Sir Thomas auf dem Holodeck
Von Conrad Schormann
Schachspielern würde auf dem Raumschiff Enterprise nicht
langweilig. Das gilt für die altertümliche Variante des Weltraumkreuzers aus dem
Jahr 2200 mit Captain James T. Kirk auf dem ledernen Chefsessel wie für die
moderne Version 150 Jahre später, die Captain Jean-Luc Picard von seinem
avantgardistischen Plastikthron aus kommandiert.
Mister Spock, halb Vulkanier, halb Mensch, hat den
Erdlingen in der Frühzeit der Weltraumfahrt das 3D-Schach geschenkt, Schach auf
mehreren Ebenen. Ein 3D-Schachbrett gleicht einem Parkhaus ohne Wände, das Spiel
beherrschen Menschen etwa so gut wie Frauen das Einparken rückwärts. Die
begrenzte Kapazität menschlicher Hirne ist dem geistigen Multitasking von Spock
nicht gewachsen.
Das Spitzohr spielt daher bevorzugt gegen den Bordcomputer,
klemmt ihm regelmäßig Remisen ab und soll ihn sogar besiegt haben, als keiner
zugeschaut hat. Unbekannt ist, ob die Schachsoftware auf der Ur-Enterprise aus
Hamburg stammt, es ist nicht einmal klar, ob es Hamburg in 200 Jahren noch gibt,
geschweige denn die Hamburger Schachfirma, die bis dahin wahrscheinlich von
einer vulkanischen 3D-Schach-Firma gekauft worden ist. Bis wir erfahren, was
passieren wird, müssen wir unsere Fantasie spielen lassen: Vergesst Fischer
gegen Spassky. Spock gegen Fritz 92 auf Enterprise, welch ein Duell.
Faszinierend.
Glaubt man der Fernsehserie, hat 150 Jahre später auf der
Picard-Enterprise das 3D-Schach dem klassischen Schach endgültig den Rang
abgelaufen (und Androiden ersetzen Vulkanier, das ist nur gerecht). In der
Bordbar steht ein 3D-Schach, eifrig bedient vom Androiden Mister Data, der mit
dem lange verrenteten Mister Spock den Verstand und den Vornamen „Mister“ teilt.
Dennoch würden wir Schachspieler auf der Enterprise des Jahres
2350 im Paradies leben. Wann immer wir nicht damit beschäftigt wären, unter
Grobian-Aliens Frieden zu stiften oder das Raum-Zeit-Kontinuum zu flicken,
könnten wir im Holodeck die gute alte Schachzeit aufleben lassen.
Das Holodeck ist die nützlichste aller Erfindungen, die die Enterprise durchs
All schippert. Jede erdenkliche Umgebung können wir dort schaffen und längst
gestorbene Leute auferstehen lassen, wenn der Computer genug über sie weiß. Wir
hätten natürlich die Vulkanobase-CD „450 Jahre Schach“ geladen, damit der
Bordcomputer sich auskennt. „New York 1924“ sagen wir dann, ein paar Mausklicks,
schon stehen wir im Manhattan-Chessclub des Jahres 1924. An der Theke sehen wir
Aljechin Notizen machen für sein Turnierbuch, Capablanca plaudert mit
Bewunderinnen, die Sicht auf den alten Lasker ist verdeckt wegen des
Zigarrennebels.
Die
unendlichen Weiten des Holodecks sind damit nicht am Ende. Ereignisse wie New
York 1924 sind reproduzier- und manipulierbar. Noch ein paar Mausklicks, und
schon wäre das Teilnehmerfeld um den größten Patzer in 450 Jahren
Schachgeschichte erweitert. „Lieutenant Schormann, kommste mit in die Bordbar?“
„Nee, ich muss ausschlafen, morgen nach Feierabend hab' ich Schwarz gegen
Tartakower.“ 22 Feierabende später wäre dieser Traum zum Albtraum geworden –
0/22, letzter Platz, sieben Punkte hinter dem Vorletzten Janowski, 18 hinter dem
Turniersieger Lasker.
Revanche! Das Holodeck bietet auch die Möglichkeit, die alten Meister zu necken.
Natürlich könnten wir die elf Erstplatzierten mit einer Phaserkanone
niederstrecken, es bietet sich aber eine feinsinnigere Methode an, den Herren
eins auszuwischen. Wir lassen jemanden auferstehen, dem alle Schachspieler viel
zu verdanken haben – und dem die Schachgeschichte übel mitgespielt hat: Sir
George Alan Thomas aus London. Dieses Mal soll Sir George Alan Thomas New York
1924 aufmischen.
Jedem
Schachspieler begegnen irgendwann Partien des britischen Dauerverlierers. Wir,
die wir vergeblich versucht haben, unser kümmerliches Spiel zu verbessern, haben
unablässig die feinen Siege der Herren Lasker, Capablanca oder Aljechin
studiert. In unseren Lehrbüchern taucht Sir Thomas mindestens so oft auf wie
diese Großen seiner Zeit, und immer verliert er instruktiv. Mal erliegt er einem
Läuferopfer auf h7, mal erledigt ihn sein Gegner mit den verdoppelten
Schwerfiguren auf der siebten Reihe. Weil Sir George Alan Thomas damals so
lehrreich verloren hat, wissen wir Patzer heute, welche Gefahren lauern, wenn
wir versuchen, im Dschungel der 64 Felder zu überleben.
Hätte es 1924 eine Weltrangliste gegeben, Sir George Thomas (1881-1972) wäre
vielleicht knapp in den Top 100 gewesen (laut „chessmetrics“ war er besser).
Gegen Capablanca (2,5/11), Aljechin (3/13)&Co. hatte Sir Thomas kaum eine
Chance, im Vera-Menchik-Club war er nicht einfaches Mitglied sondern
siebenfaches, aber gegen die zweite Meistergarde seiner Zeit mischte er munter
mit.
Menchik gegen Thomas...
Und er hatte das Glück, im schachbegeisterten England zu
leben, das in den ersten 70 Jahren des 20. Jahrhunderts nur einen
Weltklassespieler gebar, als 1929 der sagenhafte Sultan Khan auftauchte und 1933
wieder verschwand.
Gegen den indischen Naturschachspieler hat Sir Thomas in acht
Partien 1,5 Punkte geholt. Als einer der besten Briten spielte Thomas dennoch
regelmäßig in Hastings und bekam viele Einladungen aufs Festland. Etwa 80
internationale Turniere hat der mehrfache britische und Londoner Meister im
Laufe seiner Schachkarriere gespielt und mit allen Großen seiner Zeit die
Klingen gekreuzt. Die FIDE verlieh ihm 1950 den IM-Titel, der Schachwelt
hinterließ er unzählige instruktive Verlustpartien.
Auch
am berühmtesten Magnetmatt der Schachgeschichte war Sir George Alan Thomas
beteiligt – als Verlierer, versteht sich. Auf der anderen Seite des Brettes saß
der deutsche Meisterspieler Eduard Lasker (der 1924 in New York Vorletzter wurde
und allenfalls entfernt verwandt war mit dem Turniersieger und Exweltmeister
Emanuel Lasker). Eduard Lasker berichtet in seinem Buch „Chess Secrets“ von
dieser freien Partie. Der Deutsche war gerade in London angekommen und als
erstes zum Schachclub gepilgert. Ein freundlicher Herr forderte den Deutschen zu
einer Partie auf. Lasker sprach kein Englisch, er wusste nicht, dass er es mit
dem Meister von London zu tun hat. Im 11. Zug opferte er die Dame auf h7 um den
König ins Freie zu zerren. Im 17. Zug war der Schwarze Monarch auf g1(!)
angekommen, und Lasker zog 18.Kd2#. „That was very pretty“, soll Thomas gesagt
haben, als er seinem Gegner gratulierte – und der dürfte weder ein Wort
verstanden noch geahnt haben, dass diese Partie um die Welt gehen wird.
Lasker gegen Thomas...
Sir George Alan Thomas war nicht nur ein hervorragender Verlierer im Schach.
Sieben Mal gewann er die britische Meisterschaft im Badminton (auch im Doppel
und Mixed hat er britische Titel eingeheimst), und er amtierte 1935 bis 1956 als
erster Präsident des internationalen Badminton-Verbandes IBF. Auch im Tennis
gehörte die adelige Sportskanone zu den besten auf der Insel. In Wimbledon kam
er bis ins Viertelfinale. Ein hervorragender Hockeyspieler war er obendrein.
Eine Internet-Recherche hat nicht erhellt, ob der Mann einer geregelten
Tätigkeit nachgegangen ist, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Nach
menschlichem Ermessen kann er für solche Nebensächlichkeiten keine Zeit gehabt
haben.
Auf dem Holodeck würden wir die holografische Reinkarnation Sir George Alan
Thomas' die Allwermann-Variante spielen lassen. Er wäre anders als seine Gegner
mit dem Bordcomputer gekoppelt, würde messerscharfe Eröffnungen spielen, Chaos
auf dem Brett schaffen und seine limitierten Widersacher niederrechnen – alle,
bis auf Emanuel Lasker. Der hat 1924 als 56-Jähriger mit seinem Turniersieg in
New York eine Geschichte geschrieben, wie es sie nur im Schachsport gibt. Die
Ehrfurcht gebietet uns, Lasker nicht den Turniersieg zu rauben. In unserer
Holodeck-Version des Turniers würde Sir George Alan Thomas Zweiter, vor
Capablanca, vor Aljechin. Diese beiden zu überflügeln, war ihm im wahren Leben
nicht vergönnt.
Capablanca gegen
Thomas, 1919...
Capablanca gegen
Thomas 2, 1934 ...