Monomanisch am Brett, nahe am Unendlichen?

von Peter Muender
07.05.2021 – Der spanische Publizist und Lyriker Vicente Valero ist begeisterter Schachspieler und geht gern mit seinem kleinen Steckschach auf Reisen. In den jetzt veröffentlichten "Schach-Novellen" präsentiert er einen luziden Mix aus Reise-Impressionen und Schach-Erfahrungen | Foto: Berenburg Verlag/ March.es

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Zu seinem 50.Geburtstag wollte sich der spanische Lyriker, Literaturwissenschaftler und passionierte Schachspieler Vicente Valero etwas Besonderes gönnen: Er reiste von seiner Heimatinsel Ibiza zur Zürich Chess Challenge, um die Großmeister Caruana, Anand, Gelfand und Kramnik live bei einem Turnier zu erleben. Die 1809 gegründete Schachgesellschaft Zürich - der älteste Schachverein der Welt - hatte das Turnier im Hotel Savoy ausgetragen, wo Valero die am Brett grübelnden Meister ganz aus der Nähe erlebte. Fasziniert stellte er fest, dass ihm beim Betrachten der Spieler Ideen, Assoziationen und Zitate aus Nabokovs Roman Lushins Verteidigung sowie Zweigs Schachnovelle durch den Kopf gingen.

Die vier Schachgenies, die da beim Zürich Chess Challenge "sorgfältig zurecht gemacht und herausgeputzt mit ihren Wollkrawatten steif da saßen und wie Musterknaben wirkten", überlegt Valero, ähnelten Nabokovs komplexbeladenem Unglücks-Genie Lushin keineswegs. Aber hatten Nabokov und Zweig ihren beiden Schachspieler-Protagonisten nicht monomanische Züge verliehen, die sozusagen zur essentiellen Berufsqualifizierung gehörten, mit der sie sich von anderen Menschen unterschieden? "Alle Arten von monomanischen, in eine einzige Idee verschossenen Menschen haben mich zeitlebens angereizt", zitiert Valero aus Zweigs Schachnovelle , "denn je mehr sich einer begrenzt, umso mehr ist er andererseits dem Unendlichen nahe."

Offenbar wird Valero hier als Beobachter des Turniers beim Betrachten der vier Kämpfer am Brett "mit ihren Brillen und Kindergesichten" zu diversen Assoziationen inspiriert, denn er hält jede Monomanie bereits "in Kindertagen für leidenschaftlich ausgeprägt", geht aber nicht ausführlicher auf die menschenverachtende, extrem arrogante Monomanie des automatenhaft spielenden Schachmeisters Miro Czentovic ein, der von Stefan Zweig ja in der Schachnovelle als Gegenpol zum humanistisch geprägten Anwalt Dr. B. gestaltet wurde. Der hatte sich die Schachkenntnisse in einer Gestapo-Zelle beim Nachspielen von Tartakower-Partien aus einem Buch selbst beigebracht.

Für den Erzähler Dr. B. war das Schachspiel ja ein zum Überleben in der Isolationshaft entscheidendes Vademecum gewesen, auch wenn er seine "Schachfieber-Attacken" später nur vorübergehend kontrollieren konnte. Und der im russischen Landadel-Ambiente hilflos agierende Lushin flüchtete sich als Schachprofi lieber zu Turnierkämpfen, um den gesellschaftlichen Zwängen zu entgehen. Aber um sich gegen die Erwartungshaltung der Familie und der Verlobten durchzusetzen, fehlte ihm dann doch die Kraft: Dem enormen Druck bereitete er mit seinem Suizid ein Ende - vielleicht fehlte Lushin also zum Überleben im großbürgerlich-dekadenten elterlichen Habitat der aggressive, monomanische Furor eines Bobby Fischer.

Wie auch immer: Valeros locker und assoziativ abgerufene Rückblicke sind bereichernd und nehmen den Leser mit Schwung weiter zu den anderen Stationen dieser Reise, auf der er dann auch beiläufig erklärt, was es mit seinem geliebten, vom Großvater geerbten Steckschach auf sich hat und wie sich seine Schach-Affinität entwickelt hatte.

In diesem Kontext kann er dann auch erklären, wie es zur Bezeichnung Katalanisch für die von Tartakower entwickelte Eröffnung kam - so präsentiert der spanische Lyriker und Essayist eigentlich in jeder dieser zwischen Augsburg, München, Turin, Zürich und dem dänischen Svendborg spielenden Episoden faszinierende Momente.

Über Walter Benjamin auf Ibiza 1932/1933 hatte Valero 2006 bereits eine Studie veröffentlicht, daher wollte er auch während eines stürmisch-winterlichen Besuchs in Schweden eine Exkursion nach Svendborg unternehmen, um zu erkunden, wie Brechts Exil-Häuschen mit Garten beschaffen war, in dem die beiden "Extrem-Denker" (so der Titel der Berliner Ausstellung 2017 in der Akademie der Künste) Benjamin und Brecht im Sommer 1934 so engagiert über Benjamins Kafka-Essay, episches Theater und die politischen Konstellationen während der Nazi-Zeit diskutierten, wobei sie intensiv und sehr engagiert ihre Partien spielten; dies allerdings nicht auf hohem Niveau.  

Auf den berühmten Schach-Fotos aus dieser dänischen Sommerfrische sieht man den mit Zigarre bestückten locker-entspannten Brecht und einen etwas verkrampften, übers Brett und seine schwarzen Figuren gebeugten Benjamin. Rekonstruiert und auf einem Schachtisch ausgestellt hatte man in der Berliner Akademie diese Partie, die mit Französisch eröffnet wurde, bis zum 12. Zug rekonstruiert - der von den Schachexperten Peter Buse und Michael Tiedemann dazu abgelieferte Kommentar (im Suhrkamp-Band "Denken in Extremen", S. 33 ) lautete kurz und kritisch: "Ein durchschnittlicher Klubspieler würde schnell mit Benjamin und Brecht fertig werden".

Beim Duell Caruana gegen Gelfand, in dem Caruana Katalanisch spielte, begeisterte sich Valero schnell für das extrem hohe Niveau der Partie und für Caruanas spektakulär eingefädelte Opfer seiner beiden Läufer, was ihm auch den Sieg bescherte und das Publikum zu entzücktem Applaus hinriss. Für den spanischen Turnier-Besucher war dies jedenfalls ein überzeugendes Argument dafür, dass "Schach das schönste und geistvollste Spiel der Welt ist".

Der eher düster-deprimierende Schluss dieser Schach-Novellen konzentriert sich auf Kafkas Parabel "In der Strafkolonie", die Valero als Vision einer später operierenden Nazi-KZ-Tötungsmaschinerie interpretiert. 

Wer würde das bestreiten? In diesem Kontext wirkt der Kafka-Exkurs allerdings doch ziemlich überraschend. Er bezieht sich auf Kafkas Münchener Lesung vom November 1916, die ein gutbürgerliches Bildungsbürgerpublikum erheblich irritiert hatte.

Der auf Erinnerungen und Assoziationen fokussierte Lyriker Valero kommt über diverse Umwege auf die verstörende Strafkolonie, da auch Rilke und andere Künstler während Kafkas München-Visite an der Isar zu Besuch gewesen waren. Vielleicht fühlte sich Valero auch herausgefordert, seine schöngeistige Lyrik mit einer bitter-ätzenden, alptraumartigen Utopie anzureichern, um dem Vorwurf eines kritisch-provozierenden Augsburgers zu begegnen, der Valero bei dessen Lesung an der Uni gefragt hatte, ob er schon mal ein Gedicht über den Holocaust verfasst hätte...

Mein Fazit: Ein wunderbarer, amüsanter, aber auch auf analytische Tiefenbohrungen abzielender Band, dem es gelingt, die Grenzen zwischen lockeren Reise-Impressionen  und spannenden literarischen Entdeckungsreisen zu verwischen und als faszinierenden Mix zu präsentieren. 

Vicente Valero: Schach-Novellen.
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen. Berenberg Verlag Berlin 2021, 128 S., 22,- Euro

Klappentext des Verlages

Auf Reisen führt manchmal der Zufall Regie. Viermal bricht Vicente Valero auf, nach ­Italien und Dänemark, nach Zürich und Augsburg. Stets im Gepäck: das von einem Onkel geerbte Reiseschach. Was unbeschwert beginnt, mit Schachpartien und Begegnungen mit offenem Ausgang, wird zu einer detektivischen Suche nach Orten und Plätzen, wo sich die Lebens­linien von fünf europäischen Geistern ­kreuzen: Brecht und Benjamin in Svendborg 1934; Nietzsche, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch in Turin; Kafka bei der berühmten Lesung in München 1916; Rilke schließlich, der 1921 in Berg am Irschel versucht, sein Hauptwerk endlich zu vollenden.

Informationen des Verlages

Vicente Valero

geboren 1963 auf Ibiza, wo er auch heute lebt. Er hat zahlreiche Gedichtbände veröffentlicht, dazu Essays und erzählende Prosa. Bei Berenberg erschienen, jeweils übersetzt von Peter Kultzen, »Die Fremden« (2017), »Übergänge« (2019) und zuletzt »Schachnovellen« (2021).

Peter Kultzen

wurde 1962 in Hamburg geboren und lebt als freier Lektor und Übersetzer aus dem Spanischen und Portugiesischen in Berlin. 1994 und 2011 erhielt er den Übersetzerpreis der Botschaft von Spanien in Deutschland.

 


Peter Münder, Anglist, Pinter-Biograph und begeisterter Schachfreund spielt beim Hamburger SK.

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