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Nachdruck mit freundlicher Genehmigung.
Replay von Waterloo
Kann
Schach quasi "live" übertragen werden wie Fußball? Und sogar der Nichtexperte
kriegt mit, welche Mannschaft gerade ausgedribbelt wird? Ja, meint der Hamburger
Regisseur MICHAEL MERTINEIT (54), der eines der wichtigsten Matt-Dramen aller
Zeiten verfilmt hat: die "Unsterbliche Partie" zwischen dem Breslauer
Mathepauker Adolf Anderssen und dem Deutschbalten Lionel Kieseritzky aus dem
Jahr 1851. Dr. Autor Dr. RENÉ GRALLA fragt nach.
DR. RENÉ GRALLA: Sie produzieren Dokumentationen, Serien und
Industriereportagen. Wie haben Sie das Thema Schach entdeckt?
MICHAEL MERTINEIT: Beim Schachspiel mit einem Freund. Gleichzeitig hörten wir
Rimsky-Korsakoff, und plötzlich schien es mir, als würden die Züge der Dame mit
der Solo-Violine aus der klassischen Komposition harmonieren. Die Idee für das
Projekt war geboren: die Verbindung zwischen Musik und einer schönen Partie.
DR. GRALLA: Ihr Film verzichtet darauf, die abgestuften Wirkungsgrade der
verschiedenen Schacheinheiten zu erklären ...
MERTINEIT: ... grundsätzlich wende ich mich an Menschen, die das Regelwerk
bereits beherrschen. Andererseits haben wir uns zugleich darum bemüht, das
Geschehen auf den 64 Feldern derart anschaulich zu machen, dass die
Interaktionen der Figuren plastisch werden selbst für Leute, denen gerade mal
die rudimentären Elemente des Spiels bekannt sind.
DR. GRALLA: Während jeder Laie ein Fußballmatch begreift, ohne die Abseitsfalle
verstehen zu müssen, kann bloß der Spezialist ein Matt im Schach nachvollziehen.
Folglich wählen Sie einen Kunstgriff, um das berühmte Duell Anderssen gegen
Kieseritzky zu animieren: Historische Miniaturen re-inszenieren Napoleons
Niederlage bei Waterloo gegen Wellington. Und sobald ein Offizier im englischen
roten Rock drohend den Franzosenkaiser fixiert, dämmert selbst dem Unbedarften,
dass der Korse in der Falle sitzt.
MERTINEIT: Ein - wenn ich mich recht erinnere - chinesisches Sprichwort sagt:
"Eine Reise von 1000 Meilen beginnt mit dem ersten Schritt." Mein Film könnte
der erste Schritt sein einer langen Reise: nämlich Schach auf eine bisher so
nicht erprobte Art und Weise zu visualisieren. Und zu popularisieren.
DR. GRALLA: Sie lassen virtuelle Armeen manövrieren, haben sich folglich für ein
kriegerisches Szenario entschieden. Fürchten Sie nicht die Nähe zu den modernen
Battle-Games am PC?
MERTINEIT: Nein. Mit Figuren, die Menschen nachgebildet sind, habe ich deswegen
gearbeitet, weil das dem Publikum den Zugang erleichtert. Vielleicht setze ich
in einem Folgeprojekt die üblichen abstrakten Turniersteine ein. Oder ich finde
eine ungewöhnliche Interpretation des Partiegeschehens: in Form einer Romanze
oder einer Komödie.
DR. GRALLA: Dieses Mal ist es freilich ein Replay von Waterloo; da hätten sogar
Geschütze krachen können.
MERTINEIT: Im Ton haben wir tatsächlich manches ausprobiert, Kanonen und Böller,
aber in der Endfassung doch wieder rausgenommen. Das hätte zu sehr abgelenkt;
außerdem glaube ich nicht, dass ich in die Richtung gehen werde, ein Feuerwerk
der Special Effects abzubrennen.
DR. GRALLA: Obwohl im Prinzip jede Partie ein kleiner Actionfilm ist.
MERTINEIT: Action ist eine schöne Sache. Ich persönlich bevorzuge aber "suspense",
sprich: sich langsam aufbauende Spannung, was Schach betrifft.
DR. GRALLA: In China ist Schach ein Massensport, und das Fernsehen schickt
regelmäßig Reporter zu den Wettkämpfen. In Deutschland sind wir auf diesem
Sektor noch Anfänger; Ihr Projekt ist demnach ein wichtiger Versuch, eine
Schachpartie zu dokumentieren wie ein Treffen aus der Bundesliga.
MERTINEIT: Zunächst einmal müssen wir abwarten, wie der Film angenommen wird.
Sicher gibt es höher qualifizierte Spieler, die meinen Ansatz für Schnickschnack
halten; anderen kann der Film aber einen unerwartet spannenden Blick auf Schach
eröffnen ...
DR. GRALLA: ... und genau das, was Sie soeben gesagt haben, macht die Sache
richtig interessant: das Spiel aus dem engen Zirkel der Eingeweihten
hinauszutragen und Zuschauer zu erreichen, die Schach interessant finden, ohne
zu wissen, wie das eigentlich funktioniert.
MERTINEIT: Dazu muss allerdings erst einmal eine Grammatik des Sehens eingeführt
werden: wann ist eine Totale notwendig, wie stellen wir Mehrfachbedrohungen dar
und sofort. Wir haben völliges Neuland betreten und experimentiert; soll Schach
tatsächlich Breitenwirkung erzielen über das Medium Film, dann müssen wir
Emotionen ansprechen, weniger den Kopf. Das versuchen wir zu erreichen mit
suggestiven Kameraschwenks und unterstützt von Musik, die eigens für den Film
komponiert worden ist.
DR. GRALLA: Fußball gilt als Rasenschach. In diesem Jahr kommt die WM nach
Deutschland; 2008 ist Dresden Gastgeberin von Schacholympia. Werden Sie diesen
Sommer im Stadion sitzen, um sich für eine Symbiose inspirieren zu lassen:
fernsehtaugliches Schach nach dem großen Vorbild Fußball?
MERTINEIT: Wir haben uns noch nichts Konkretes vorgenommen. Wir hoffen
natürlich, dass wir einen Weg finden, der von den Fans akzeptiert wird; und die
ersten Reaktionen auf den Film sind ermutigend.
DR. GRALLA: Wieviel Zeit haben Sie für das Projekt investiert?
MERTINEIT: Sechs Drehtage sowie etwa zehn Tage für den Schnitt.
DR. GRALLA: Wann haben Sie persönlich Schach gelernt?
MERTINEIT: Da war ich um die zwölf Jahre alt. Schach ist eine große Liebe von
mir, wenngleich etwas einseitig: Ich werde vom Schach nicht all zu heftig zurück
geliebt.
Als DVD zu kaufen: "The Immortal Game - The Movie" von Michael Mertineit (ca. 30
Min.; Preis: 19,99 €; weitere Infos unter:
ChessBase Shop
Die Unsterbliche...
Wer war Lionel Kieseritzky...