Paul Keres
Von André Schulz
Heute vor 28 Jahren, am 5.Juni 1975, starb Paul Keres in Helsinki im Alter von 59 Jahren an den Folgen einer Herzattacke. Er hatte ein Turnier in Vancouver gespielt und gewonnen und befand sich auf dem Rückweg von Kanada in seine Heimat, nach Estland. Paul Keres gehörte seit 1938 über nahezu vier Jahrzehnte zu den besten Spielern der Welt. Doch den Kampf um den Weltmeisterschaft verpasste er mehrmals knapp. Keres war der "ewige Zweite." Dies war so augenfällig, dass behauptet wurde, dass Keres als Este gegenüber dem "richtigen" Sowjetbürger Botvinnik bei der Weltmeisterschaft zurückstehen musste. Auf die Frage, warum er nicht Weltmeister geworden ist, soll er gesagt haben:" Ich war ein unglücklicher Mann aus einem unglücklichen Land."
Keres und Botvinnik 1941
Estland, dessen Städte im Mittelalter zur Hanse gehörten, gehörte 1561 zu Schweden und wurde 1721 unter Peter d.Gr. russisch. 1918 erklärte sich Estland für unabhängig. Das kleine Land erlebte eine bescheidene kulturelle und wirtschaftliche Blüte bis 1934. Dann übernahmen die Autoritär-Konservativen unter Präsident Konstantin Päts und General Johan Laidoner nach einem Umsturz die Macht. Aufgrund des geheimen Zusatzprotokolls des Molotow-Ribbentrop-Pakt, der am 22. August 1939 in Moskau unterzeichnet wurde, geriet Estland zusammen mit dem gesamten Baltikum in russische Abhängigkeit. Etwa 100.000 Balten-Deutsche wurden zuvor von Deutschland in das Wartegau umgesiedelt, darunter 16.000 aus Estland. Im Juni 1940 okkupierte die UdSSR das Baltikum. Einen Monat später "baten" die eingesetzten Marionettenregierungen um Aufnahme in die UdSSR. Im Zuge der Gleichschaltung wurden allein aus Estland zwischen dem 13.6 und 19.6.1941 11.000 Menschen verschleppt. Nach dem Angriff Deutschlands auf Russland wurde Estland von Deutschland besetzt. Die Deutschen planten nach dem "Endsieg" die "Säuberung" des Baltikums und Ansiedlung von Frontkämpfern und deren Familien. Bereits 1941 begannen sie im Baltikum mit der Vernichtung der Juden (Estland 4000, in Lettland 95.500, in Litauen 164.000 Menschen). Viele Esten flohen vor den Deutschen, die meisten nach Schweden. Insgesamt verlor das Land im Zweiten Weltkrieg ein Drittel seiner ohnehin nicht zahlreichen Bevölkerung von etwas mehr als 1 Mio. Einwohnern. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde wieder der Status quo von 1940 erreicht und die Baltischen Staaten als Republiken der UdSSR "russifiziert". Sprachlich ist estnisch mit dem finnischen verwandt, nicht mit den baltischen Sprachen der Nachbarländer Lettisch und Litauisch, und gehört wie Finnisch und Ungarisch zur Finnu-Ugrischen Sprachgruppe, die ihren Ursprung in Nordrussland hat und nicht mit den indoeuropäischen Sprachen verwandt ist.
Geschichte der Besetzung Estlands...
Regierungsmitglieder der Regierung Päts mit Gattinen, vor 1940.
23.Juni 1938, Inspektion durch General Johan Laidoner
Paul Keres wurde am 7.1.1916 in Narwa geboren. Narwa liegt ganz im Osten Estlands, unmittelbar an der Grenze zu Russland. St.Petersburg ist nur 120 km entfernt. Seine Eltern sind Peeter und Marie Keres. Später zog die Familie nach Pärnu, eine Kleinstadt im Südwesten Estlands, am Rigaischen Meerbusen gelegen. Im Alter von 4-5 Jahren lernte er zusammen mit seinem älteren Bruder Harald das Schachspiel, indem er seinem Vater beim Spiel gegen dessen Freunde zusah. Vater und Bruder waren anfangs die einzigen Spielpartner, später konnte er sich mit Schulkameraden messen. Irgandwann entdeckten Paul und sein Bruder, dass man Partien aufschreiben konnte und sie begannen Zeitungsauschnitte mit Partien und Studien zu sammeln. Da es keine Schachliteratur gab, schrieben sie jede Partie ab, derer sie habhaft werden konnten. Bald hatte Keres eine "Datenbank" auf Papier von fast 1000 Partien.
Peeter Keres, Vater von Paul Keres, Musiker und Schachspieler
Harald und Paul Keres, 1921
1928 besuchte der litauische Meister Vladas Mikenas (geb.1910) Pärnu und gab eine Simultanvorstellung. Später erinnerte er sich "Im Jahr 1928 besuchte ich Pärnu und gab für die dortigen Schachfreunde eine Simultanvorstellung. Indem ich mein Spiel Runde um Runde fortsetzte, blieb mein Blick immer häufiger auf einem dunkelhaarigen Jungen haften, der für sein Alter sehr erfindungsreich spielte. Am Brett meines jungen Gegners musste ich mich wiederholt zum längeren Nachdenken aufhalten, aber es war nichts zu machen. Mit jedem Zug wurde meine Lage schlimmer, und bald gratulierte ich unter stürmischem Applaus der Anwesenden meinem jungen Partner zum hervorragenden Spiel."
Bereits mit 11-12 Jahren war Paul den Schachfreunden in Pärnu ein gleichwertiger Gegner. Und schon im selben Alter begann er mit dem Fernschach und spielte gegen Gegner in der ganzen Welt. Im Alter von 13 Jahren gewann er die Blitzmeisterschaft von Pärnu. 1933 spielte er bei der estnischen Meisterschaft in Tallinn mit und fast scheint es, als hätte sich hier schon sein sportliches Schicksal als "ewiger Zweiter" offenbart. In Führung liegend vergab er den Turniersieg leichtfertig, indem er in der letzten Runde mit einer riskanten Eröffnungswahl (1.d4 e5) nicht erfolgreich war. Im folgenden Jahr wiederholte sich die Geschichte. Diesmal spielte er in der letzten Runde zu ängstlich und verpasste den Turniergewinn wieder um einen halben Punkt. Doch bei der Meisterschaft 1934/35 ist es dann soweit, Keres wird estnischer Meister. Schach war übrigens nicht der einzige Sport, bei er bei einer estnischen Meisterschaft mitspielte. Als physisch gut trainierter Sportsmann erreichte Paul Keres im Tennis sogar das Finale, unterlag dort aber.
Keres beim Tennisspiel
Paul Keres (rechts) mit Tennispartner
Es folgt ein kometenhafter Aufstieg. Im Sommer 1935 ist der 19-jährige Paul Keres Mannschaftsführer einer estnischen Mannschaft bei der Schacholympiade in Warschau. Keres spielte an Brett eins gegen die besten Spieler der Welt, darunter Aljechin, und holte 12,5 Punkte aus 19 Partien. Gegen Aljechin verlor er. Im gleichen Jahr spielte er einen - wie Keres selbst betonte - für seine schachliche Entwicklung wichtigen Wettkampf gegen Paul Schmidt um die estnische Meisterschaft.
Keres spielt mit Paul Felix Schmidt, hier: München 1936
1936 wurde er in Bad Nauheim zusammen mit Aljechin geteilter Erster, spielte aber ein Turnier in Dresden kurz danach kläglich.
Keres in seiner Partie gegen Mikenas, München 1936
Er gewann das stark besetzte Turnier in Semmering 1937 und spätestens nach dem Gewinn des AVRO-Turniers gilt Keres als Anwärter auf den Weltmeistertitel. Doch die Versuche, durch den Turniersieg einen Wettkampf gegen Aljechin zustande zu bringen, misslangen. Nach dem Turnier schickte die AVRO, eine holländische Radiostation, Aljechin eine Herausforderung, doch die vom Weltmeister gestellten Bedingungen waren für die AVRO nicht akzeptabel.
Keres-Fine, Partieformular
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Tartakower macht ein Interview mit Keres, AVRO 1938
Keres vor Riesenmikro für den Rundfunk
Keres gewann in Margate vor Capablanca und Flohr. In dem 1939 organisierten Wettkampf zwischen Euwe und Keres ging es wieder um die Frage, wer als Herausforderer von Aljechin zu gelten hat. Keres gewann, aber da inzwischen der Zweite Weltkrieg ausgebrochen war, musste er die Hoffnungen auf einen Titelkampf begraben.
Keres beim Bridge. Ihm gegenüber sitzt Eliskases.
1940, Estland ist jetzt Teil der UdSSR, spielt Keres die Sowjet-Meisterschaften mit und wird Vierter. 1942, nun ist Estland von den Deutschen besetzt, spielt er in Salzburg und wird hinter Aljechin Zweiter. Es folgen einige Turniere im faschistischen Teil Europas. 1946, nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ist Estland wieder in die UdSSR integriert, spielt Keres zusammen mit Mikenas außer Konkurrenz die Meisterschaften von Georgien mit. 1947 wird er Meister der UdSSR. In diesem Jahr wurde in der Schachwelt "mit viel Polemik" (Keres) diskutiert, wie die Nachfolge des verstorbenen Weltmeisters Aljechin zu regeln sei. Resultat dieser Diskussionen war das fünfrundige Weltmeisterturnier in Groningen mit Botvinnik, Smyslow, Reshevsky, Keres und Euwe.
Obwohl neben Botvinnik Hauptfavorit beendet Keres das Turnier als Vorletzter, wobei er gerade gegen Botvinnik besonders schlecht abschneidet und von den fünf Partien vier verliert und nur eine gewinnt. Aus diesem Ergebnis nährt sich das Gerücht, das Keres habe zurückstehen und Botvinnik zum Titelgewinn habe verhelfen müssen. Er selbst erklärt den unglücklichen Verlauf mit einem schlechten Start und falscher Turniertaktik: statt den zweiten Platz zu sichern, wollte er weiter auf den Titel spielen und überzog die Partien. 1962 wurde er in der Sowjetunion zum Sportler des Jahres gewählt, so dass es unwahrscheinlich erscheint, dass er als Sowjetbürger zweiter Klasse angesehen wurde. Keres wurde auch bei den den Kandidatenturnieren 1953, 1956, 1959 und 1962 stets "nur" Zweiter.
Fischer gegen Keres, Curacao 1962
Suetin erklärt sich Keres vergeblichen Ansturm auf den Weltemeistertitel einmal dadurch, dass er es nicht mit noch jugendlichem Elan geschafft hatte, so wie Tal oder Kasparow, und dass er immer auf sich alleine gestellt war und keine Berater hatte. Oft wählte er deshalb bei Turnieren die falsche Taktik.
Talinn, heute
1969 initiierte Keres in der estnischen Hauptstadt Tallinn eine Serie von Internationalen Turnieren, die im Zweijahresryhtmus abgehalten wurde. 1971 gewann Keres zusammen mit Tal, 1975 belegte der Keres den ungeteilten ersten Platz vor Spassky und Olafsson.
Estland verehrte Paul Keres als Nationalheld. Nach seinem plötzlichen, frühen Tod bekam er in Tallinn ein Staatsbegräbnis. Er ist der einzige Schachspieler auf der Welt, dessen Konterfei eine Banknote ziert. Das von ihm ins Leben gerufene Turnier wurde nun zum Keres Memorial. Beim ersten Keres-Gedenkturnier 1977 gewann Tal. Aber auch in Vancouver, wo er sein letztes Turnier spielte, wird ihm zu Ehren ein Memorial (www.keresmemorial.com) veranstaltet. Keres ist damit der einzige Schachspieler mit zwei Gedenkturnieren in zwei Ländern.
Paul Keres. Mindestens 5 Krooni wert.
Keres-Haus in Talinn
Keres-Gedenktafel
Keres, von stattlicher und sportlicher Erscheinung, wird als untadeliger "Gentleman" beschrieben. Seine höfliche Zurückhaltung abseits des Schachbrettes stand ganz im Gegensatz zu seinem Auftreten mit den Figuren. Er liebte das lebendige Angriffsschach, war ein brillanter Taktiker und großer Spezialist der Offenen Spiele. Sein Hang zu scharfen, heute teils als unseriös angesehnen Eröffnungen und Gambitvarianten hat ihn sicher manchen Punkt gekostet. In Folge seiner frühen Praxis als Fernschachspieler war er ein hervorragender Analytiker. Einen ausgezeichneten Ruf hat sich Keres auch als Theoretiker erworben. Neben Abhandlungen über das Endspiel, waren besonders seine Publikationen zu den Offenen Spielen bahnbrechend. Seine Analysen und sein Urteil ist auch heute noch oftmals gültig und der Schlusssatz unter einer Variante, "Weiß steht besser (Keres)" klingt in den Ohren eines Schachspielers wie der Spruch des Bundesverfassungsgerichts.
Keres mit Salo Flohr bei einem Interview
Literatur:
Paul Keres: Ausgewählte Partien 1931-1958, Ijmuiden1964/1976
Aleksei Suetin: Das Schachgenie Paul Keres, Berlin 1987
Valter Heuer: Meie Keres, Tallinn 1977