Beim Nikolausfest geht es bekanntlich darum, dass die Erwachsenen sich eine
Freude machen, indem sie Kindern einreden, eine Person mit weißem Bart und rotem
Mantel, genannt Nikolaus, käme auf einem von Elchen gezogenen Schlitten durch
den Himmel herbei geflogen und brächte Äpfel, Nüsse, Schokolade und andere
Geschenke.
Die vollständige Inszenierung dieses tief im westlichen Werteverständnis
verwurzelten Traditionsvorgangs ist in allen Einzelheiten nicht immer leicht zu
bewerkstelligen. Wer außer Steven Spielberg könnte beispielsweise seinen Kindern
schon die Anreise des Nikolaus per Schlitten aus der Luft vorspielen. So
reduziert sich der Auftritt zumeist auf plötzliches Erscheinen des Nikolaus
innerhalb des Gebäudes und zwar zu Fuß, verknüpft mit der Behauptung, der
Schlitten und die Elche bzw. Rentieren stünden draußen. Kinder, die dies
nachzuprüfen wünschen, werden - notfalls auch unter Androhung von wenig
erfreulichen Repressalien ("Du möchtest doch auch ein Geschenk bekommen, wie die
anderen Kinder. Dann bleib mal schön hier!") - daran nachdrücklich gehindert.
Wenn das Lügengebäude der mythische Zauber,
der sich um die Fortbewegungstechnik rankt, nur unter größten Mühen aufrecht zu
erhalten ist, so muss wenigstens der Rest des Auftrittes überzeugend wirken.
Hier hatte das Festkomitee in den Jahren großes Glück, denn alle bisherigen
Interpreten des Nikolausgedankens wussten durch großes darstellerisches Geschick
etwaige Lücken in der Dramaturgie gekonnt auszugleichen. Initiatorin Helga
Wellershaus hatte in den ersten Jahren ein besonders dankbares Publikum, das der
Vorführung folgte, ohne viele Fragen in Bezug auf die Stringenz der Handlung zu
stellen.
Nachdem Helga Wellershaus sich als Nikolaus zur Ruhe gesetzt hatte, übernahm
Mathias Feist die Rolle und schaffte es, die großen Fußstapfen seiner
Vorgängerin praktisch nahtlos auszufüllen. Das hätte zur Freude aller
Beteiligtem immer so weiter gehen können, wenn die kleinen Ratten
die lieben Kleinen nicht plötzlich angefangen hätten, sich über das Gezeigte
Gedanken zu machen.
Wer sich jemals in eine intellektuelle Auseinandersetzung mit einem Fünf, Sechs-
oder Siebenjährigen begeben hat, weiß, das er hier auf verlorenem Posten steht.
Unzählige Memory-Spiele zwischen Kindern und Erwachsenen finden immer wieder die
gleichen Sieger. Jeder, der dies schon selber erlebt hat, kennt das demütigende
Gefühl, wenn die unbarmherzigen Gnome lieben Kinder sich
feixend zuzwinkern, weil die dämlichen Alten Mama oder Papa das
doch eigentlich für jedermann offensichtliche Paar Memorykarten wieder einmal
nicht aufdecken konnten und am Ende einen Stapel vorzuweisen haben, der an Höhe
nur einen Bruchteil dessen misst, was die Kinder angesammelt haben.
Seit drei Jahren befindet sich die Nikolausfeier in Bezug auf die Titelrolle
in einer permanenten Krise. Diese nahm ihren Anfang als Mathias Feist von
Johannes enttarnt wurde und damit als Hauptdarsteller verbrannt war. Im
folgenden Jahr sprang Mathias Deutschmann spontan ein und im letzten Jahr
rettete Pascal Simon den Nikolaus. Er baute die Rolle durch großen Sachverstand
bezüglich der Hamburger Jugendfußballszene aus, konnte aber dennoch nicht
verhindern, dass Zweifel an der Realität der von ihm dargestellten Person
geäußert wurde. Diese wurden je nach Temperament unterschiedlich vorgetragen,
durch Kichern hinter vorgehaltener Hand, Augenrollen oder nachträgliches
hinterfotziges diplomatisches Anfragen, warum Pascal eigentlich später
als die anderen Mitarbeiter auf der Feier erschien, etc.
In diesem Jahr hofften die Erwachsenen jedoch auf einen klaren Punktsieg.
Während die vorlauten Kurzen lieben Kinder damit rechneten, es
erneut mit Pascal im roten Mantel zu tun zu haben, ergab sich durch einen
glücklichen Zufall eine neue Möglichkeit. Uli Leupelt, sonst Chef des
Druckhaus Leupelt in Weding , hatte sich als verhinderter Schauspieler zu
erkennen gegeben und wollte auf Anfrage sehr gerne die tragende Rolle der
Nikolausfeier übernehmen. Das Zielpublikum war inzwischen außerdem mit Jan Oke
um ein weiteres Exemplar erweitert. Falls Jan Oke Zweifel an der Glaubhaftigkeit
haben würde, könnte er diese immerhin noch nicht äußern. Er ist erst acht
Monate!
Jan Oke denkt sich auch seinen Teil, macht aber wenig Worte.
Uli Leupelt legte einen so überzeugenden Nikolaus hin, wie ihn die Welt noch
nicht gesehen hatte.
Uli Leupelt als Nikolaus
Präzision in Diktion, Mimik oder Gestik - hier stimmte alles. Das war
Oscar-reif. Anfänglich gab es beim Zielpublikum die üblichen hämischen
Grimassen noch Zweifel.
Wer kommt denn da?
Ho, ho -
Der "Nikolaus", hihi...
Ho, ho, ho
Zum Brüllen komisch!
Doch dann wandelten sich die Skepsi kraft der überzeugenden Darstellung in
Erstaunen und Verunsicherung. Der Nikolaus trat diesmal nämlich von der anderen
Seite auf und alle, die man an der Tafel erwarten durfte, waren dort tatsächlich
auch zu sehen.
Nikolaus und Mathias Feist nebeneinander. Mathias ist es dann wohl nicht!
Das "Goldene Buch"
Keiner fehlte. Außerdem wusste der Nikolaus eine Reihe von teils unangenehmen
Details aus dem Privatleben bestimmter Personen zu berichten, so z.B. dass
Trödeleien und Verzögerungstaktiken vor dem Schlafengehen zur Anwendung gebracht
wurden und dass Johannes seinem Vater Widerworte entgegen gebracht hat. Der
Beschuldige konnte zwar in einer spontanen Rede zu seiner Verteidigung
vorbringen, dass sein Vater "ein Angeber" sei. Doch insgesamt schindeten die
zuvor an den Nikolaus mit Hilfe moderner Kommunikationstechniken übermittelten
Detailinformationen doch mächtig Eindruck.
Ohhh...
Upss. Woher weiß er das?
Leo räumt ein, dass er nicht nur Nutella essen sollte.
Juliane findet den Vorwurf der Trödelei übertrieben.
Jens findet seine schulischen Leistungen übers Jahr betrachtet eigentlich ganz
in Ordnung.
Na gut. Möglicherweise ist mehr Sorgfalt beim Aufräumen angebracht.
Dieser Schlag saß! Die Erwachsen grinsten breit lächelten
sich fröhlich zu, als sie die Verwirrung der Kleinen zur Kenntnis nahmen.
Matthias Wüllenweber
Frederic Friedel
Rainer Knaak: "Hähä..."
Wolfgang Haar
Nadja Woisin
Marion und Matthias Wüllenweber freuen sich: Viel Taschengeld gespart
Alles wäre auch weiter wie geplant verlaufen, die nächste Anfrage
wegen Taschengelderhöhung Hohn lächelnd abgewiesen worden, wäre da
nicht ein winziges Ausstattungsdetail gewesen, das den Erfolg der Inszenierung
zunichte machte. Ein so winziges Detail, dass niemand es hätte entdecken können
- es sei denn, man ist acht Jahre alt, scannt gewohnheitsmäßig alle Ereignisse
und Dinge der Umgebung mit allerhöchster Präzision und ist außerdem noch ein
Mädchen.
Bekanntlich haben Jungen und Mädchen, bzw. später als Männer und Frauen, ganz
unterschiedliche Wahrnehmungsmechanismen. Als Junge oder Mann erinnert man sich,
dass man beim Fußball vier Tore geschossen hat, beim Kegeln der beste war und
vielleicht noch, wer 1983 das Tor für den HSV gegen Juventus Turin geschossen
hat. Frauen können hingegen auf Genauste beschreiben, welche Kleidung sie an
jedem Tag der letzten zehn Jahre getragen haben und welche Schuhe. Und weil sie
das können, brauchen sie eigentlich für zehn Jahre genügend Schuhe zum Wechseln,
begnügen sich aus Bescheidenheit mit einem Bruchteil dessen, wofür ihre Partner
oder Männer, diese ignoranten Hornochsen, die ja nicht einmal
sicher sagen könnten, welche Schuhe sie selbst im Moment tragen, trotzdem kein
Verständnis haben.
Wenn man also ein achtjähriges Mädchen wie Juliane unter seinen Gegnern hat,
dann ist klar, wer der Verlierer sein wird.
Einscannen...
...vergleichen...
Das Ergebnis ist ermittelt! (Man beachte die Augenbraue rechts.)
Unter den Erwachsenen an der Tafel saß nämlich auch Steffi Leupelt, Ulis
Gattin.
Steffi Leupelt
Als dann der Nikolaus aus seinem Goldenen Buch Lob und Tadel verlas, sammelte
Juliane routinemäßig alle verfügbaren Daten ihrer Umgebung. Beim Abgleichen des
Materials machte sie folgende Entdeckung:
1. Die ihr unbekannte Frau dort (Steffi Leupelt) trägt einen Ehering.
2. Der ihr unbekannte Mann im roten Mantel, von den Erwachsenen in der
alljährlichen lächerlichen Vorführung - nun gut, wenn es ihnen Spaß macht - als
Figur namens Nikolaus ausgegeben, trägt ebenfalls einen Ehering.
3. Die beiden Eheringe sind identisch
4. Daraus folgt: Der Mann im roten Bademantel ist der Ehemann der unbekannten
Frau.
Zoom
Das Ergebnis dieser Beobachtung wurde umgehend allen weiteren
Kindern mitgeteilt, ausgenommen Jan Oke (Kai: "Der Kleine hat gar nichts
geschnallt.").
Jan Oke ist noch nicht soweit und guckt in die falsche Richtung
Mitteilung des Beobachtungsergebnis und Lagebesprechung
Soweit dies.
Sehr viel Spaß und keine zersetzenden Zwischenbemerkungen hatte Almira
Skripchenko.
Die Großmeisterin und Spielerin des SV Werder Bremen war wegen
der Bundesligarunde in Hamburg und hatte den Besuch bei der Nikolausfeier in
ihrem Terminplan mit eingebaut. In der anschließenden TV ChessBase Sendung
erzählte sie bedauernd, dass es in der Sowjetunion, in der sie aufgewachsen war,
solche schönen Traditionen nicht gab. Begeistert nahm sie am Auftritt des
Nikolaus Anteil und fotografierte mit ihrer kleinen Digitalkamera die deutschen
Bräuche mit der gleichen Emsigkeit wie seinerzeit Leni Riefenstahl die Nuba.
Almira betrachte ihre Fotos
Mira Kowalski und Yvonne Gerstorff hatten die Tonnen schweren Einkäufe getätigt
und unter Mithilfe von Pascal Simon und Yared am Vortage die Tische im
Eingangsbereich der Firma so lange hin und her gestellt, bis sie Platz für alle
Mitarbeiter und Gäste boten.
Organisationskomitee: Mira Kowalski und Yvonne Gerstorff
Pascal Simon und Yared als sein Gehilfe hatten die hungrige Meute
Anwesenden mit etwa 80 leckeren Pfannekuchen versorgt, die sie in nur zwei
Pfannen einzeln mit großer Geschicklichkeit und Geschwindigkeit anfertigten,
wofür sie mit großer Dankbarkeit von der Belegschaft gefeiert wurden.
Zutaten
Yared und Pascal
Im letzten Jahr hatten zwei Gelegenheits-
Moderatoren noch mit einer plörrigen Rinderbrühe leckereren
Gulaschssuppe versucht, den Hunger der Belegschaft zu stillen. Das
Aufwärmen der wässrigen Suppe hatte Stunden gedauert. Trotz des
brillanten Ergebnis wollte man die beiden Hobby-Köche diesmal
entlasten und ihre Dienste lieber nicht schon wieder
noch einmal in Anspruch nehmen.
Das Mediengeschäft ist bekanntlich gnadenlos und in den wie Königshöfe
verwalteten Günstlingswirtschaften der TV-Sender müssen auch kleinste Anzeichen
der Veränderung bedeutungsschwer interpretiert werden. Wenn wir in näherer
Zukunft also bei TV ChessBase einen Generationswechsel beobachten sollten, würde
uns das nicht allzu sehr wundern.
André Schulz
Fotos: Nadja Woisin, André Schulz