Zeit veranstaltet: Wird Nihal eher Großmeister als der ein Jahr jüngere Rameshbabu (kurz: R.) Praggnanandhaa? Nur der jüngere Spieler der beiden hat noch eine Chance darauf, jüngster Großmeister aller Zeiten zu werden: Stichtag ist für ihn der 9. März 2018. Bis dahin müsste Praggnandhaa noch zwei Normen nachlegen. Aber das ist eine andere Geschichte.

Nihal Sarin

In London spielte Nihal, geboren am 13. Juli 2004, mit einer Rating von 2507. Die Steigerung seiner Zahl erfolgte in 99 gewerteten Partien seit Dezember 2016. Seine definitive IM-Norm erzielte Nihal beim Aeroflot-Open B in Moskau. Bei einem Rating-Schnitt von 2459 Punkten übererfüllte er die erforderliche Punktzahl von 4,5 aus 9 um einen vollen Punkt. Nihals IM-Normen stammen aus drei Ergebnissen während eines Jahres: gespielt in Frankreich, Spanien und Russland.

Gegen Großmeister konnte Nihal in den letzten zwölf Monaten wertvolle Erfahrungen sammeln. Vor London spielte er immerhin gegen 54 Großmeister und gewann acht Partien, bei einem Gesamtresultat von 23 zu 31. Seine erste Großmeister-Norm erzielte Nihal beim Fagernes-Turnier im April 2017 in Norwegen mit 6 aus 9 bei einem gegnerischen Rating-Durchschnitt von 2475.

Nihal Sarin (Foto: Lennart Ootes)

Worauf es ankommt

Wird Nihal einen weiteren Schritt in seinem schachlichen Verbesserungsprozess machen? Seine zweite GM-Norm erzielen? Wird er sein Spiel und sein Resultat gegen Großmeister weiter verbessern können? Bislang ist der Inder vor allem extrem erfolgreich gegen Spieler, die eine schlechtere Rating als er selbst aufweisen. Welche Risiken geht Nihal ein, um gegen solche Spieler zu punkten? Welche Verbesserungspotentiale hat ein talentierter, aber sicher noch nicht vollständiger Spieler wie Nihal? Hat Nihal schon einen erkennbaren Spielstil?

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Eröffnungen

Ein Check von Nihals Partien zeigt: Er bereitet sich oft auf konkrete Varianten seines Gegners vor und versucht nicht einfach sein eigenes Repertoire durchzusetzen. Im Regelfall spielt er selbst 1.d2-d4; Hauptvarianten genauso wie das Londoner System sind vorstellbar. Mit Schwarz scheint aktuell Damenindisch wie die Wiener Variante zu seinem Repertoire zu gehören. In einem Chessbase-Video gibt er an, Königsindisch zu spielen. Zuletzt waren bei ihm allerdings häufiger andere Verteidigungen gegen d4 zu sehen. Man kann in jedem Fall abwechslungsreiches Schach erwarten. Gegen vermeintlich schwächere Gegner ist Nihal immer für eine Überraschung gut: Ende September beim stark besetzten IOM-Open spielte er beispielsweise gegen einen Gegner mit einer Rating von 2053 aus Sri Lanka 6.h4 gegen dessen Najdorf-Sizilianer. Gegen Emil Sutovsky stellte Nihal eine Berliner Mauer aufs Brett (Remis in 38 Zügen). In seiner Partie gegen seinen Landsmann Adhiban Baskaran spielte Nihal einen Botwínnik-Aufbau mit Weiß.

Zeitnot

Eine Schwäche? Schaut man sich die Aufzeichnungen auf der Homepage seines Teams an, dann ist auffällig, dass er regelmäßig in Zeitnot gerät. Und zwar unabhängig von der Spielstärke seiner Gegner. Das deutet auf den Versuch des Inders hin – oder die Vorgabe seiner Trainer hin, grundsätzlich immer den besten Zug zu suchen. Im Internet gibt es Hinweise auf Blitz-Wettkämpfe von Nihal gegen Hikaru Nakamura oder Eric Hansen, die beide nicht einseitig zu Lasten des Inders verliefen. Im Gegenteil. Nicht überraschend besitzt Nihal eine entsprechende Schnelligkeit.

London Chess Classic (Open)

In den ersten vier Runden spielte Nihal gegen schwächere Gegner als Folge seiner hohen Rating, er ist 22. der Setzliste bei 289 Teilnehmern. Der Turnierverlauf in Kurzform: Nihal spielt in der ersten Runde ein Wolga-Gambit mit den schwarzen Steinen, in der zweiten Runde kommt nach Zugumstellungen eine Stellung aus der Pirc-Verteidigung aufs Brett. Gegen die Internationale Meisterin Jovanka Houska, die als Caro-Kann-Spezialistin gilt, spielt Nihal eine eher seltene Variante im Damen-Inder.

Jovanka Houska (Foto: Lennart Ootes)

In Runde 4 dann folgte mit Weiß gegen einen weiteren englischen Internationalen Meister ein Bogo-Inder. Nihal erzielte bis dahin 4 aus 4. Das Pflichtprogramm.

Auffällig waren an Nihals Spiel vor allem: Von Anfang an versucht er seine Gegner in den Eröffnungen auszutricksen, also auf unbekanntes Terrain zu locken. Strategisch ging er in seinen Partien zudem überschaubare Risiken ein. Überzeugend sind eindeutig seine taktischen Fähigkeiten, wobei nicht die große Kombination, dazu kommt es gegen starke Spieler selten, sondern das Nutzen kleiner Feinheiten zur Stellungsverbesserung gemeint ist. Seine Bereitschaft, technische Stellungen zu spielen ist für einen 13-jährigen Jungen bemerkenswert und deutet auf einen bereits hohen Reifegrad seiner schachlichen Entwicklung hin.

 
 
 
 

Nach 4 aus 4 gegen den ersten Großmeister

Zum ersten echten Test kommt es in Runde 5 gegen einen starken Großmeister aus Armenien. Dabei begann Nihal gegen den katalanischen Aufbau seines Gegners mit einem Ausflug in den Bogo-Inder, um später einen Halbslawen aus der Stellung zu machen. Letztlich misslingt ihm diesmal die Eröffnungswahl und seine Verteidigungsfähigkeiten reichen nicht aus, um in einer schlechteren Stellung noch eine Chance zu bekommen. Um es klar zu sagen: Hrant Melkumyan spielte die Partie technisch brillant und zeigt die Stärke seines Läuferpaars. Melkumyan wird das Turnier mit 7,5 aus 9 als Zweiter beenden.

 

Indisches Duell

Nach dieser Enttäuschung geht es gegen seinen sechzehnjährigen Landsmann Raja Harshit. Die Eröffnungsphase wird erneut auf hohem Niveau mit beiderseitig viel Zeitverbrauch zelebriert. Nihals Gegner wählt überraschend die Grünfeld-Indische Verteidigung und trickst sich letztlich selbst aus. Nihal spielt erneut eine hervorragende Partie nach guter Eröffnungskenntnis mit erneut starker technischer Phase. Einige taktische Ressourcen lässt er in beiderseitiger Zeitnot verstreichen, aber sein Vorteil ist nie ernsthaft in Gefahr.

Einzig Nihals hoher Zeitverbrauch ist weiterhin auffällig. Es wird spannend sein, wie er in den folgenden Runden damit umgeht und ob seine Spielweise in dieser Hinsicht pragmatischer wird.

 

Ein Großmeister aus Frankreich

Nihals Gegner heißt diesmal Jules Moussard, der selbst ungeschlagen in die Partie geht (zwei Remis gegen Großmeister-Kollegen). Der 22 Jahre alte Franzose war 2004 Vizeweltmeister bei den Unter-16-Jährigen, konnte sich aber „erst“ 2016 seinen GM-Titel sichern, gehört also nach heutigen Standards nicht zu den hochbegabten Kinderstars. Moussard ist ein starker Großmeister mit einer Rating von 2576 und die Nummer 13 der Setzliste in diesem Turnier. Die Partie ist von der Strategie beiderseitigen Abwartens geprägt. Mit wenig Restbedenkzeit forciert Nihal die Ereignisse und hat kleinere Vorteile, kann diese aber nicht zu einem Vorteil verdichten. Auffällig ist aus meiner Sicht, dass Nihal auf seine Stellungseinschätzung vertraut und in etwa ausgeglichener Stellung weitere Gewinnversuche unternimmt. Ein Beweis der eigenen Stärke. Remis.

 

Erneut ein Franzose

Der achte Gegner von Nihal ist der für eine GM-Norm benötigte dritte Großmeister. Wieder ist es ein starker Franzose: Matthieu Cornette. Diesmal kommt eine der aktuell angesagtesten Varianten im Nimzo-Inder aufs Brett und Nihal ist bestens vorbereitet. Sein Gegner versucht eine neue Idee zu verfolgen, spielt dann bei eigenem hohem Zeitverbrauch inkonsequent und gerät in erkennbare Probleme. Nihal hat zudem einen deutlichen Zeitvorteil, gibt diesen aber durch eine Denkeinlage von 44 Minuten wieder her, ohne daraus Profit ziehen zu können. Im Gegenteil. Mit etwas Glück und Geschick endet die Partie Remis. Jetzt hängt es an der Rating seines Gegners, ob für die Norm in der letzten Runde ein Remis oder ein Sieg notwendig ist.

 

Die Schlussrunde

Nihals Gegner ist Szymon Gumularz, ein 16-jähriger Fide-Meister aus Polen, mit einer Rating von 2380. Szymon spielte in London hervorragend: Eine 9-rundige IM-Norm ist ihm vor der Partie schon sicher. Mit einem Sieg kann er seinerseits ein Großmeister-Resultat erzielen. Nach einer Niederlage gegen Johnny Hector in Runde 3 hatte Szymon mächtig aufgedreht, gegen drei weitere Großmeister zwei von drei Punkten geholt und zwei andere Gegner geschlagen.

Die Vorzeichen waren also klar: Wir werden eine Entscheidungspartie sehen. Und nur der Sieger bekommt neben der GM-Norm einen Geldpreis. Weiß wählt eine Nebenvariante in der Englischen Eröffnung, die interessantes Spiel verspricht. Nach hartem Kampf endet die Partie Remis. Für Nihal bleibt Platz 14, eine sehr gute Performance von 2576 und ein Zuwachs von 10 Rating-Punkten.

 

Fazit

Nihal verpasst erneut knapp seine zweite Norm. Aber ohne Frage wird er sich im nächsten Jahr schachlich weiter verbessern und den Titel erringen.

Nihal Sarin (Foto: Lennart Ootes)

Nihal ist für sein Alter von 13 Jahren bereits ein reifer Spieler mit einem sehr breiten Spielverständnis, hohen taktischen Fähigkeiten und einem ausgeprägten Gefühl für die Initiative. Überraschend fand ich die Bereitschaft, sich auf Endspiele einzulassen und die Partiephasen zu wechseln, wenn es ihm notwendig erscheint. Zu Nihals schachlicher Entwicklung hat sicherlich beigetragen, dass er sich auf die Eröffnungen seiner Gegner einlässt. Das verbreitert die Basis auf der Nihal künftig schachlich agiert und hilft ihm auf seinem Weg ein universell aufgestellter Spieler zu werden. Vergleiche zum Spielstil eines Magnus Carlsen verbieten sich noch. Ein universeller Spielstil scheint jedoch das Ziel der Trainer zu sein. Einzig sein manchmal ausufernder Zeitverbrauch ist zu kritisieren. Hier bieten sich mit Sicherheit weitere Verbesserungspotenziale. Klar ist: In einigen Jahren werden wir Nihal zumindest in der erweiterten Weltspitze sehen.

Links:

Nihals Ergebnis in London auf dem Chess-Results-Server

Nihals Wikipedia-Eintrag

Nihals Blog
 

  


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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