Zum 75. Geburtstag von Michail Tal
Artur Jussupow und Mark Dworezki erinnern sich an den
Zauberer aus Riga
Von Dagobert Kohlmeyer
Am heutigen 9. November wäre Michail Tal 75 Jahre alt geworden. Wegen seiner
phantasievollen Spielweise wurde der viel zu früh Verstorbene als "Zauberer aus
Riga" oder "Mozart des Schachs" bezeichnet. Schon zu Lebzeiten war Mischa, wie
ihn seine Freunde nannten, eine Legende. Der achte Weltmeister der Geschichte
war die Liebenswürdigkeit in Person. Nach schwerer Krankheit trat er Ende Juni
1992 für immer von der Schachbühne ab und hinterließ eine schmerzliche Lücke.
Artur Jussupow und sein Trainer Mark Dworezki kannten Tal sehr gut und erinnern
sich gern an ihn. Mit dem ehemaligen WM-Kandidaten Jussupow habe ich oft über
Tal gesprochen. Hier der Extrakt von Arturs Erinnerungen an Michail Tal.
„Tal war einfach phantastisch“
Artur, wie begehst du den Geburtstag Tals?
Ich werde an ihn denken und am Abend ein Glas zur Erinnerung an
unsere Begegnungen trinken. Außerdem freue ich mich auf das Tal-Memorial nächste
Woche in Moskau. Ich finde es gut, dass es so ein Turnier gibt und hoffe auf
interessante, spannende Partien.
Was
war das Besondere an Michail Tal?
Für ihn war Schach eine Herzens-Angelegenheit. Man kann Tal und
dieses Spiel nicht voneinander trennen. Das wäre nicht möglich. So eine Liebe
zum Schach habe ich nur bei Viktor Kortschnoi gesehen. Aber bei Tal war sie noch
etwas stärker. Er war besessen davon, aber im positiven Sinne. Es ging ihm um
den ganzen Prozess des Spiels, der für ihn sehr wichtig war. Egal, welche
Bedeutung ein Wettbewerb hatte und auf welcher Ebene er stattfand.
Wann hast du ihn kennengelernt?
1974 durfte ich als 14-Jähriger bei einem Simultan gegen ihn
spielen. Ich konnte die Partie gewinnen und war natürlich stolz. Ein Jahr später
hat Tal mich in einem Uhrensimultan sehr schön geschlagen. Das waren meine
ersten Begegnungen mit ihm. Er war ein großes Schach-Idol für mich.
Hast du seine Wettkämpfe verfolgt?
Alle. Ich erinnere mich noch, wie er einmal gegen Gligoric
spielte und ich eine Radio-Reportage darüber hörte. Da fieberte ich mit Mischa
Tal mit. Aus unerklärlichen Gründen war er mir einfach sympathisch. Als ich ihn
später näher kennenlernte, habe ich gemerkt, was für ein netter, humorvoller
Mensch er war.
Wie
äußerte sich das?
Seine Erzählungen waren superklasse. Und was er als
Schachjournalist in Zeitungen und Journalen veröffentlichte, war großartig.
Seine Berichte waren hervorragend. Ich habe alles sehr gern gelesen, weil er mit
viel Humor schrieb und viele interessante Details brachte. Seine Reportagen und
Partie-Analysen waren nie langweilig.
Was
machte seine Faszination als Schachspieler aus?
Ich glaube, es war vor allem die große Phantasie, die er besaß.
Er hatte ein besonderes Auge für taktische Möglichkeiten. Für ihn war auf dem
Brett wahrscheinlich fast alles möglich. Wenn man seine Partien anschaut, sieht
man, was für unglaubliche Risiken er manchmal einging. Das war vielleicht nicht
notwendig, aber er glaubte an seine Stärke und seine Fähigkeiten. Darum spitzte
er die Situation immer zu, um den Gegner zu verwirren.
Michail Tal, 1963
Heute spielt die Schachelite ganz anders.
Die heutigen Stars spielen praktisch nicht mehr so. Sie riskieren
kaum etwas. Er aber tat es. Das war seine besondere Qualität, die nur bei
wenigen Spielern so ausgeprägt war. Zum Beispiel stellt ein Spieler eine Falle.
Tal sieht diese, aber er geht noch eine Ebene weiter und blickt tiefer in die
Stellung. Darum sieht er die Widerlegung der Falle. Er tut so, als gehe er in
die Falle, aber in Wirklichkeit ist er es, der den Gegner überlistet.
Wenn Sie das Gleichgewicht einer Stellung stören können, dann tun sie es, hat
der Zauberer aus Riga einmal gesagt.
Das war eine von Tals Maximen. Ich habe seine Partien studiert
und festgestellt, dass er mir im schachlichen Bereich fremd ist. Er tickte ganz
anders als die meisten Spieler. Aber man kann eben auch so Schach spielen, und
das macht seine Faszination und Größe aus, die bis heute anhält. Jeder hat
seinen Stil, und Tal spielte sein ganz eigenes Schach.
Welche Philosophie steckte dahinter?
Sein Spiel war gegen den Gegner gerichtet. Er wollte ihm so viele
Probleme stellen, dass er Fehler macht. Tal suchte nach den unangenehmsten
Zügen, so wie es früher Lasker getan hat. Allerdings hat Mischa später auch
klassisches Schach gespielt. Das war der reifere Tal. Auch wenn er dadurch seine
Innovation und seinen Charme etwas verloren hat, so mag ich diese Partien.
Warum war er so ein Großer?
Er hat sehr, sehr viel gesehen und spürte fast alle Möglichkeiten
auf. Tal konnte jede trockene Stellung aufblühen lassen. Das war eine Gabe, die
er wie kein anderer besaß. Immer sah er noch eine Möglichkeit, weiter zu
kämpfen.
Welche Rolle spielte die Psychologie bei ihm?
Tal war ein sehr praktischer Schachmeister, der seine Stärke am
Brett phänomenal ausspielen konnte. Er brachte seine Gegner in sehr unbequeme
Situationen, wo er fast jeden schlagen konnte. Eine Ausnahme bildeten in seiner
Glanzzeit höchstens zwei drei Leute. Nur Spieler wie Spasski oder Kortschnoi
konnten damals mit Tal mithalten. Alle anderen stellte er vor schier unlösbare
Probleme. Nur ganz große Schachmeister konnten ihm einigermaßen Paroli bieten.
Als
Schachspieler war Tal vom anderen Stern. Wie nah war er dir als Mensch?
Obwohl er eine andere Generation war, hatten wir ein sehr gutes
Verhältnis. Er war mein Schachidol und einer der Gründe, warum ich dann vom
Schach so gefesselt wurde und nicht mehr davon loskam. Als Person war er sehr
angenehm. Ich hatte ihn wahnsinnig gern.
Wie
wenig hat ihn Geld interessiert?
Überhaupt nicht. Es war für ihn zum Ausgeben da. Ich könnte da
viele Geschichten erzählen. Ein paar Mal traf ich ihn im Moskauer Hotel „Sport“,
das längst abgerissen ist. Nach einem Turnier im Ausland läuft Mischa in der
Lobby herum, greift in seine Taschen und befördert ein großes Bündel Geldscheine
heraus. Er sieht darauf und sagt. „Meine Güte, das habe ich ganz vergessen.“ Es
waren Banknoten in verschiedenen Währungen. Gern lud er Freunde ein, weil er
sehr großzügig war. So war sein Lebensstil. Geld wurde sofort ausgegeben, zum
Trinken usw. Es war undenkbar für Tal, etwas zu sparen.
Mark Dworezki: „Tal war ein außergewöhnlicher Mensch“
Der Russe Mark Dworezki ist einer der besten Schachtrainer der
Welt. Er führte seine Meisterschüler Artur Jussupow, Sergej Dolmatow und andere
in die Weltspitze. Seit vielen Jahren ist Dworezki auch ein erfolgreicher
Schachbuch-Autor. Seine Titel „Endspieluniversität“ und „Tragikomödien im
Endspiel“ wurden in diesem Jahr vom Weltverband FIDE mit der
Boleslawski-Medaille ausgezeichnet.
Nun legt der Toptrainer Mark Dworezki ein neues Buch mit dem
Titel „ Für Freunde und Kollegen“ vor, das Ende November im Jussupow
Schachakademie Verlag erscheinen soll. Es ist eine Autobiografie in zwei Bänden.
Nach Auskunft von Artur Jussupow befindet sich das Manuskript bereits in der
Druckerei, die Lebensgeschichte Dworezkis wird also rechtzeitig vor Weihnachten
erhältlich sein. Wir bringen eine Leseprobe daraus. Aus aktuellem Anlass wählten
wir das Kapitel mit den Erinnerungen an Michail Tal.