Nachlese zur Polgar Challenge

von Thorsten Cmiel
29.04.2021 – Die Polgar Challenge war kürzlich das Online-Schaulaufen der Schach-Stars von morgen, männliche und weibliche. Vincent Keymer war dabei und wurde mit zwei Punkten Rückstand auf den Sieger Praggnanandhaa Sechster, wobei er den indischen "Wunderjungen" schlagen konnte. Thorsten Cmiel hat sich in seiner Nachlese die Partien der Weltspitze in spe gründlich angesehen. | Foto: vincent-keymer.de

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Nachlese zur Polgar Challenge

Ramesbabu Praggnanandhaa, "Pragg", dominierte das erste Turnier der Julius Bär Challengers Chess Tour und zwar trotz einer Auftaktniederlage. Er gewann vor seinen national und international größten Konkurrenten. Nihal Sarin, Gukesh und Nodirbek Abdussatorov. Die Überraschung des Turniers war sicherlich der 14jährige Russe Volodar Murzin, der letztlich geteilter Zweiter bis Fünfter wurde. Der deutsche Hoffnungsträger Vincent Keymer spielte lange Zeit in seinem typischen Stil, verlor in der Schlussrunde gegen Christopher Yoo und lief als Sechster über die Ziellinie.

Die Junioren und deren Entwicklung kann man pandemiebedingt nur in Blitzturnieren beobachten, insofern war dieses Online-Turnier, organisiert von der Play Magnus Gruppe, eine spannende Angelegenheit und eine lobenswerte Abwechslung zu den Turnieren der Weltklassespieler untereinander. Die zwanzig Teilnehmer wurden komplettiert von zehn Mädchen und Frauen. Während die Jungs auf die Jahrgänge 2003 bis 2006 zurückgriffen, fanden die Organisatoren nicht genügend Mädchen in der Altersgruppe. Die Mädchen und Frauen wurden durch Spielerinnen der Jahrgänge 1996 bis 2003 repräsentiert.

Gender Gap

In der Abschlusstabelle sind auf den ersten zehn Plätzen Jungs zu finden. Das kam natürlich für die Spieler wegen der Ratings der teilnehmen Spielerinnen und Spieler nicht unerwartet. Drei der jüngsten vier Teilnehmer, Christopher Yoo (USA, 14), Volodar Murzin (RUS,14) und Leon Luke Mendonca (IND,15) sind noch keine Großmeister. Wobei der Inder auf seine Ernennung wartet. Er „profitierte“ davon, dass er 2020 nicht in seine Heimat zurückkehren konnte und während der Pandemie mehrere Turniere in Budapest und später in Italien spielte. Gukesh ist der drittjüngste Teilnehmer und schon seit 2018 Großmeister, bei ihm vergisst man allerdings sein Alter am ehesten, da er schon länger auf dem Zettel der hoffnungsvollsten Talente der Schachwelt steht.

Pragg gewann das Turnier unter anderem deshalb souverän, weil er gegen die weiblichen Teilnehmerinnen voll punktete (10 aus 10, bzw. 9 aus 9). Erwähnt sei, dass die älteste Teilnehmerin im Feld, Jahrgang 1996, die Kasachin Dinara Saduakassova, wegen Internetproblemen am zweiten Tag ausschied, einige Teilnehmer also 18 oder 19 Partien spielten. Schaut man auf die Ergebnisse der Jungs untereinander, dann ergibt sich fast das gleiche Bild wie in der Gesamttabelle.

 

Keiner der Jungs verlor mehr als eine Partie gegen eine weibliche Teilnehmerin. Ausgerechnet der usbekische Favorit, Nodirbek Abdusattorov (2627), schien am nächsten dran zu sein an zwei „unerwarteten“ Niederlagen. Die anderen Teilnehmer mussten natürlich ebenfalls gelegentlich etwas Glück in die Waagschale werfen. Einige Beispiele sollen das illustrieren. Erfreulich ist die Idee der Organisatoren, dass die Spieler sich nicht per Vereinbarung auf Remis einigen dürfen. So waren manche späte Dramen bereits in den Regeln angelegt.

 

Training in Kleingruppen

Das Konzept dieser Challenger Turniere ist eine Kombination aus Training und praktischem Spiel. So traten beispielsweise die Teilnehmer in einer Trainingseinheit in einem Blitzwettkampf (3+0) gegen Magnus Carlsen an. Alle Spieler und Spielerinnen sind einem „Team Kramnik“ und einem etwa gleichstarken „Team Polgar“ zugeordnet. Das Gewinnerteam ist zum nächsten Weltmeisterschaftskampf von Magnus Carlsen in Dubai eingeladen.

Innerhalb der Teams, mit jeweils drei bis vier Spielern, wird mit erfahrenen Trainern in Kleingruppen gearbeitet. So ist Vincent Keymer beispielsweise im Team Polgar und trainiert zusammen mit Awonder Liang und Polina Shuvalova unter Anleitung von Arthur Kogan. Die gespielten Partien bieten jetzt den Spielern und Trainern interessante Einblicke in die Stärken und Schwächen der Spieler.

Die Teamwertung

 

Vincent-Style

Vincent spielte ein sehr starkes Turnier und konnte beispielsweise Pragg (2005) in einer überzeugenden Partie und im typischen Stil schlagen. In seiner Partie gegen Nihal, wie Vincent Jahrgang 2004, sah es lange Zeit nach einem vollen Punkt für Vincent aus. Gegen den Usbeken Nodirbek Abdussatorov (2004) geriet Vincent in der Eröffnung etwas unter Druck, spielte eine nicht funktionierende Abwicklung und konnte entkommen, um zum Schluss recht eindeutig zu verlieren. Dramatisch und tragisch war die Niederlage in der Schlussrunde gegen Christopher Yoo. Die Hauptantwort von Vincent gegen den Königsbauern war diesmal der Najdorf-Sizilianer – vielleicht war das der Tatsache geschuldet, dass Vincent vor allem gegen weibliche Spielerinnen mit Schwarz antrat. Im Spiel von Vincent lassen sich wie bei allen anderen Teilnehmern Verbesserungen finden und das macht das Konzept dieser Turnierserie so wertvoll für alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer.

 

 

 

Neue Kinder und Jugendliche im Vormarsch

Wer will kann sich ebenfalls intensiv mit den Partien der anderen Jugendlichen beschäftigen. Denn unter den Teilnehmern sind manche Zukunftshoffnungen dabei. Ein Beispiel dafür ist Christopher Yoo, wer ihn noch nicht kennt, der kann sich über die US-Hoffnung in zwei Artikel auf der englischsprachigen ChessBase-Website und auf der Website von Chessbase India informieren.

Christopher Yoo | Foto: David Llada

https://en.chessbase.com/post/christopher-yoo-ten-facts

https://www.chessbase.in/news/Christopher-Yoo-Studies


Heutzutage nutzen die größten Talente die Möglichkeiten, die sich durch zahlreiche Online-Akademien bieten. So ist Christopher Yoo in der Kasparov Chess Academy, die schon länger existiert und nicht auf Online-Training ausgerichtet war. Genau wie Pragg ist Christopher ein Student in der Elitegruppe der indischen Akademie Pro Chess Training. Zu seinen Coaches dort gehört Surya Ganguly, der in der Julius Bär Challenger Tour ebenfalls als Trainer fungiert und neben Nihal den aktuell jüngsten Großmeister Gukesh in seiner Trainingsgruppe betreut.

Ebenfalls bei Kasparov und in Indien ist Mishra Abhimanyu dabei. Mishra ist in den USA geboren und Jahrgang 2009. Er ist der jüngste Internationale Meister aller Zeiten, der bereits 2019 mit zehn Jahren seine definitive IM-Norm erzielte. Er ist offenbar noch zu jung für diese Challenger Tour.

Statistik und Eröffnungen

Zwar orientieren sich viele Amateure an den Repertoires und Eröffnungen der weltbesten Spieler, aber das ist nicht unbedingt eine gute Empfehlung. Junioren suchen noch nach ihrem Spielstil, experimentieren mehr und spielen in der Regel etwas interessantere Eröffnungen als die Top10-Spieler. Insofern durfte man gespannt auf die Eröffnungswahl sein. Dabei dürfte für manche Auswahl die Notwendigkeit auf Gewinn spielen zu müssen, eine Rolle gespielt haben.

Zur Statistik: Von 179 gespielten Partien (inklusive der von Dinara bis zu ihrem Ausscheiden) gingen 77 für Weiß aus, 38 endeten Remis und 64 gewann Schwarz. Man sieht also, dass die Regeln in Kombination mit knapper Bedenkzeit (10+5) zu einer Remisquote von lediglich etwas mehr als einem Fünftel führte.

Die Partien begannen mit nur vier Startzügen: 1.d4 (79), 1.e4 (72), 1.Sf3 (23), 1.c4 (5). Weder das Londoner System (4 Partien) noch die Berliner Verteidigung (2) spielten eine wichtige Rolle. Gegen den Zug 1.d4 kamen am häufigsten Strukturen mit e6 und d5 zum Einsatz: Nach der Zugfolge 1.d4 Sf6 2.c4 e6 3.g3 oder 3.Sf3 war 3...d5 die häufigste Antwort. Gegen 1.e4 waren Sizilianische Verteidigungen und offenes Spiel fast gleich häufig zu sehen. Daneben gab es zwölf Caro-Kann-Partien, wohingegen man Skandinavisch und Französisch mit je einem Versuch als Exoten bezeichnen darf.

Interessant ist es zudem, die Flexibilität der Spieler in der Eröffnungsphase zu beobachten. Beginnen wir mit Weiß: Pragg und Vincent spielten mit Weiß nur geschlossene Systeme mit 1.d4 oder 1.Sf3. Bei Nihal und Gukesh konnte man zudem sporadisch andere Züge (1.c4 und 1.e4) sehen. Nodirbek und Volodar zogen in allen Partien den Königsbauern. Während der Däne Jonas Buhl Bjerre immer 1.d4 spielte wechselte Christopher Yoo zwischen seinem Damen- und Königsbauern hin und her.

Mit Schwarz interessierte mich die Eröffnungswahl von Vincent und Pragg am meisten. Vincent spielte Sizilianisch (Najdorf), gewann damit gegen die Mädchen und verlor gegen Nodirbek. Der Variante 1.e4 c5 2.Sf3 d6 3.Lb5 wich Vincent übrigens aus und spielte stattdessen 1...e5 gegen Jiner Zhu. Pragg spielte gegen den Königsbauern den Klassischen Sizilianer und gegen Christopher Yoo wählte Pragg einen Zug, den er zuvor gelegentlich im Blitzen gespielt hatte. Der Zug 5...h5 wurde von dem zweifachen indischen Meister Aravindh Chithambaram in die Praxis eingeführt, Christof Sielecki nahm das überraschend ernst, gab dem einen Namen und machte daraus den Dirty-Harry-Sizilianer. Aravindh ist einer der Trainingspartner von Pragg aus der Trainingsgruppe von Großmeister Ramesh aus Chennai und so fügen sich die Dinge zusammen.

Inzwischen spielt Pragg via Wildcard bei den Großen in der Meltwater Champions Chess Tour mit – das war neben dem Preisgeld der vielleicht wichtigste Teil des ersten Preises.
 

 

Links

https://challengerschesstour.com/

http://chess-results.com/tnr555694.aspx?lan=1&art=2&flag=30

 


Thorsten Cmiel ist Fide-Meister lebt in Köln und Milano und arbeitet als freier Finanzjournalist.

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