Rezension: "Spielertypen" von Müller und Engel
Mir ist kaum ein anderer Grossmeister bekannt, der dermaßen daran interessiert ist, sein Wissen weiterzugeben und mit anderen zu teilen wie es Karsten Müller ist. Seine ChessBase-DVDs zu den verschiedenartigsten Endspiel-Typen sind legendär und haben ihm den Ruf eines der größten Endspiel-Experten überhaupt eingebracht. In den letzten Jahren widmete er sich jedoch auch Themen der Eröffnungstheorie - beispielsweise gemeinsam mit IM Souleidis zum Italiener - und zuletzt besonders der Schachphilosophie, wie in seinem 2020er Buch "Spielertypen", ebenfalls zusammen mit Grossmeister Luis Engel.
Wer kennt das nicht? Die nächste Runde eines Opens oder Mannschaftskampfes steht an, der Name des Gegners steht fest und die Datenbank spuckt eine Handvoll Partien von ihm oder ihr aus. Nun stellt sich die Frage: wie spielt man am effektivsten gegen diese spezielle Art von Spieler? Wie erkennt man dessen Stärken und Schwächen, spielt man eher riskant oder möglichst risikolos?
Genau dieser Fragestellung widmeten sich die Grossmeister Müller und Engel in dem zuvor genannten Buch und präsentieren mit der vorliegenden DVD auf satten 7 Stunden Spielzeit eine ideale digitale Ergänzung dazu, wobei sich Buch und DVD in keinerlei Weise gegenseitig bedingen, sondern auch wunderbar unabhängig voneinander genutzt werden können.
In ihrem "Spielertypen"-Modell orientieren sich Müller und Engel dabei an Großmeister Lars Bo Hansen, der im Jahr 2005 in seinem Buch "Foundations of Chess Strategy" erstmals sein Konzept der "Spielertypen" vorgestellt hatte. Darin unterteilte Hansen Schachspieler in sogenannte Aktivspieler, Reflektoren, Pragmatiker und Theoretiker. Er beschäftigte sich damit als Erster intensiv mit der Frage, wie sehr der individuelle Spielstil Einfluss auf unsere Entscheidungsfindungen am Brett hat. Eine der Fragen, die mich schon immer am brennendsten interessiert haben!
Hansen betitelte das "The role of the human factor in chess" und forderte seine Leser auf, den eigenen Schachstil anhand persönlicher Charakteristika und Vorlieben analog seiner Vorgaben zu definieren. Diese Eigenschaften wurden entsprechend der jeweiligen Spielertypen in den Kapiteln mit konkretem Inhalt gefüllt, so dass man sich letztlich selbst einem bestimmten Spielertyp zuordnen konnte. Mir gefiel dieses Konzept damals und ich halte es auch heute noch für überaus hilfreich.
Dass auch Profis eine solche Vorgehensweise für sinnvoll halten, zeigt das folgende Zitat von Deutschlands aktuell stärksten Spieler, Grossmeister Vincent Keymer:
"Im Rahmen der Vorbereitung auf meinen nächsten Gegner oder meine nächste Gegnerin versuche ich häufig, deren typische Spielereigenschaften mit Hilfe einer Datenbank in möglichst kurzer Zeit zu erforschen. Dabei spielen immer wieder bestimmte Charakterzüge eine Rolle, die ich diesem Spieler zuzuordnen versuche. Typische Fragen dazu sind etwa: Mag sie dynamische Stellungen oder baut sie ihr Spiel möglichst strategisch auf? - Wie reagiert er in Zeitnot oder wenn er unter Druck gerät? - Geht sie gerne in Endspiele? - Wie hoch ist seine Risikobereitschaft? Hier kann es hilfreich und zeitsparend sein, beispielsweise durch gespielte Eröffnungen Rückschlüsse auf den Spielertypus und damit auch auf Stärken und Schwächen zu ziehen - oder über bekannte Spielereigenschaften Hinweise auf die Wahrscheinlichkeit betreffs der Wahl bestimmter Eröffnungsvarianten zu bekommen."
Die Grossmeister Müller und Engel erweitern das von Hansen vorgestellte Konzept anhand zahlreicher Beispiele aus dem Schaffen solcher Schwergewichte wie Kasparov, Carlsen, Kramnik, Anand usw.
Sobald man selbst erkannt hat, welcher Spielertyp man ist, möchte man schließlich alsbald wissen:
- welches sind die Stärken und Schwächen der jeweiligen Spielertypen?
- wie und gegen wen hebe ich die Stärken besonders hervor bzw. wie kaschiere ich die Schwächen am besten?
- wie spiele ich idealerweise gegen Vertreter anderer Stile oder gar gegen Vertreter des eigenen?
- wie konzentriere ich mich stärker auf meine Stärken und werde insgesamt zu einem schachlichen „Allrounder“?
Hier leisten Müller und Engel Pionierarbeit und geben eine Unmenge an praktischen Beispielen und wertvollen Tipps als Orientierungshilfen.
In den Kapiteln finden sich zahlreiche Stärken und Schwächen der einzelnen Spielertypen. Müller und Engel erklären anschaulich, warum welcher Spieler(typ) zu welchem Stellungstyp und sogar welcher Vorgehensweise tendieren würde und welches die diesbezüglichen Vor- und Nachteile in der konkreten Spielsituation sein können.
Ein kurzer Auszug aus dem überaus detailreichen Inhaltsverzeichnis, das unter anderem die folgenden spannenden Themen behandelt:
Hyperaktivspieler, Deep Junior als Aktivspieler, Judit Polgars Bauernopfer, Initiative für statische Schwächen, Pseudoaktive Verteidigung, Fatale Öffnung des Königsflügels, der Verteidiger muss bei Bauernzügen vorsichtig sein, Musterpartien gegen Aktivspieler, Tiviakovs Theorien, Die positionelle Schule, Dorfmans Schachmethode, das Andersson-Endspiel, Ponomariovs Technik, Petrosians Prophylaxe, Computertechnik, Angriff mit ungleichfarbigen Läufer, Das Carlsen-Endspiel, Fischers Flügelzange, Variantenberechnung, Praktisch gute Entscheidungen, Das Spiel verkomplizieren usw.
In den zahlreichen Partiebeispielen finden sich alte und gut bekannte Perlen wie die spanische Partie Karpov-Unzicker 1974 mit dem Zug 24. La7! gleich neben aktuelleren wie Carlsen-Caruana Sao Paulo/Bilbao 2012.
Sehr gut gefallen hat mir die Aufgabenteilung der beiden Autoren: So besprechen Müller und Engel auch jeweils unterschiedliche Kapitel und Spielertypen. Müller konzentriert sich auf die Theoretiker und Aktivspieler, während sich Engel der Reflektoren und Pragmatiker annimmt. Das bringt Abwechslung in die Vorstellung der Inhalte und gibt der Darstellung den persönlicheren "Touch" eines Einzeltrainings. Das gilt insbesondere für die Vorstellung
eigener Partien, wie beispielsweise Engel-Albornoz Cabrera, in der dem Co-Autor ein unglaubliches "pragmatisches" Turmopfer die Partie rettete.
Ein winziger Kritikpunkt am Rande: Während ich im Inhaltsverzeichnis relativ schnell auf die Stärken und Schwächen von Aktivspielern stieß, gelang mir selbiges bei den drei verbleibenden Spielertypen leider nicht auf Anhieb. Allerdings geben die Namen der jeweiligen Kapitel einen guten Eindruck darüber, welche Vorlieben den einzelnen Spielertypen zuzuschreiben sind.
Wem daran gelegen ist, sein Spiel auf allen Ebenen vollkommener zu gestalten, sollte zu der neuen DVD von GM Müller und Engel greifen. Hier findet sich sowohl das theoretische Rüstzeug, mit dem man seinen eigenen Stil auch schachphilosophisch auf Effizienz hinterfragen kann und sicherlich die eine oder andere vorhandene Schwäche auf der spielpraktischen Ebene in eine Spielertyp-typische Stärke verwandeln zu können! Und ich bin mir sicher, diese Anschaffung lohnt sich weit mehr als der Blick in die neueste Eröffnungsmonographie!
Ich schließe mit einem Zitat von GM Vincent Keymer, das passender kaum sein könnte:
"Interessant und aufschlussreich ist es für mich, Einblicke in die Denkweise anderer Spielertypen zu bekommen. Die Beschäftigung mit den unterschiedlichen Denkansätzen und den daraus resultierenden starken und wirkungsvollen Eigenschaften anderer ist sicherlich für jeden Schachspieler nützlich und kann dabei helfen, das eigene Spektrum zu erweitern. So scheint es tatsächlich möglich zu sein, den eigenen Spielertypus durch Einsicht, Willen und Training zu beeinflussen bzw. zu verändern. Dies ist aus meiner Sicht eine wichtige Botschaft (...)."