Holger Hank: Am letzten Spieltag in Samarkand war klar, dass ein Remis gegen Firouzja wahrscheinlich zu einem Platz im Kandidatenturnier reichen würde. Haben Sie vor dieser Partie schlecht geschlafen – oder eher danach?
Matthias Blübaum: (lacht) Danach habe ich gar nicht geschlafen, weil ich um drei Uhr morgens zum Flughafen musste. Die Nacht davor habe ich schon eine ganze Weile gebraucht, um einzuschlafen. Das war schon mit Abstand die Partie, vor der ich am nervösesten war. Das legt sich dann, wenn es wirklich los geht. Aber die Stunden davor, wenn man weiß, das wird ein harter Kampf, weil der Gegner auf Gewinn spielt, war ich schon nervös.
Wenn Sie auf das ganze Grand Swiss-Turnier schauen: Was haben Sie aus Ihrer Sicht besonders gut gemacht?
Ich denke ich habe insgesamt sehr gut gespielt. Bis auf die Partie gegen Vincent bin ich eigentlich sehr zufrieden. Ich habe kaum größere Fehler gemacht. Ich war sehr gut in Form. Wenn mein Gegner gegen mich etwas einstellt, dann kann man das natürlich auch als Glück bezeichnen. In diesem Turnier haben sogar Top-Spieler gegen mich etwas eingestellt, das machen die beim nächsten Mal dann vielleicht nicht.
In den kritischen Phasen, in denen ihre Gegner Fehler machten, hatten sie oft einen Zeitvorsprung
Zeitnot war für mich kein Problem. Es gab keine Partie, in der ich nur ein paar Sekunden für die letzten Züge hatte. Aber mein Zeitmanagement ist generell eine meiner Stärken. In den letzten Jahren habe ich meistens einen Zeitvorteil gegenüber dem Gegner. Ich gehe das relativ pragmatisch an und versuche, mich schnell zu entscheiden.
Wie schaffen sie das? Haben sie einen Tipp für uns zeitnotgeplagten Schachspieler?
Das ist eine sehr gute Frage. Wenn es eine einfache Antwort gebe, dann hätten weniger Spieler Zeitprobleme. Ich hatte früher auch das Problem. Als ich zum ersten Mal gegen Magnus Carlsen gespielt habe, habe ich unfassbar langsam gespielt. Am Ende hatte ich nur noch 30 Sekunden gegen eine Stunde. Ich habe die Partie zwar gehalten - aber nur, weil er mich nicht ganz ernst genommen hat (lacht). Ich denke, es halt viel mit Selbstbewusstsein zu tun. Wenn man Partien gewinnt, dann traut man sich Züge zu, ohne alles genau ausrechnen zu wollen. Vielleicht kommt es auch daher, dass ich online viel Blitz und Schnellschach spiele und deshalb gewohnt bin, schnell Entscheidungen zu treffen.
Ärgern Sie sich sehr über Niederlagen?
Ja schon. Ich verliere sehr ungerne. In der Partie gegen Vincent beim Grand Swiss habe ich die Niederlage schon im Kopf durchgespielt. Da war ich schon frustriert.

Die entscheidende Phase der entscheidenden Partie: Matthias Blübaum hat gerade ...Sxg3 gespielt und eine Verlust- in eine Remisstellung verwandelt. | Foto: Michal Walusza | FIDE
Sind Sie der Typ, der Angst hat zu verlieren und deshalb Risiko vermeidet?
Ich bin nicht der Typ, der besonders viel Risiko geht. Ich versuche meist, objektiv korrekt zu spielen. Auf der Skala "Angsthase" bis "extremer Kämpfer" würde ich mich halbwegs in der Mitte einordnen.
Ein anderes Thema ist Ihr Eröffnungsrepertoire, Es wird oft gesagt, es sei zu eng. Wie sehen Sie das? Müssen Sie sich umstellen?
Es ist schon so, dass ich kein besonders breites Eröffnungsrepertoire habe. Die meisten Top-Spieler können mit Weiß so ungefähr alles spielen. So bin ich definitiv nicht aufgestellt. Ich glaube, ich habe in meinem Leben genau einmal e4 gespielt. Aber meine Eröffnungen ist schon ein wenig breiter geworden. Aber natürlich macht es keinen Sinn, jetzt sein Repertoire in einem halben Jahr komplett zu ändern. In der kurzen Zeit würde das eher schaden.
Die Abtauschvariante im Damengambit (1.d4 d5 2.c4 e6 2.Sc3 Sf6 4.cxd5 exd5 5.Lg5) gehört zu den häufigsten Abspielen nach 1.d4.
Im Kandidatenturnier werden wohl die meisten versuchen, gegen Sie zu gewinnen. Könnte es sein, dass man in dieser Situation gerade mit einem vergleichsweise engen, aber soliden Repertoire gut durchkommt?
Ja, das ist das, was mir im Grand Swiss geholfen hat. Die Gegner haben sich an mir die Zähne ausgebissen und ich habe keine einzige Partie verloren. Im Kandidatenturnier werden in der zweiten Hälfte bestimmt einige Spieler verzweifelt Punkte brauchen und versuchen, gegen mich zu gewinnen (lacht). Dann werden sie in Risiko gehen und das kann auch nach hinten los gehen. Aber natürlich werde auf jeden Fall einige neue Ideen zum Kandidatenturnier mitbringen.
Sie gelten als großer Experte der französischen Verteidigung - wie überrascht hat es Sie, als diese Eröffnung im letzten WM-Kampf eine tragende Rolle spielte?
Ein bißchen überrascht war ich schon. Französisch ist meine eigene Kindheitseröffnung. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jede Eröffnung ist heute gut spielbar. Die modernen Engines zeigen, dass man viele Eröffnungen spielen kann. Es geht darum, den Gegner zu überraschen. Französisch war daher kein großer Schock für mich. Die Überraschung war eher, dass es mehrmals gespielt wurde. Aber auch das ist Psychologie. Der Gegner denkt vielleicht, das kommt nicht noch einmal.
Warum jetzt auf einmal Russisch?
Es ist natürlich die mit Abstand solideste Variante gegen 1.e4. Inzwischen habe ich ein wenig Erfahrung mit den Stellungstypen auch gegen starke Leute. Für mich ist der Punkt: Wenn ich gegen Top-Leute spiele, die unbedingt mit Weiß gegen mich gewinnen wollen, dann ist Russisch für sie eine extrem nervige Eröffnung. Die Struktur ist sehr symmetrisch. Man hat relativ wenig, mit dem man arbeiten kann. Deshalb ist Russisch für mich aktuell einfacher gegen Spieler über Elo 2700 als bei Französisch 30 Züge lange Varianten vorzubereiten, die man sich genau merken muss.
In der Schlusstabelle beim Grand Swiss lagen am Ende vier Europäer vorne. Zwei Deutsche waren unter den ersten vier. Ist die These von der indischen Dominanz etwas voreilig?
Indien wird in den nächsten Jahren auf jeden Fall eine Top-Nation sein. Es kommen aber auch andere nach. Auch Usbekistan hat viele junge talentierte Spieler, die jetzt alle nach oben stoßen. Man muss schauen, wie es in den nächsten wichtigen Turnieren läuft, aber Indien hat sehr viele gute Spieler. In diesem Turnier hat es halt nicht geklappt.
Aber es ist nicht so, dass wir in Deutschland keine Chance haben. Sicher haben die Talente in Indien einen ganz anderen Support und dann ist es auch wahrscheinlicher, dass es am Ende viele gute Spieler gibt. Es heißt nicht, dass man, wenn man in Deutschland aufwächst, es nicht genauso weit schaffen kann.
Nur schauen wir einmal nach vorne. Bei der EM ist Deutschland jetzt Favorit – aber das macht es ja nicht unbedingt einfach. Ist das eine Bürde?
Ich glaube nicht, dass es eine Bürde ist. Wir sind auf jeden Fall ein Top-Team. Es hängt an ein, zwei kritischen Matches. Wenn dann eine Partie mal kippt, dann kann es halt schief gehen. Aber klar: Wir wollen auf den Titel spielen. Favorit zu sein, heißt natürlich nicht, dass man einfach durchmarschiert. Aber unser Ziel muss sein, Gold zu holen.
Sie sind ja jetzt für das WM-Kandidatenturnier qualifiziert. Spielen Sie auch noch den World Cup in diesem Hebst?
Ja, da spiele ich mit. Ich hatte den Vertrag schon vorher unterschrieben. Der World Cup ist immer ein großes Turnier, das nur alle zwei Jahre stattfindet. Das macht auch immer Spaß. Natürlich wird die Anreise nach Indien sehr aufwändig sein. Nach dem World Cup werde ich auf jeden Fall noch ein weiteres Turnier spielen - bis es dann in die Vorbereitung auf das Kandidatenturnier geht. Aber das steht alles noch nicht.

Beim Grand Swiss in Samarkand | Foto: Michal Walusza | FIDE
Mit Blick auf das Kandidatenturnier müssen Sie ja Gedanken über Ihr Team machen. Aktuell haben Sie ja gar keinen Sekundanten.
Bisher hatte ich das nicht. Ich muss jetzt Leute fragen, von denen ich glaube, dass ich gut mit Ihnen zusammenarbeiten kann. Aber das muss ich jetzt erst einmal klären. Bisher habe ich das nicht gebraucht. Aber ein Kandidatenturnier ist etwas ganz anderes als ein offene Turnier wie das Grand Swiss. Die sieben Gegner stehen von Anfang an fest, man weiß, dass man gegen jeden mit Weiß und mit Schwarz spielen muss. Dazu braucht man auf jeden Fall neue Ideen für die Eröffnung.
Haben Sie sich schon bei dem Gedanken ertappt: "Ein WM-Kampf Gukesh-Blübaum, warum eigentlich nicht?"
(lacht) Es kann nur einziges Ziel geben, auch wenn man Underdog ist: Man muss versuchen, um den ersten Platz zu spielen. Es gibt ja nur ein Ziel bei diesem Turnier. Es macht nicht viel Sinn, über einen WM-Kampf konkret nachzudenken. Ein Kandidatenfinale zu gewinnen ist auch viel schwieriger als einen WM-Kampf zu gewinnen. Wenn man mitspielt, dann will man gewinnen. Ich freue mich darauf.
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