Michael Mertineit im Interview

von ChessBase
11.01.2006 – Mit seinem Film The Immortal Game - The Movie hat Michael Mertinet Neuland betreten und erstmals eine komplette Schachpartie in ihrem dramatischen Verlauf filmisch in Szene gesetzt. Damit wird die Dramaturgie einer der berühmtesten Partien, der "Unsterblichen" zwischen Adolf Anderssen und Lionel Kieseritzky selbst einem Laienpublikum verständlich gemacht. Dr, René Gralla hat den Hamburger Filmemacher für Neues Deutschland interviewt. DVD im Shop kaufen... Demo anschauen... Interview im Neuen Deutschland...Nachdruck...

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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.


Replay von Waterloo

Kann Schach quasi "live" übertragen werden wie Fußball? Und sogar der Nichtexperte kriegt mit, welche Mannschaft gerade ausgedribbelt wird? Ja, meint der Hamburger Regisseur MICHAEL MERTINEIT (54), der eines der wichtigsten Matt-Dramen aller Zeiten verfilmt hat: die "Unsterbliche Partie" zwischen dem Breslauer Mathepauker Adolf Anderssen und dem Deutschbalten Lionel Kieseritzky aus dem Jahr 1851. Dr. Autor Dr. RENÉ GRALLA fragt nach.

DR. RENÉ GRALLA: Sie produzieren Dokumentationen, Serien und Industriereportagen. Wie haben Sie das Thema Schach entdeckt?

MICHAEL MERTINEIT: Beim Schachspiel mit einem Freund. Gleichzeitig hörten wir Rimsky-Korsakoff, und plötzlich schien es mir, als würden die Züge der Dame mit der Solo-Violine aus der klassischen Komposition harmonieren. Die Idee für das Projekt war geboren: die Verbindung zwischen Musik und einer schönen Partie.



DR. GRALLA: Ihr Film verzichtet darauf, die abgestuften Wirkungsgrade der verschiedenen Schacheinheiten zu erklären ...

MERTINEIT: ... grundsätzlich wende ich mich an Menschen, die das Regelwerk bereits beherrschen. Andererseits haben wir uns zugleich darum bemüht, das Geschehen auf den 64 Feldern derart anschaulich zu machen, dass die Interaktionen der Figuren plastisch werden selbst für Leute, denen gerade mal die rudimentären Elemente des Spiels bekannt sind.



DR. GRALLA: Während jeder Laie ein Fußballmatch begreift, ohne die Abseitsfalle verstehen zu müssen, kann bloß der Spezialist ein Matt im Schach nachvollziehen. Folglich wählen Sie einen Kunstgriff, um das berühmte Duell Anderssen gegen Kieseritzky zu animieren: Historische Miniaturen re-inszenieren Napoleons Niederlage bei Waterloo gegen Wellington. Und sobald ein Offizier im englischen roten Rock drohend den Franzosenkaiser fixiert, dämmert selbst dem Unbedarften, dass der Korse in der Falle sitzt.

MERTINEIT: Ein - wenn ich mich recht erinnere - chinesisches Sprichwort sagt: "Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt." Mein Film könnte der erste Schritt sein einer langen Reise: nämlich Schach auf eine bisher so nicht erprobte Art und Weise zu visualisieren. Und zu popularisieren.



DR. GRALLA: Sie lassen virtuelle Armeen manövrieren, haben sich folglich für ein kriegerisches Szenario entschieden. Fürchten Sie nicht die Nähe zu den modernen Battle-Games am PC?

MERTINEIT: Nein. Mit Figuren, die Menschen nachgebildet sind, habe ich deswegen gearbeitet, weil das dem Publikum den Zugang erleichtert. Vielleicht setze ich in einem Folgeprojekt die üblichen abstrakten Turniersteine ein. Oder ich finde eine ungewöhnliche Interpretation des Partiegeschehens: in Form einer Romanze oder einer Komödie.

DR. GRALLA: Dieses Mal ist es freilich ein Replay von Waterloo; da hätten sogar Geschütze krachen können.

MERTINEIT: Im Ton haben wir tatsächlich manches ausprobiert, Kanonen und Böller, aber in der Endfassung doch wieder rausgenommen. Das hätte zu sehr abgelenkt; außerdem glaube ich nicht, dass ich in die Richtung gehen werde, ein Feuerwerk der Special Effects abzubrennen.

DR. GRALLA: Obwohl im Prinzip jede Partie ein kleiner Actionfilm ist.

MERTINEIT: Action ist eine schöne Sache. Ich persönlich bevorzuge aber "suspense", sprich: sich langsam aufbauende Spannung, was Schach betrifft.

DR. GRALLA: In China ist Schach ein Massensport, und das Fernsehen schickt regelmäßig Reporter zu den Wettkämpfen. In Deutschland sind wir auf diesem Sektor noch Anfänger; Ihr Projekt ist demnach ein wichtiger Versuch, eine Schachpartie zu dokumentieren wie ein Treffen aus der Bundesliga.

MERTINEIT: Zunächst einmal müssen wir abwarten, wie der Film angenommen wird. Sicher gibt es höher qualifizierte Spieler, die meinen Ansatz für Schnickschnack halten; anderen kann der Film aber einen unerwartet spannenden Blick auf Schach eröffnen ...

DR. GRALLA: ... und genau das, was Sie soeben gesagt haben, macht die Sache richtig interessant: das Spiel aus dem engen Zirkel der Eingeweihten hinauszutragen und Zuschauer zu erreichen, die Schach interessant finden, ohne zu wissen, wie das eigentlich funktioniert.

MERTINEIT: Dazu muss allerdings erst einmal eine Grammatik des Sehens eingeführt werden: wann ist eine Totale notwendig, wie stellen wir Mehrfachbedrohungen dar und sofort. Wir haben völliges Neuland betreten und experimentiert; soll Schach tatsächlich Breitenwirkung erzielen über das Medium Film, dann müssen wir Emotionen ansprechen, weniger den Kopf. Das versuchen wir zu erreichen mit suggestiven Kameraschwenks und unterstützt von Musik, die eigens für den Film komponiert worden ist.

DR. GRALLA: Fußball gilt als Rasenschach. In diesem Jahr kommt die WM nach Deutschland; 2008 ist Dresden Gastgeberin von Schacholympia. Werden Sie diesen Sommer im Stadion sitzen, um sich für eine Symbiose inspirieren zu lassen: fernsehtaugliches Schach nach dem großen Vorbild Fußball?

MERTINEIT: Wir haben uns noch nichts Konkretes vorgenommen. Wir hoffen natürlich, dass wir einen Weg finden, der von den Fans akzeptiert wird; und die ersten Reaktionen auf den Film sind ermutigend.

DR. GRALLA: Wieviel Zeit haben Sie für das Projekt investiert?

MERTINEIT: Sechs Drehtage sowie etwa zehn Tage für den Schnitt.

DR. GRALLA: Wann haben Sie persönlich Schach gelernt?

MERTINEIT: Da war ich um die zwölf Jahre alt. Schach ist eine große Liebe von mir, wenngleich etwas einseitig: Ich werde vom Schach nicht all zu heftig zurück geliebt.

 



Als DVD zu kaufen: "The Immortal Game - The Movie" von Michael Mertineit (ca. 30 Min.; Preis: 19,99 €; weitere Infos unter: ChessBase Shop

 

Die Unsterbliche...
 
Wer war Lionel Kieseritzky...

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

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