Philosophie, Literatur, Schach: James Vigus

von ChessBase
11.06.2010 – Der englische FM James Vigus hat sich in der Schachszene vor allem als Autor von mehreren Büchern einen Namen gemacht, darunter ein sehr ausführliches Werk über die Pirc-Verteidigung. Die "professionelle" Karriere des einstigen mehrfachen englischen Juniorenmeisters endete im Prinzip mit Beginn seines Studiums. Im Zug seiner literaturwissenschaftlichen Promotion an der Universität in Cambridge besuchte James Vigus 2004 Berlin, um dort die philosophischen Quellen des romantischen Schriftstellers Samuel Taylor Coleridge zu erforschen. Später ging Vigus nach Jena und trat dem Schachklub Schott Jena bei. Deutschland wurde seine zweite Heimat und nun arbeitet Vigus als "Postdoctoral Research Fellow" beim Lehrstuhl für Englische Philologie (Lehrstuhl Prof. Christoph Bode) an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Seine schachliche Heimat ist aber weiterhin Schott Jena, wo er zusammen mit seiner Mannschaft gerade in die Oberliga aufgestiegen ist. Frank Große hat den englischen Meister portraitiert. Ein Portrait...

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Was macht eigentlich James Vigus?
Von Frank Große
 
Zumeist klagen die hiesigen Vereine über den Abgang junger, talentierter Spieler, die wegen eines Studiums oder des Broterwerbs den Wohnort wechseln oder sich gar im Ausland aufhalten. Es geht auch in umgekehrter Richtung: James Vigus, der englischsprachige Autor mehrerer Eröffnungsbücher, hat seinen Wohnsitz derzeit in Deutschland und hilft dabei, die Oberliga durcheinander zu wirbeln. Wie kam es dazu?



Foto: Archiv James Vigus

„Als ich 2004 an meiner literaturwissenschaftlichen Promotion an der Universität in Cambridge arbeitete, hatte ich einen Aufenthalt in Berlin, um die deutsche Sprache zu lernen und die philosophischen Quellen des romantischen Schriftstellers Samuel Taylor Coleridge zu erforschen. Dadurch habe ich mich zunehmend für den deutschen Idealismus und die vergleichende Literaturwissenschaft interessiert.“ Nach der erfolgreichen Promotion geriet der junge Doktor der Philosophie in Jena auf die Spuren des weitgehend unbekannten englischen Schriftstellers Henry Crabb Robinson, der dort um 1800 Philosophie studierte und dessen Essays und Tagebücher das Interesse von James Vigus weckten.

Etwas haben Robinson und Vigus gemeinsam: das Schachspiel zählt zu den bevorzugten Freizeitaktivitäten beider. Während über Robinsons Qualitäten nichts weiter bekannt ist, nimmt Vigus zu seinem Werdegang Stellung: „Mein Vater hat mir Schach mit 6 Jahren beigebracht, und als Kind wurde ich vom englischen Großmeister Chris Ward trainiert. Damals gewann ich mehrere Titel der Britischen Juniorenmeisterschaften, der FM-Titel kam 1997, als ich auch die Londoner U-21-Meisterschaft gewann. Als Student habe ich dann relativ wenig Zeit fürs Schach gefunden, spielte aber regelmäßig bei dem IM-Turnier „Smith and Williamson Young Masters“ und für Cambridge gegen Oxford im Universitätsmatch. Bei diesen Wettkämpfen habe ich 4½ aus 6 erreicht – die letzte Partie gegen Luke McShane hat meinen ungeschlagenen Rekord beschädigt!“

Derzeit arbeitet er als Postdoctoral Research Fellow http://www.anglistik.uni-muenchen.de/personen/wiss_ma/vigus/index.html beim Lehrstuhl für Englische Philologie (Lehrstuhl Prof. Christoph Bode) an der Ludwig-Maximilians-Universität München http://www.english.qmul.ac.uk/drwilliams/people/index.html#vigus.

Er zählt damit zu 21 Nachwuchsforschern, die im Rahmen des Zukunftsprojektes LMUexcellent kurz nach ihrer Promotion für zwei plus zwei Jahre ein selbst gewähltes Forschungsthema bearbeiten. Dass die Research Fellowships als Plattform zur Vertiefung des individuellen wissenschaftlichen Profils verstanden werden, beweisen sowohl die finanziellen Zuwendungen, wie auch der Anspruch der Akademie. Vigus erforscht den Einfluss der Aufenthalte von Robinson und Coleridge in Deutschland, die hier mit der idealistischen Philosophie in Berührung gerieten, in Bezug auf die englische Romantik.

Nach der Forschungsarbeit im Rahmen der Exzellenzinitiative (Deutsche Forschungsgemeinschaft), die noch voraussichtlich 3 Jahre in Anspruch nimmt, strebt er eine Daueranstellung im selben Fachbereich an: „In Deutschland würde ich sehr gerne langfristig wohnen, aber Großbritannien, Holland oder Italien wären auch nicht auszuschließen. Letztlich entscheidet, wie sich der Arbeitsmarkt in den kommenden Jahren entwickelt.“ Mit seiner Frau Cecilia Muratori, die Italienerin ist, verweilt er des Öfteren im Dreieck England-Deutschland-Italien. Auch sie arbeitet derzeit als Research Follow und untersucht die philosophische Debatte über die Seele der Tiere in der Renaissance: „Ich will unter anderem herausarbeiten, wo die Philosophen der Renaissance die Grenze zwischen Menschen und Tieren ziehen, und dabei rekonstruieren, welche Rolle die Überlegungen zur Natur der Tierseele in diesem Kontext spielen.“ (Zitat: Münchner Uni-Magazin 01/2010)

Trotz des Lebensmittelpunktes München spielt er für Schott Jenaer Glas in der Oberliga. Hilfreich für diese Liaison war die wissenschaftliche Betreuung des Jenaer Institutsdirektors für Philosophie, Prof. Klaus Vieweg, der aktives Mitglied bei Schott ist. Aus der angenehmen engen Verbindung zwischen Uni und Mannschaft wurde eine erfolgreiche Ehe: „Letztes Jahr gelang es uns, die Thüringenliga zu gewinnen und in die Oberliga aufzusteigen. In dieser Saison habe ich leider kaum mitspielen können, aber trotz des Underdog-Status gewannen wir recht viele Wettkämpfe! Ich würde gerne in der zweiten Bundesliga spielen – ob das realisierbar ist, hängt hauptsächlich von meiner beruflichen Tätigkeit ab. Langfristig denke ich daran, den IM-Titel zu erlangen, was bedeutet, dass ich meine praktische (statt lediglich analytische) Spielstärke verbessern möchte. Zum Glück muss ein Schachspieler mit 31 Jahren auch heutzutage nicht wie bei manchen Sportarten schon am Gipfel seiner Laufbahn sein...“



Foto: Archiv James Vigus

Bevor er zum Schachautor wurde, trug er jahrelang mit seinen Rezensionen im British Chess Magazine zur Gestaltung dessen Bücherecke bei. Seit 2006 schreibt er für den Verlag Everyman im Segment der Eröffnungsbücher, die sich zumeist mit Flankeneröffnungen, wie Pirc oder der Modernen Verteidigung, aber auch Slawisch auseinandersetzen. Auf die Frage, wie es dazu gekommen ist und ob er nach Veröffentlichung seinen Systemen Vertrauen schenkt, antwortet er wie folgt: „Dieses Engagement ist dank der Freundschaft und langfristigen Zusammenarbeit mit den Everyman-Herausgebern Richard Palliser und John Emms entstanden. Vertrauen habe ich auf jeden Fall immer noch in diese Systeme! In „Slawisch für Schwarz und Weiß“ (ein seltsamer - vom Verlag für die deutsche Fassung gewählter - Titel für ein Schwarz-Repertoire!) habe ich eine von Ivan Sokolov entwickelte, damals ungewöhnliche Antwort für Schwarz gegen die Hautvariante (1 d4 d5 2 c4 c6 3 Sf3 Sf6 4 Sc3 dxc4 5 a4 Bf5 6 Se5 Sbd7 7 Sxc4 Sb6!? 8 Se5 a5) untersucht, die ich für Amateure sehr praktisch halte. Der Wert dieser Empfehlung ist m. E. seitdem bestätigt worden, indem sie zu einer Lieblingsvariante beim Elite-Niveau geworden ist – ohne dabei ein theoretischer Dschungel zu werden. Da ich selber relativ selten spiele, ist es mir wichtig, praktische Eröffnungsvarianten auszuwählen: D.h. diejenigen, die so aussichtsreich wie möglich zu einem reichen, balancierten Mittelspiel führen, die keine großartige Gedächtnisarbeit voraussetzen und die keine forcierten Remis erlauben.“

Anders hingegen bei den Büchern der Reihe „Gefährliche Waffen“, dessen Empfehlungen und Erfolgsaussichten teilweise vom Überraschungsmoment leben. Die Arbeitsweise gestaltet sich von Projekt zu Projekt differenziert: „Als ich das Buch „Pirc für Schwarz und Weiß“ schrieb, litt Schwarz bei vielen Varianten angeblich unter theoretischen Schwierigkeiten. Ich habe mich mit der Vielfalt von Repertoire-Büchern für den weißen Spieler auseinandergesetzt, alle Varianten mit Hilfe von Rybka und Fritz geprüft und versucht, einen objektiven Überblick der gesamten Eröffnung zu erhalten und in der eigenen Publikation zu bieten. Immerhin glaube ich zum Beispiel, dass die „naive“ Rochade 1 e4 d6 2 d4 Sf6 3 Sc3 g6 4 Le3 (ein modischer Zug gegen die Pirc-Verteidigung) 4…Lg7 5 Dd2 0-0!?, als ebenso gefährlich für Weiß wie für Schwarz gilt!“

Durch diese intensive Arbeit ist ihm bewusst geworden, welche Defizite Schachprogramme beim Eindringen in die Tiefe von Schacheröffnungen vorweisen: „Wichtig für einen Buchautor ist es, Meister statt Sklave der Softwares zu sein. Ich habe 6 Monate sehr intensiv am Pirc-Buch gearbeitet. Eine längere Arbeitsphase wäre für ein solches Eröffnungsbuch kaum praktisch, da der Stand der Theorie sich zu schnell entwickelt. Dagegen habe ich im Slawisch-Buch meistens eher strategische Stellungen behandelt, wobei ein Hauptziel darin bestand, musterhafte Beispiele auszuwählen und diese verbal zu erläutern, was ich als Literaturwissenschaftler gerne tue! In dieser Hinsicht habe ich viel von den wunderbaren Büchern von Mihail Marin gelernt.“

Im vergangenen Jahr hat er wegen der neuen Münchener Arbeitsstelle kaum gespielt. Da aber dieser Zeitraum ganz ohne Schach nicht vorstellbar ist, konzentrierte er sich darauf, zwei Kapitel über eine bisher unterschätzte Variante des Leningrader im Holländisch zu verfassen. Die Variante, die den Namen ‚Christmas Tree‘ trägt und nach 1. d4 f5 2. g3 Sf6 3. Lg2 g6 4. Lg2 Lg7 5. 0-0 0-0 6. c4 d6 7. Sc3 e6 entsteht, versucht als Konzept typische Mittelspielstellungen des Leningrader zu erreichen und dabei der schärfsten weißen Angriffsmöglichkeit, frühen d4-d5, zu entgehen. Diese sind im Buch „Dangerous Weapons: The Dutch“ erschienen, ein Buch, das in Zusammenarbeit mit Richard Palliser und Simon Williams entstand.

Da er sich beim Spiel am Brett als zu perfektionistisch einschätzt oder ihm seine „akademische“ Denkweise bisweilen in frustrierende Zeitnöte und Schwierigkeiten bringt, hat er seine große Begeisterung am Analysieren und Forschen. Die ästhetische Erfahrung überträgt er aber auch gern auf andere Spiele, wie zum Beispiel Abalone oder Carcassonne, während er die Attraktion von Poker nicht nachvollziehen kann. „Meine Interessengebiete sind also Literatur, Philosophie und Schach. Bei diesen drei Bereichen ist die Denkweise genügend differenziert, damit man gerne von einem zum anderen springt, aber alle drei haben auch viel gemeinsam – etwa Strategisches und ‚pattern-based thinking‘.“

Dass er sich technischen Themen nicht gänzlich verschließt, wird deutlich, wenn er seine zum Teil etwas überraschenden Ansichten über den Stand und die Zukunft des Schachsports äußert: „Die Frage nach der Zukunft von Schach ist immer mit der Frage vom Fortschritt der Computer-Programme verbunden. Dabei bin ich ganz optimistisch: Denn die Maschinen helfen uns, unsere Spielstärke zu verbessern, liegen aber immer noch weit hinter uns. Das heißt: je langsamer das Partietempo, desto vergleichsweise stärker wird der Mensch. Beim Blitzschach schlägt der Computer meistens den Elite-GM; bei einer 5-Stündige Partie hat der GM noch einige Chancen; bei einer Fernschachpartie wäre aber der GM deutlich Favorit, denn Fritz und Co. sind letztendlich kurzsichtig. Leider wird das diesen nie vor Augen geführt, denn so etwas wie Topalow versus Rybka im „Advanced Fernschach“ wäre kein großartiges Spektakel! In diesem Sinne hat vielleicht Mikhalchishin Recht, der neulich von einer „post-Carlsen“ Generation sprach, die mehr unabhängig von Engines trainiert.“

Seine 'beste eigene Partie' bleibt aus seiner Sicht immer noch zukünftig. Dennoch erinnert er sich gerne an seine erste Begegnung (außer beim Schnellschach) mit einem Großmeister, als er 16 Jahre alt war:

Conquest,Stuart (2550) – James Vigus (2075), Hertfordshire 1994 (Kommentare: James Vigus)

1.e4 d6 2.d4 Sf6 3.f3 e5 4.d5 Le7 5.Le3 0–0 6.Se2 Se8?! [Eine sehr seltene Position. 6...c6 ist mehr aktiv, wie auch 7...Lg5 im nächsten Zug] 7.Sbc3 Sd7 8.Dd2 h6 9.0–0–0 Lg5 10.h4 Lxe3 11.Dxe3 Kh7 12.g3 [Die Idee meines letzten Zuges war, 12.g4 mit 12...g6 zu begegnen, aber 13.g5 h5 14.f4 verspricht Weiß einen Vorteil, denn ein Opfer auf h5 kommt immer in Betracht.] 12...a5 13.Lh3 Sc5 14.f4? Weiß schwächt das Feld g4 und übersieht dabei meine Ressource - g3-g4 war immer noch ein besserer Plan. 14...Lxh3 15.Txh3 Sf6! 16.fxe5 Sg4 17.Df4 Sxe5 18.g4 Dd7 19.Tg1 [19.Tg3 b5 20.Df5+ Dxf5 21.exf5 b4 garantiert Weiß keinen Ausgleich.] 19...h5 20.Sd4?! [20.Df5+ Dxf5 21.gxf5 war die letzte Möglichkeit, ein sicheres Endspiel zu erreichen.] 20...hxg4! Der Springer verbleibt im Zentrum - ein glückliches Feld! 21.Sf5 Dd8 22.Thg3 Df6 23.h5 Th8 24.Th1 Kg8 25.Sb5 [Notwendig war, die unglückliche Lage seiner Dame zu verbessern, etwa 25.De3.] 25...Tc8 26.Sbd4 Kf8



Hier fühlte ich mich zum ersten Mal in der Partie optimistisch, da Conquest nur 4 Minuten hatte, um die Zeitkontrolle im Zug 42 zu erreichen. Zudem habe ich meinen Mehrbauer konsolidiert und stehe klar besser. Aber einen so raschen Gewinn hatte ich nicht erwartet... 27.Txg4?? Scd3+! 0–1

 

 

 

 

 

 

 


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