Noch'n Geburtstag: Sämisch 120

von Michael Dombrowsky
20.09.2016 – Friedrich Sämisch wurde heute vor 120 Jahren, am 20. September 1896, in Charlottenburg geboren. Seine beste Zeit hatte er zwischen den beiden Weltkriegen. Zeitweise gehörte er zur absoluten Weltspitze. Später war er besonders durch seine Zeitnotkrankheit bekannt. In Büsum 1969 verlor er alle Partien durch Zeitüberschreitung - auch ein Rekord. Außerdem war er der einzige Mensch, der offenbar nur von Zigaretten und Kaffee leben konnte. Michael Dombrowsky erinnert an einen großen deutschen Schachspieler. Mehr...

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„Fritze“ – ohne Glimmstengel ging gar nichts

Egal, ob in Wien, Berlin oder Baden-Baden – in den Zwanziger Jahren wussten die Zuschauer bei den großen Turnieren in Europa wohin sie sich spätestens nach dreieinhalb Stunden Spielzeit bewegen mussten. Ein Brett war zu diesem Zeitpunkt immer umlagert. Dort spielte ein schlanker, ja hager wirkender junger Mann. Die dunklen Haare, die anfangs korrekt nach hinten gekämmt und mit Pomade in dieser Position gehalten worden waren, fielen nun in Strähnen in die Stirn. Im Mundwinkel hing eine Zigarette mit einem langen Bogen aus Asche. Er saß ruhig und konzentriert am Tisch und grübelte während sich der Zeiger in Richtung der Zwölf bewegte, womit eine Niederlage durch Zeitüberschreitung drohte. Nur weiße Wölkchen verrieten, dass der Mensch noch atmete und die Zigarette noch brannte. Dann plötzlich ein Zug, noch einer und noch einer. Die Figuren sausten über das Brett und für die Kiebitze stellte sich die spannende Frage: Fällt erst das lange Aschestück von der Zigarette oder das Blättchen an der Uhr.

Dieser Schachmeister würde heute seinen 120. Geburtstag feiern. Am 20. September 1896 wurde Friedrich Sämisch in Berlin-Charlottenburg geboren. Sämisch wuchs in eher ärmlichen Verhältnissen auf und begann nach der Volksschule 1910 eine Lehre als Buchbinder. Dort bekam er auch Schachbücher in die Hände und begann, sich Schach selbst beizubringen. Er kaufte sich dann die ersten Bücher: den „Dufresne“, die Reclam-Hefte mit den „Meisterpartien“ und das Lehrbuch von Dr. Tarrasch. Mit diesem Wissen wagte sich der junge Bengel in die Schachklubs und Schachcafès. Bald war er bekannt in der Szene – vor allem wegen seiner Fähigkeiten als Blitzspieler.

Kaum hatte Sämisch die Lehre beendet, wurde er ins kaiserliche Heer eingezogen und in den Ersten Weltkrieg geschickt. Er wurde zweimal schwer verwundet und verbrachte fast zwei Jahre in Lazaretten. Durch eine Schussverletzung blieben drei Finger seiner rechten Hand steif, sodass an Buchbinderei oder ähnliche handwerkliche Berufe nicht mehr zu denken war.

Als sich Friedrich Sämisch nach dem Krieg entschloss Schachprofi zu werden, ereilte ihn bald ein Schicksal, das er mit dem Preußenkönig Friedrich dem Großen teilte: jedermann nannte ihn „Fritz“ oder „Fritze“. Den Zusatz „der alte“ ließ man bei dem 20jährigen selbstverständlich weg.

1920 landete Sämisch seinen ersten Sieg in einem bedeutenden Turnier. In einem „Heimspiel“ gewann er das Hauptturnier beim 20. Kongress des Deutschen Schachbundes in Berlin mit acht Punkten in zehn Runden (+6 = 4 -0). Ein Jahr später in Hamburg belegte er beim 21. Kongress Platz zwei hinter Ehrhardt Post (ebenfalls Berlin).

Damit war „Fritze“ aus Berlin auf der internationalen Bühne angekommen. Ob in Wien, Karlsbad, Bad Piestany, Marienbad, Kopenhagen oder Berlin – Sämisch mischte mit. Er erzielte schöne Einzelsiege, doch die Konstanz für den Turniersieg gegen die Weltklasse fehlte ihm noch. Sein schier endloses Nachdenken am Beginn jeder Partie brachte ihn zu häufig in Zeitnot und des Öfteren um den verdienten Sieg.

Sämisch grübelte nicht nur im Turniersaal, sondern tüftelte immer an seinen Systemen. Zwei Varianten tragen noch heute seinen Namen und werden noch heute in großen Turnieren angewendet: die Sämisch-Variante in der Nimzoindischen Verteidigung (1. d4 Sf6 2. c4 e6 3. Sc3 Lb4 4. a3 Sxc3+ 5. bxc) und das Sämisch-System in der Königsindischen Verteidigung (1. d4 Sf6 2. c4 g6 3. Sc3 Lg7 4. e4 d6 5. f3). Wenn Sämisch sich nicht mit Schach beschäftigte, spielte er Bridge oder las. Sämisch las unglaublich viel. Der Internationale Meister Dr. Heinz Lehmann (Berlin) vermutete, dass er alles, was ihm in der Jugend verwehrt geblieben war, als Erwachsener nachholen wollte.

1925 kam endlich der erhoffte Durchbruch. Gleich nach Ostern startete das Großmeisterturnier in Baden-Baden. Der Organisator Dr. Siegbert Tarrasch hatte dem Berliner einen Platz im Feld der 21 Meister zugesprochen. Tarrasch hielt viel von Sämischs schachlichen Fähigkeiten und hatte ihm schon nach seinen ersten Erfolgen 1920 eine große Zukunft vorhergesagt. In Baden-Baden lief es im Kreis der Weltbesten für Sämisch hervorragend. Mit 13,5 Punkten belegte er nach 20 Runden hinter Alexander Aljechin (16) und Akiba Rubinstein (14,5) Rang drei. Sein persönlicher Score sah so aus: +10 =7 -3. Und wen hatte er alles hinter sich gelassen! Efim Bogoljubov (Deutschland), Dr. Savielly Tartakower (Polen), Frank Marshall (USA), Ernst Grünfeld (Österreich), Aaron Nimzowitsch (Dänemark), Carlos Torre (Mexiko) Richard Reti (Tschechoslowakei), Rudolf Spielmann (Österreich), Frederick Yates (England), Tarrasch, Edgar Colle (Belgien) und Jaques Mieses (Leipzig) – um nur die bekanntesten zu nennen.

 

Reti-Sämisch, 1925

 

 

 

Von jetzt an spielte er nur noch auf höchstem Niveau. Als man „Fritze“ viele Jahre später nach seinen berühmtesten Gegnern fragte, nannte er nicht nur die vier Weltmeister Dr. Emanuel Lasker (Berlin), Josè Capablanca (Kuba), Aljechin (Frankreich) und Max Euwe (Niederlande), sondern auch noch Marshall, David Janowski (Frankreich), Tarrasch, Bogoljubow, Samuel Reschewski (USA), Paul Keres (Estland), Salo Flohr (Tschechoslowakei), Miguel Najdorf (Polen), Wolfgang Unzicker (München), Bent Larsen (Dänemark) und Robert Hübner (Köln). Wie lange Sämisch im Spitzenschach dabei war dokumentieren ein paar Geburtsdaten seiner Gegner. Weltmeister Lasker und sein Zweikampfgegner Janowski wurden 1868 geboren, Hübner 1948.

Es dauerte drei Jahre bis „Fritze“ ein weiteres unglaubliches Feuerwerk abbrannte. 1928 siegte er in Brünn mit Reti, landete in Gießen hinter Reti mit Tartakower auf Platz zwei, wurde in Trentschin-Teplitz Dritter, gewann in Dortmund und belegte in Berlin Rang zwei hinter Bogoljubow. In den 46 Partien bei diesen fünf Turnieren erzielte er 21 Siege und 24 Remis bei nur einer Niederlage. Die historischen Elo-Zahlen von Chessmetrics verdeutlichen die Bedeutung dieser Leistungen. Mit einer Zahl von 2665 war Sämisch auf Rang zehn der Weltrangliste. Nach diesen nachträglichen Berechnungen belegte Sämisch von September 1928 bis Juli 1931 Monat für Monat in der Weltrangliste einen Platz zwischen Zehn und Zwanzig. In diese Zeit – Juli 1930 – fällt auch der Gewinn der Bronzemedaille bei der Schach-Olympiade in Hamburg mit der deutschen Nationalmannschaft.

Saemisch-Gruenfeld, 1929

 

 

 

Nach der Machtübernahme durch die Nazis wurden die Spielmöglichkeiten geringer und mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges wird der Kriegsversehrte Sämisch zur Truppenbetreuung herangezogen. Im Klartext heißt das: Er gibt Simultan- und Blindsimultanvorstellungen hinter der Front.

Sämisch war nicht nur Schachspieler, sondern auch ein politischer Mensch. Und er war ein Mann der klaren Worte, was in jener Zeit zu Schwierigkeiten führen konnte. So eckte er bei den Nazis an. Einmal gab es eine Untersuchung wegen „Verrats“ weil er über Peenemünde, dem Entwicklungsort der Raketen unter Werner von Braun, geredet hatte. Ein Prozess erwartete ihn 1943 wegen „Wehrkraftzersetzung“. Bei einer Bahnfahrt hatte er seine Meinung über den Krieg geäußert: „Der Krieg ist doch verloren.“ Ein Mitreisender denunzierte ihn und es drohte ihm eine Verurteilung durch den Volksgerichtshof. Doch Sämisch hatte Glück. Bei einem Bombenangriff auf Berlin durch unter vielen anderen Dingen auch seine Akte zerstört.

Nach dem Krieg konnte der 50jährige nicht mehr an alte Erfolge anknüpfen. Doch ihm wurde noch eine große Ehre zuteil. Die FIDE ernannte 1950 offiziell 27 Meister zu „Internationalen Großmeistern“. Als einzigem Vertreter des Deutschen Schachbundes wurde Friedrich Sämisch ausgezeichnet. Der zweite Deutsche unter den 27, Jaques Mieses, hatte inzwischen die englische Staatsbürgerschaft angenommen.

Zunächst lebte Sämisch in Schleswig-Holstein, wo er viele Jahre für die Kieler Schach-Gesellschaft spielte; auch später noch, als er längst in Hamburg wohnte. Der Verleger Edurad Wildhagen („Weltgeschichte des Schachs“ – die „roten Bücher“) hatte ihn als Redakteur beschäftigt. Allerdings nicht lange; er las zu viel in den alten Büchern, aber schrieb darüber zu wenig.

Seine letzten internationalen Auftritte hatte Sämisch 1968 und 1969 in Büsum. Er beendete beide Turniere als Letzter einmal mit anderthalb Punkten, und 1969 überschritt er in allen Partien die Zeit. Dafür bewies er 1968 ein letztes Mal seine enormen Fähigkeiten im Blitzschach. Beim abschließenden Blitzturnier mit 71 Teilnehmern kam er hinter Hübner, Großmeister Bruno Parma (Slowenien) und Hans-Joachim Hecht (Berlin) als Vierter ins Ziel.

1970 kehrte Sämisch in seine Heimatstadt zurück und lebte im Wohnheim Wannsee in Zehlendorf. Er starb dort an den Folgen eines Schlaganfalls kurz vor seinem 79. Geburtstag.

Die deutschen Spitzenspieler, ob nun Wolfgang Unzicker, Dr. Paul Tröger, Rudolf Teschner, Hecht oder Hübner – um nur einige zu nennen, sprachen stets mit Hochachtung über den Berliner. Alle nannten drei Dinge, die sie besonders beeindruckt hatten: Er konnte phantastisch aus seinem Leben erzählen, er war ein glänzender Analytiker und er war der einzige Mensch, der nur von Kaffee und Zigaretten leben konnte. Großmeister Friedrich Sämisch hätte dies gefreut.
 

 

 

 


Michael Dombrowsky war fast 40 Jahre als Redakteur bei verschiedenen Zeitungen und Zeitschriften tätig. Als Rentner begann er Bücher zu schreiben. Das erste Schachbuch auf dem Markt sind die „Berliner Schachlegenden“.

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