Martínez besiegt Kramnik in umstrittenem Match

von Carlos Colodro
13.06.2024 – Am 7. und 9. Juni spielte Ex-Weltmeister Wladimir Kramnik ein Match gegen den mexikanischen GM José Martínez mit Blitzpartien online und am Brett. Insgesamt sollten 36 Partien gespielt werden, aber aufgrund von Kramniks Beschwerden über technische Probleme in den Online-Partien wurden nur 26 Partien gespielt. Am Ende sicherte sich Martínez mit zwei Partien Vorsprung den Gesamtsieg.

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Das "Clash of Claims" Match

Nachdem er sich 2019 vom klassischen Schach zurückgezogen hat, blieb der ehemalige Weltmeister Wladimir Kramnik dem königlichen Spiel dennoch verbunden, trainierte indische Talente, spielte Blitzturniere, probierte das No-Castling-Format in Dortmund aus und nutzt in letzter Zeit Foren und soziale Medien, um die Anti-Betrugsmaßnahmen in der Welt des Online-Schachs in Frage zu stellen.

Auf seinem X-Account veröffentlichte Kramnik statistische Analysen, die seiner Meinung nahelegen, dass bei Online-Turnieren, besonderen solchen mit Preisgeldern wie der Titled Tuesday Serie von chess.com, vielfach mit Computerhilfe betrogen wird. Die Titled Tuesday Turniere finden zweimal wöchentlich mit einem Preisgeld von 2.500 USD pro Turnier statt.

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Wie er Levy Rozman in einem kürzlich geführten Interview sagte, ist Kramnik davon überzeugt, dass Betrug viel weiter verbreitet ist, als die Leute denken, und glaubt, dass die Vertreter von chess.com sich nicht ernsthaft genug mit dem Problem auseinandersetzen.

Zudem scheinen viele der vom ehemaligen Weltmeister auf X geteilten Beiträge darauf hinzudeuten, dass bestimmte Spieler entweder in einem einzigen Turnier oder in einer Reihe von Turnieren betrogen haben. Obwohl er diese Behauptung stets bestreitet, hat er von Zeit zu Zeit bestimmte Leistungen eines einzelnen Spielers als Beispiele dafür angeführt, warum er an die Möglichkeit von Computerbetrug glaubt.

Ein Vorfall vor drei Monaten deutete darauf hin, dass Kramnik offenbar einen bestimmten Spieler verdächtigte, mit Computerhilfe zu spielen. Während eines Titled Tuesday Turniers gab Kramnik eine Partie gegen den gebürtigen peruanischen GM José Martínez nach nur zwei Zügen auf. Martínez, auch bekannt als "Jospem" (der Nickname, den er auf chess.com verwendet), ist für seine starken Leistungen in Online-Turnieren bekannt.

Martínez, der derzeit Mexiko vertritt, steht in der Jahresrangliste des Titled Tuesday an vierter Stelle, hinter Hikaru Nakamura, Jan-Krzysztof Duda und Alexey Sarana, die alle ein höheres Rating im klassischen Schach haben als er. Laut Martínez' FIDE-Profil sind seine aktuellen Ratings 2612 (Standard), 2641 (Schnellschach) und 2703 (Blitz).

IM David Martínez, ein langjähriger Trainer und herausragender Förderer des Spiels in der spanischsprachigen Welt, bemerkte, dass Kramnik und Martínez die exakt gleiche OTB-Blitzwertung (2703) hatten, und beschloss, eine Veranstaltung zu organisieren, um dem peruanischen GM die Chance zu geben, sich gegen die lebende Legende zu bewähren.

David Martínez lud beide Kandidaten zu einem Blitzmatch mit 36 Partien in das Gran Vía Casino in Madrid ein, wobei die Hälfte der Partien am Brett und die andere Hälfte online (unter strenger Aufsicht) gespielt werden sollte. Kramnik und Martínez stimmten zu, und das Match wurde für den 7. bis 9. Juni angesetzt.

Es ist anzumerken, dass David Martínez zum Personal von chess.com gehört, ein bekannter Umstand in der spanischsprachigen Schachwelt. 'El Divis' spielte schon eine führende Rolle bei chess24 hatte und sich bei Fans in Spanien und Lateinamerika einen Namen gemacht. Kramnik war sich dieser Tatsache aber offenbar nicht bewusst - ein Detail, das erst nach dem Match in Madrid relevant wurde.

Während der Verhandlungen über das Match betonte Kramnik, dass er Martínez nie des Betrugs bezichtigt habe.

Das Match

Das "Clash of Claims" genannte Match sollte aus 36 Blitzpartien bestehen, mit einer Zeitkontrolle von 3 Minuten plus 2 Sekunden Zugabe pro Zug (die Titled Tuesday-Turniere werden mit einer 3+1-Zeitkontrolle gespielt), verteilt über drei Tage. Die Hälfte der Partien sollte auf einem echten Brett gespielt werden, während die restlichen 18 Partien online über die chess.com-Plattform stattfinden sollten. An jedem Spieltag sollten 6 OTB-Partien und 6 Online-Partien stattfinden.

Auf Kramniks Wunsch hin wurden vor jeder der drei Sitzungen brandneue Laptops live ausgepackt, um jegliche Manipulation des Betriebssystems zu verhindern.

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Tag 1: Erste Probleme mit Online-Partien (Ergebnisse ignoriert)

  • In den ersten 6 Partien, die am Brett ausgetragen wurden, gewannen die beiden Spieler abwechselnd und gingen mit einem 3:3 in die erste Runde der Online-Partien.
  • Martínez erzielte 1½ Punkte in den ersten 2 Online-Partien, aber Kramnik protestierte, weil er meinte, dass sich seine Uhr seltsam verhielt.
    • Die Schiedsrichter untersuchten Kramniks Beschwerde und gaben ihm Recht, da sie feststellten, dass auf den nagelneuen Laptops während der Partien Windows-Updates liefen, was die Zeitsynchronisation beeinträchtigte.
    • Man einigte sich darauf, die ersten beiden Ergebnisse der Online-Partien zu ignorieren, und Kramnik weigerte sich, weiter online zu spielen.
  • Die Verhandlungen führten dazu, dass sich beide Spieler darauf einigten, am ersten Spieltag vier weitere Partien am Brett zu spielen.
  • Kramnik konnte 2 Siege verbuchen und 2 Partien endeten remis, so dass die Anzeigetafel 6-4 zu Gunsten des ehemaligen Weltmeisters zeigte.

Tag 2: Änderung des Ablaufs

  • Der Beginn des Spieltages verzögerte sich, da sich Spieler und Organisatoren nicht darauf einigen konnten, wie das Match weitergehen sollte. Schließlich wurde festgelegt, dass 4 weitere OTB-Partien (insgesamt 14) und 14 Online-Partien an Tag 3 stattfinden sollten. 
  • Martínez gewann 2 Partien, Kramnik gewann 1 Partie, und 1 Partie endete remis, was bedeutete, dass Kramnik mit einem 7½-6½-Vorsprung in den letzten Spieltag ging.

Tag 3: Das Match endet unerwartet, Martínez sichert sich den Sieg

  • In den ersten 3 Online-Partien gab es einen Sieg von Kramnik, ein Remis und einen Sieg von Martínez.
  • Nun beschwerte sich Kramnik erneut über ein angeblich seltsames Verhalten im Zusammenhang mit der Uhr (wohl verursacht durch ein bekanntes Phänomen beim Online-Schach, genannt Lag).
  • Die Partien wurden fortgesetzt, wobei Kramnik immer noch 1 Punkt Vorsprung auf der Anzeigetafel hatte. Martínez begann aber nun, seinen berühmten Gegner zu überspielen und gewann 4 der folgenden 7 Partien.
  • Bis zur 26. Partie hatte Martínez einen 3-Punkte-Vorsprung herausgespielt und sicherte sich damit den Gesamtsieg mit 2 Partien Vorsprung (das Ergebnis lautete 14½-11½ zugunsten des Peruaners).
  • Die Kontrahenten einigten sich darauf, die verbleibenden zwei Partien zu spielen, aber das Matche endete abrupt, als ein technischer Fehler auf Kramniks Laptop ihn daran hinderte, weiterzuspielen - der von Martínez gespielte Zug wurde auf Kramniks Bildschirm nicht angezeigt, und die Plattform zeigte schließlich an, dass Martínez auf Zeit gewonnen hatte. Kramnik hatte zu diesem Zeitpunkt eine völlig gewonnene Stellung.
  • Kramnik weigerte sich jetzt weiterzuspielen.

Nachwehen

Sowohl die Organisatoren als auch die Spieler waren sich der Tatsache bewusst, dass es unmöglich ist, nur anhand eines einzigen Matches zu beurteilen, ob ein Spieler ein Betrüger ist oder nicht. Wie David Martínez jedoch während der Live-Übertragung im Internet wiederholt beteuerte, ging es bei dem Wettkampf eher darum, zu zeigen, dass Martínez ein starker Spieler ist, der sich auch gegen Elitegegner behaupten kann.

Kramnik selbst lobte das Verhalten seines Gegners und bemerkte, dass Martínez sowohl sehr höflich als auch ein starker Schachspieler sei.

Es wurde wieder einmal deutlich gemacht, dass Online-Spielen nicht dasselbe ist wie das Spielen am Brett, wie unter anderem Levon Aronian schon oft betont hat.

Nichtsdestotrotz stellte Kramnik den Organisatoren weiterhin Fragen zu den technischen Bedingungen und den Serverproblemen, die einen reibungslosen Ablauf des Matches verhinderten. Wie bereits erwähnt, war der ehemalige Weltmeister überrascht, als er erfuhr, dass David Martínez für chess.com arbeitet.

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Levy Rozman, auch bekannt als Gotham Chess, kommentierte die Partien live und veröffentlichte später eine hervorragende Zusammenfassung der Ereignisse in Madrid.

Alle Spiele (die Ergebnisse der Spiele 8 und 9 wurden nicht berücksichtigt)


    Carlos Colodro stammt aus Bolivien und ist Spanisch-Philologe. Seit 2012 arbeitet er als freier Übersetzer und Autor. Schach, Literatur und Musik sind seine großen Leidenschaften.
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