Nachbetrachtung zur Russischen Meisterschaft

von ChessBase
13.12.2004 – Mit seinem überzeugenden Sieg bei der Russischen Meisterschaft hat sich Garry Kasparov zum Jahresende gut in Szene gesetzt und seinen Führungsanspruch als Weltranglistenerster noch einmal unterstrichen. Doch nicht nur Kasparov als Sieger überzeugte, sondern auch die anderen Teilnehmer, die sich elf Runden lang spannende und Kampf betonte Partien lieferten. Misha Savinov blcikt noch einmal auf interessante vierzehn Tage zurück und hat Interviews mit Mikhail Ulibin, Evgeny Najer und Mark Dvortsky geführt. Mehr...

ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024 ChessBase 17 - Megapaket - Edition 2024

ChessBase ist die persönliche Schach-Datenbank, die weltweit zum Standard geworden ist. Und zwar für alle, die Spaß am Schach haben und auch in Zukunft erfolgreich mitspielen wollen. Das gilt für den Weltmeister ebenso wie für den Vereinsspieler oder den Schachfreund von nebenan

Mehr...

Nachbetrachtung der Russischen Meisterschaft
Von Misha Sawinow

Vierzehn Tage nach Beendigung des Superfinale der Russischen Meisterschaft gibt es wohl kaum einen Schachenthusiasten, der das Schlussresultat nicht kennt: Garry Kasparov erzielte bemerkenswerte 8 aus 11 (+5) und wurde klarer Erster, einen ganzen Punkt vor Alexander Grischuk. Alexey Dreev belegte den dritten Rang. Der Stil von Kasparovs Sieg lässt sich vergleichen mit dem von Michael Schumacher vor ein paar Jahren. In den seltenen Fällen, wo der Rote Baron nicht vom Start weg einen Vorsprung herausfuhr, schlug er maximales Kapital aus seinen Boxenstopps (sowie denen seiner Gegner). Garry Kasparov legte seinen “Reifenwechsel ” frühzeitig ein und entwickelte ein Höllentempo genau zu dem Zeitpunkt, als sein Hauptrivale Grischuk einen vorgesehenen Stopp in der Boxengasse hatte.

An dieser Stelle ein Rückblick auf die letzten Runden, zunächst in Bildern, dann in Interviews.

Runde 8


Kasparov gegen Svidler




Die gemeinsame Analyse




Kasparov und sein Sekundant Dochojan




Kasparov zeigt im Presseraum seine Partie gegen Svidler am Demobrett

Runde 9


Artyom Timofeev


Timofeev gegen Kasparov






Alexander Motylev am Demobrett


Journalisten im Pressecenter


Kasparov und Dochojan

Habe ich die warme Atmosphäre während des Turniers erwähnt? Keine Skandale, keine Beleidigung, und Konflikte gab es einzig und allein auf dem Schachbrett. Und sogar die unvermeidlichen Enttäuschungen konnten dem Geist der Freundlichkeit nichts anhaben. Weder Svidler noch Bareev waren mit ihren gestrigen Partien zufrieden, geschweige denn mit ihrer Turnierleistung. Und sehen sie etwa böse aus?


Bareev und Svidler

Runde 10


Alexey Dreev gewann in Runde 10 gegen Tseshkovsky


Tseshkovsky, Dreev


Der Senior des Turniers


Motylev


Kasparov spielte gegen Morozevich





Alexey Korotylev am Demobrett


Der Tisch mit den Sonderpreisen


Boris Spassky als Zuschauer


Ehrengäste: Ehepaar Smyslov

Runde 11


Evgeny Bareev


Korotylev und Bareev


Svidler gegen Dreev






Svidler demonstriert seine Partie gegen Dreev



 



Letzte Runden verbindet man oft mit spannungsarmen Partien und vielen Kurzremisen. Einer meiner Kollegen vermutete, dass zumindest zwei Partien in knapp zwei Stunden friedlich enden würden – und war so mutig, darauf einen Geldbetrag zu setzen. Doch die Wirklichkeit meinte es schlecht mit ihm – bzw. gut mit uns übrigen. Jede der letzten fünf Partien hatte ihre eigene Dramatik, und keiner der Großmeister hatte die Absicht, mit Weiß eine Pause einzulegen.

Für Grischuk war die Partie gegen Kasparov eine seltene Herausforderung. Ein Erfolg in der Schlussrunde würde ihm keine Titelchancen mehr einräumen, bestimmt aber Kasparovs Siegesfreude etwas trüben und wäre darüber hinaus eine langfristige Investition in Grischuks Glaubwürdigkeit auf Topebene, vor allem bei den Veranstaltern verschiedener starker Turniere. Was Kasparov anging, so würde ihm jedes positive Ergebnis erlauben, seine schwache Leistung bei der Europameisterschaft wettzumachen und über 2800 zu bleiben. Bei einem derart hochklassigen Turnier ungeschlagen zu bleiben, war sowieso schon Anreiz genug.

Es ist kurios, sich Erinnerung zu rufen, dass sich nach der Eröffnungszeremonie alle Spieler mit Schiedsrichern und Organisatoren zusammensetzen, um zu beschließen, dass im Fall der Punktgleichheit auf dem ersten Platz der Titel nicht durch irgendeine Wertung vergeben werden sollte, sondern in einem Match. Die Urheber dieser Initiative waren... Kasparov und Grischuk! Aus dieser Weigerung, etwas dem Zufall zu überlassen, lässt sich vielleicht ihr Vertrauen in die eigene Stärke ebenso deutlich ablesen wie aus der Turniertabelle...

Im Verlauf  der Schlussrunder trat ich auf einige der Experten zu und stellte ihnen eine Reihe von Fragen zur Meisterschaft.


Evgeny Najer, Großmeister (einer von Motylevs Sekundanten bei dieser Veranstaltung)

MS: Hast du einen derart überlegenen Sieg von Kasparov erwartet?

EN: Nein. Er hatte natürlich per se gute Erfolgsraussichten, aber man konnte nicht vorhersehen, dass sowohl Swidler als auch Morozevich schlecht in Form sein würden. Sie spielten schwächer als in Kransoyarsk 2003 (die vorherige Russische Meisterschaft, 1.Svidler 2.Morozevich - M.S.). Wenn sowohl Kasparov als auch Morozevich und Svidler in Topform gewesen wären, hätte es einen engen Kampf zwischen ihnen geben können.

MS: Auch Kasparov schien zu Turnierbeginn nicht in Bestform zu sein...

EN: Es gab zwei Kasparovs. Zu Anfang war es der Garry, an den wir uns in den letzten Jahren leider langsam gewöhnen, aber nach der Partie gegen Tseshkovsky war er ein ganz anderer, viel stärker und selbstbewusster. Allerdings spielte er auch vor dieser Verwandlung phasenweise extrem gut, zum Beispiel im Mittelspiel gegen Motylev. Objektiv gesehen gingen die meisten Favoriten mit etwas verminderter Stärke in diese Meisterschaft. Sogar Grischuk, der gute Ergebnisse erzielt, aber bei weitem nicht in Bestform ist. Vielleicht hat er sich nach der Olympiade erholt, mehr aber auch nicht. Dreev sah vielleicht etwas besser aus als andere. Und Motylev konnte sich nach ganz schwachem Start erholen.

MS: Haben dich bei dieser Meisterschaft irgendwelche Partien besonders beeindruckt?

EN: Da muss ich mal die Kasparovsiege rekapitulieren... Gegen Svidler war es zu einfach. Die Partie gegen Bareev ist beachtenswert, obwohl es ein bisschen hin und her ging. Natürlich war ich mehr auf Motylevs Partien fokussiert. Mir gefiel die Begegnung Dreev – Motylev – die war interessant bis zum Ende. Wenn es keine Kurzremisen gibt, wenn alle kämpfen, gibt es in den Partien immer interessante Ideen und Konzepte. Aber m.E. gab es keine glänzenden und makellosen Siege, keine klassischen Meisterwerke. Wenn es dazu kommen soll, müssen beide Gegner in großer Form sein und kraftvolles Schach zeigen.

MS: Wie bist du mit Korotylevs Leistung hier zufrieden?

EN: Ich war überrascht, dass er nichts Besonderes in der Eröffnung vorbereitet hatte. Er wählte die gleichen Abspiele wie sonst. Den gleichen Sizilianer, der, m.E., seinem Stil nicht liegt. Aber Alexey scheint psychologisch gut präpariert zu sein, was gleichfalls wichtig ist. Und offenbar ist sein allegemeines Spielniveau höher als seine Rating.

MS: Es gab einige Spekulationen bezüglich möglicher Kurzremisen in dieser Schlussrunde. Was meinst du dazu?

EN: Ich erwarte in allen 5 Begegnungen Kampfpartien. Svidler muss sein Ergebnis verbessern, und von Morozevich ist ein Remisangebot ebenfalls kaum zu erwarten...



Mikhail Ulibin, Großmeister (ein Zuschauer)

MU: Vielleicht hat Kasparov einen derart klaren Vorsprung selbst nicht erwartet! Er hatte ein schweres Jahr, in dem er bei jedem der drei Wettkämpfe, an dem er teilnahm, nie mehr als eine Partie gewonnen hat. Offen gestanden war ich sicher, dass er in Moskau mehr als einmal siegen würde, aber ein derartiger Abstand ist natürlich überraschen. Andererseits, wir reden ja über Kasparov! Von diesem großen Spieler sind immer Überraschungen zu erwarten.

MS: Was waren für dich die kritischen Momente in diesem Turnier?

MU: Der Sieg bereits in der Auftaktrunde hat Kasparov sicherlich sehr geholfen. Und der Wendepunkt waren die Partien gegen Dreev und vor allem gegen Tseshkovsky, die Garry nicht gut spielte, aber mit dem Glück des Tüchtigen gewann. Nach dieser Begegnung konnten Kasparovs +5 niemand mehr überraschen. Seine Stärke ist allen bekannt, und mit Selbstvertrauen und Glück kann man Wunder vollbringen...

MS: Welche Partien haben dich am meisten beeindruckt?

MU: Hervorheben würde ich Korotylev - Grischuk. Vielleicht spielte Weiß nicht die besten Züge, die gesamte Strategie war zu riskant, aber ich glaube, der Hauptgrund für Grischuks Niederlage ist, dass er einfach kein derart aggressives Spiel von Korotylev erwartete. Hochrangige Spieler erwarten oft, dass ihre wesentlich eloschwächeren Gegner von Beginn an auf Remis spielen, und da kam Alexeys gewagtes Spiel als unangenehme Überraschung. Alles in allem hatte Grischuk ein ordentliches Tunier und wird unter die ersten 3 kommen, gestern aber spielte er schwach.

MS: Was hälst du vom Format dieser Veranstaltung?

MU: Das Feld sollte anders zusammengesetzt sein. Wie man sieht, haben drei eingeladene Spieler abgesagt. Solche Turniere haben keinen absoluten Wert für sie, ganz im Gegensatz zu denjenigen, die eine harte Qualifikation überstehen mussten. Ich fände es fair, die drei Sieger der vorangegangen Meisterschaften einzuladen plus einem Elobesten, und dann den Rest des Feldes in einer Qualifikation zu bestimmen. Ein solches System würde der Meisterschaft nur gut tun.

MS: Wie lautet dein Score gegen Kasparov?

MU: Es steht 4-4. +1=2-1. Und... es waren alles Simultanpartien (lächelt).

 


Mikhail Ulibin, Mark Dvoretsky


Mark Dvoretsky, Trainerlegende, Internationaler Meister (ein Zuschauer)

MD: Kasparovs Vorsprung ist deshalb so überlegen, weil sein Hauptrivale nicht in Form ist. Ich meine Morozevich. Anfangs war Kasparovs Spiel nicht überzeugend; er machte mehr Punkte, als seine Stellungen eigentlich hergaben. Dann spürte er Rückenwind, der sich sowohl gegen Dreev als auch Tseshkovsky bemerkbar machte - und darin, dass seine Rivalen Punkte einbüssten – und war nicht mehr zu stoppen. Grischuk war Kasparov lange Zeit auf den Fersen, wobei er ziemlich schwach spielte. Alexey Dreev war in guter Form, aber seine Niederlage gegen Kasparov brach ihm das Genick.

Der Fehlstart von Sasha Motylev ist eine unerklärliche Überraschung. Er ist ein wunderbarer Spieler, einer der besten seiner Generation, sein Schach ist sehr tiefgründig und interessant, und darüber hinaus ist auch noch ein sehr netter Mensch. Er ist, meiner Meinung nach, in der Lage, Topresultate zu zeigen. Leider war es ihm nicht möglich, die notwendige Vorbereitung auf die Meisterschaft abzuschließen, da er ein unwiderstehliches Angebot hatte. Ich meine das Turnier in Korsika. Alexander zeigte eine ganz gute Leistung, verdiente ordentliches Geld, aber er verlor natürlich eine Menge Energie und konnte sich nicht auf das Superfinale vorbereiten. Sein Spiel zu Beginn war fürchterlich, aber es spricht für seinen starken Charakter und sein großes Potential, dass er sich im Verlauf der Veranstaltung vollständige erholte. Heute wird er allerdings, glaube ich, verlieren, aber dennoch hat er ein völliges Desaster abgewendet und gewinnt sogar ein paar Elopunkte.

MS: Wie bewertest du die kreativen Resultate des Superfinals?

MD: Wenn die Spitzenspieler kämpfen, gibt es immer interessante Partien... Ich habe eine Theorie, die ich in einem meiner Bücher erklärt habe. Schachpartien sind so interessant, brillant und herausragend, wie ein Kommentator sie macht! Es gibt immer tiefe und schöne Züge, aber ihre Tiefe und Brillanz zu zeigen ist eine Herausforderung, das erfordert Können. Ein Beispiel, das Kandidatenturnier in Zürich 1953 war kaum ein herausragenderer Wettbewerb als das Kandidatenturnier 1959 in Jugoslawien.

Aber das Turnierbuch 1959 war farblos geschrieben, schablonenhaft und konnte insgesamt nicht beeindrucken, obwohl unter den Partien wahre Meisterwerke waren; Zürich 1953 ist dagegen ein Klassiker, den jeder kennt. Bei dieser Meisterschaft ist es genauso – der Eindruck würde vom Kommentator abhängen.

MS: Bücher über Turnier sind heutzutage eine Seltenheit geworden...

MD: Leider ist das öffentliche Interesse zu sehr auf Eröffnungen gerichtet, daher befassen sich die meisten Bücher mit der Anfangsphase. Die Folge ist, dass jetzt fast jeder die Eröffnung spielt wie ein Großmeister, anschließend aber viele höchsten wie Kandidaten. (wie Hausmeister, a.d.Ü.)

MS: Meinst du, dass das Format der Meisterschaft der Korrektur bedarf?

MD: Das ist keine prinzipielle Frage. Der Kern des Formats ist ein Kompromiss zwischen eingeladenen und qualifizierten Teilnehmern, und über die jeweilige Anzahl könnte man diskutieren. Ich verstehe nur nicht, warum es keine Liste der Kandidaten gab. Das führte vor der Veranstaltung zu einer chaotischen Situation vor der Veranstdlung. Eine Kandidatenliste sollte es unbedingt geben, in diesem Fall würden nämlich Absagen das Turnier nicht beeinflussen. Auch sollten die Einladungen nach einem bestimmten sportlichen Prinzip erfolgen – entweder Elo, Zugehörigkeit zur Nationalmannschaft oder sonstwas, aber wir sollten vermeiden, ohne ersichtlichen Grund “einen Namen” einzuladen. Das Einladungsprinzip sollte lang im Voraus angekündigt werden.

Ich persönlich würde gern mehr Teilnehmer sehen. Zu Sowjetzeiten gab es 16, 18 Spieler, ohne dass sich jemand über die Länge der Veranstaltung beschwerte.

 

Endstand:

1.Kasparov
2.Grischuk
3.Dreev
4-7 Morozevich
, Motylev, Svidler, Bareev,
8-10 Epishin
, Korotylev,
Timofeev
11 Tseshkovsky

Fortschrittstabelle

             1   2    3    4     5    6    7    8      9    10    11
Kasparov     1  1,5  1,5'  2   2,5  3,5  4,5  5,5   6,5   7    7,5
Grischuk     1  1,5   2    3   3,5   4   4,5  4,5'  5,5  5,5    6
Dreev        1,5   2   2,5  3,5  3,5   4   4,5   4,5' 5,5   5,5
Morozevich  0,5 0,5  0,5   1   1,5  1,5'  2   2,5   3,5   4     5
Motylev      0,5  0,5   1    1'   2   2,5  3,5   4,5   5     5
Svidler      1   1'   1   1,5   2   2,5  3,5  3,5   3,5   4     5
Bareev       0,5   1   1,5  2,5   3   3,5   4     4    4'    5
Epishin     0,5  1   1,5   2   2,5  2,5  2,5'  3    3,5   4    4,5
Korotylev    0' 0,5  1,5   2    2   2,5  2,5  3,5   3,5  4,5   4,5
Timofeev    0,5  1    2    2'  2,5   3   3,5  3,5   3,5  4,5   4,5
Tseshkovsky  0  0,5  1,5  1,5  1,5   2    2     2   2,5  2,5   2,5'

 

' – Freilos in dieser Runde

Anatoly Karpov überreichte seinem historischen Rivalen Garry Kasparov ein einzigartiges Schachspiel aus seiner  Sammlung – ein besonderes Geschenk für den neuen Champion von Russland! Den Preis für die beste Partie erhielt Vitaly Tseshkovsky für seine Leistung in Runde 3 gegen Morozevich. Den Schönheitspreis bekam Morozevich - Dreev, und Dreev erhielte ebenfalls seine Trophäe. Diejenigen, die leer ausgingen, konnten sich mit $500 für jeden erzielten Punkt trösten.


Alexey Korotylev und Freundin


Alexey Dreev mit glänzender Bronzemedaille


Tseshkovsky und Spassky

 

 

 


Die ChessBase GmbH, mit Sitz in Hamburg, wurde 1987 gegründet und produziert Schachdatenbanken sowie Lehr- und Trainingskurse für Schachspieler. Seit 1997 veröffentlich ChessBase auf seiner Webseite aktuelle Nachrichten aus der Schachwelt. ChessBase News erscheint inzwischen in vier Sprachen und gilt weltweit als wichtigste Schachnachrichtenseite.

Diskutieren

Regeln für Leserkommentare

 
 

Noch kein Benutzer? Registrieren