Nimzoindisch = moderne Schachstrategie
Großmeister Ludek Pachman (1924 – 2003) würdigte die Bedeutung der Nimzoindischen Verteidigung für die Entwicklung der modernen Schachstrategie:
„Ohne zu übertreiben, kann man sagen, daß mit dieser Eröffnung die Entwicklung der gegenwärtigen, modernen Schachstrategie angefangen hat.“
Zur Idee der Verteidigung führt Pachman weiter aus:
„Schwarz kontrolliert den zentralen Raum mit Figuren (Sf6 und der den Sc3 fesselnde Lb4) und kann seine Bauern immer noch beliebig im zentralen Raum formieren. (...) Außerdem kann in vielen Varianten Schwarz durch den Abtausch Lc3:+ dem Weißen einen Doppelbauern c3,c4 schaffen und diesen Doppelbauern zum Ziel seines Angriffs machen.“ (a)
Ein Spiel mit verdeckten Karten
Ein weiterer Vorteil der Nimzoindischen Verteidigung besteht darin, dass Schwarz um das Zentrum kämpft, ohne Weiß von vornherein eine Angriffsmarke zu bieten, wie dies z. B. nach 1.d4 d5 2.c4 der Fall wäre. Im Damengambit greift Weiß bekanntlich den schwarzen Mittelbauern d5 von der Flanke her an und bekommt häufig durch den Abtausch seines c- gegen den gegnerischen d-Bauern eine Bauernmehrheit im Zentrum. Bei der Nimzoindischen Verteidigung steht es Schwarz frei, das weiße Zentrum selbst durch c7-c5 von der Flanke her anzugreifen. Indem sich Schwarz noch nicht festlegt, ob er mit d7-d5 oder d7-d6 und e6-e5 im Zentrum Fuß fassen will, spielt er sozusagen mit verdeckten Karten, was es Weiß schwerer macht, einen geeigneten Gegenplan zu entwerfen.
Nimzowitsch rüttelt an Tarraschs Lehre vom Bauernzentrum
Der lettische Großmeister Aaron Nimzowitsch (1886 – 1935) wandte die nach ihm benannte Eröffnung bereits in Sankt Petersburg 1914 in einer Partie gegen David Janowski an. Sie endete nach 85 Zügen mit einem Remis. Seit 1923 spielte er die Nimzoindische Verteidigung mehrfach in Turnieren und Wettkämpfen. In Karlsbad 1929 bezwang er mit ihr den WM-Herausforderer Ewfim Bogoljubow und wurde Turniersieger mit 15 von 21 möglichen Punkten vor Capablanca und Spielmann (je 14 ½). Nimzowitsch war es auch, der gegen das besonders von Großmeister Dr. Siegbert Tarrasch vorgetragene Eröffnungskonzept des Bauernzentrums rebellierte. In einem 1913 in der „Wiener Schachzeitung“ erschienen Beitrag mit dem Titel „Entspricht Dr. Tarraschs 'Die moderne Sachachpartie' wirklich moderner Auffassung?“ erläuterte er die Unterschiede zwischen Tarraschs Anschauung und seiner eigenen:
„Mit dem Verschwindenlassen eines Bauern aus dem Zentrum (...) ist das Zentrum noch lange nicht aufgegeben! (...) Der Begriff des Zentrums ist ein viel weiterer! (...) Freilich sind gerade die Bauern zur Zentrumsbildung am geeignetsten, weil am stabilsten, aber im Zentrum plazierte Figuren können sehr wohl die Bauern ersetzen. Und auch ein auf das feindliche Zentrum ausgeübter Druck, ausgehend von hinwirkenden Türmen resp. Läufern, kann von entsprechender Bedeutung sein! Das ist die wirklich moderne, besonders von mir vertretene Anschauung.“ (b)
Weltmeister entdecken die Nimzoindische Verteidigung
Der erste Schachweltmeister, der mit Schwarz Nimzoindisch spielte, war der Kubaner José Raul Capablanca. In der MEGA Database von ChessBase fand ich 20 Schwarz-Partien, in welchen er diese Eröffnung anwandte. Aber auch alle Weltmeister nach ihm von Aljechin und Euwe über Botwinnik, Smyslow, Tal, Petrosjan und Spaßky bis hin zu Fischer, Karpov, Kasparov, Kramnik, Anand und Carlsen haben Nimzoindisch mit Erfolg gespielt. Von der Fülle der herausragenden Partien habe ich zwei ausgewählt, die einen guten Eindruck davon vermitteln, was alles in der Nimzoindischen Verteidigung steckt.
Hawkins - Kramnik
Foto: Wikimedia (steenslag)
Vladimir Kramnik, dem Weltmeister von 2000 – 2007, gelingt es in einer beiderseits scharf und ideenreich gespielten Partie eine tragikomische Zugzwangstellung herbeizuführen, in der Weiß am Ende die Züge ausgehen. Sein Gegner ist Jonathan Hawkins, der zweifache Gewinner der britischen Meisterschaft 2014 (geteilt mit David Howell) und 2015.
Vladimirov – Kasparov
Foto: Kasparov.com
Garry Kasparov, der Weltmeister von 1985 – 2000, war bekannt für seine herausragende Eröffnungsvorbereitung. Wahrscheinlich hatte er das hübsche Qualitätsopfer, das er in seiner Partie gegen Vladimirov brachte, schon einige Zeit vorher entdeckt. Die Variante zeigt, wie gefährlich es sein kann, die eigene Dame ohne Unterstützung durch weitere Figuren ins gegnerische Lager zu führen. Der weiße Damenläufer spielt auch eine klägliche Rolle, weil er die ganze Partie über gänzlich wirkungslos bleibt, während sich die schwarzen Springer im Zentrum auf Feldern von entgegengesetzter Farbe ungestört entfalten.
Besondere Brisanz gewann die Begegnung durch die Tatsache, dass Vladimirov 1986 als Sekundant von Kasparov gefeuert worden war, weil er von diesem verdächtigt wurde, die Eröffnungsvorbereitung an seinen WM-Gegner Karpov verkauft zu haben. Kasparov hatte nach einer 4:1-Führung drei Partien hintereinander verloren. Ob Vladimirov die Eröffnungsanalysen wirklich an Karpov weitergegeben oder nur für private Zwecke kopiert hatte, konnte allerdings niemals wirklich geklärt werden. (c)
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Quellen und Anmerkungen:
(a) Ludek Pachman, Eröffnungspraxis im Schach, München 1976, S. 126
(b) Dieser Artikel wurde in Aaron Nimzowitschs Buch „Mein System“, 2. Auflage Hamburg 1965, S. 250 – 258 neu abgedruckt.
(c) Zur Vladimirov-Affäre gibt es zwei interessante Beiträge auf Englisch im Netz: www.chessforallages.blogspot.com/2009/11/vladimirov-affair.html und www.chesshistory.com/winter/extra/child.html