Textausschnitt mit freundlicher Genehmigung von
Schachmagazin 64:
Der Prophet von Muggensturm
Von Hartmut Metz
"Obwohl er nicht einmal zum erweiterten Kreis der
Großen des königlichen Spiels zählte, war sein Brett stets umlagert.
Allein schon wegen seiner hageren Gestalt, mit weißem Bart und ins Gesicht und
über die dicke Brille hängenden Strähnen fiel er in seinen letzten Lebensjahren
auf. Doch noch mehr zog die Fans sein Spiel an: „Vom ersten Zug an auf Matt!“
lautete die Maxime von Emil Joseph Diemer. Entsprechend schneidig schritt er zur
Tat mit seinen 16 Figuren und opferte ohne Rücksicht auf Verluste. Häufig
vergebens. Lamentierend stand er danach auf, klagte über sein „schlechtes“
Augenlicht, jammerte – und marschierte in der nächsten Begegnung wieder genauso
tollkühn voran. In seiner beschränkten Sichtweise konnte Diemer nicht anders. Er
verstand sich als Missionar und ging mit seinem Blackmar- Diemer-Gambit und als
„Prophet von Muggensturm“ immerhin in die Schachgeschichte ein.
Eigentlich hätte der in Radolfzell geborene und in Baden-Baden aufgewachsene
Spieler am 15. Mai seinen 100. Geburtstag noch erleben müssen. Den eigenen
Prophezeiungen zufolge harrten seiner 102 Lebensjahre. Doch der Zahlenmystiker
starb anstatt 2010 bereits mit 82 am 10.10.1990 – wenigstens um 10.10 Uhr. „Wer
der Ansicht ist, dass Schachspieler närrisch sind, wird durch das Studium des
Lebens von Emil Joseph Diemer nicht auf andere Gedanken kommen“, befand der
niederländische Großmeister Hans Ree in einem Rückblick über den wahnsinnig
gewordenen Kauz. Das Schachspiel erlernte Diemer mit neun Jahren am Rastatter
Gymnasialkonvikt von einem Schulkameraden. Sein Vater Emil Ludwig Otto Diemer,
ein ins lothringische Metz versetzter Postbeamter, hatte ihn dorthin geschickt,
um ihn 1917 etwas mehr fernzuhalten von den Kriegswirren. Bis zum Ende des
Ersten Weltkriegs siedelte sich Familie Diemer in Baden-Baden an, wo Emil Joseph
vollends mit dem Schachvirus infiziert wurde. Der Vater hatte offenbar viele
alte Schachbücher, überdies lieferte sich der Junge in der Schule „heiße“ Kämpfe
mit seinem Kameraden Heinz Breitling. Letzterer gehörte auch zu den stärksten
Meistern Badens und half der 1979 neu gegründeten Rochade Kuppenheim noch mit
über 70 Jahren beim kometenhaften Aufstieg. Am humanistischen Gymnasium
beschäftigten sie sich häufig unter der Schulbank mehr mit ihrem Duell als
dem Schulstoff, erzählte Breitling einst schmunzelnd. Fürs Abitur reichte es
aber ennoch beiden. Nach dem Tod seiner Mutter, mutmaßt ichael Negele in einem
fachkundigen Artikel in der Zeitschrift „Karl“, verging Diemer wohl die Lust auf
ein Studium. So trat er in Freiburg eine Lehre als Buchhändler bei der
Herderschen Verlagsgesellschaft an. Immerhin konnte er im Breisgau seinem Hobby
noch mehr frönen: Nicht nur, dass er der Betriebsschachgruppe des Verlags
beitrat – auch alle fünf Freiburger Schachklubs durften sich eines neuen
Mitglieds erfreuen ...


Arbeitslos kehrte der mittlerweile 22-Jährige
nach Baden-Baden zurück und studierte emsig die Schachliteratur. „Ende1931
beschloss ich, Schachmeister zu werden“, verkündete Diemer ungeachtet seiner
kaum ausreichenden Spielstärke. Seinen Optimismus nährte offenbar die NSDAP, der
er sich ebenfalls angeschlossen hatte – Vater Emil warf daraufhin den Filius aus
dem Haus! Diemer war wohl kein Antisemit, wie Negele ebenso wie der Straßburger
Michel Roos feststellten, habe er doch stets „Umgang mit den jüdischen
Schachspielern gepflegt“. Der junge Eiferer sah wohl eher die einmalige Chance,
das von den Nazis geförderte Denkspiel in alle „Volksteile hineinzutragen“.
Fortan verdingte sich der Baden-Badener als Berichterstatter nicht nur bei
der WM 1934 zwischen Alexander Aljechin und dem Triberger Jefim Bogoljubow, die
unter anderem in seiner Heimatstadt Station machte.
Hans Ree schrieb über die Zeit: „Für sich selbst sorgen konnte Diemer nie gut,
aber als Nazi ging es doch etwas bequemer. Nicht, dass er aus Opportunismus
Mitglied der Partei geworden wäre. Er war ein Fanatiker in allem, was er tat.
Ein heftiger Propagandist zu der Zeit, die die Nazis so romantisch die
,Kampfzeit‘ nannten, die Jahre vor der Machtübernahme. Durch seine neuen Freunde
konnte Diemer Berufsschachspieler werden. Er wurde der ,Schachreporter des
Großdeutschen Reichs‘, war bei allen großen internationalen Schachereignissen
anwesend und sang in den Naziblättern das Lob des Kampfschachs. Viel Geld
verdiente er nicht damit, obendrein war er abhängig von begüterten Bewunderern,
die ihm ab und zu etwas zusteckten.“ Sein erstes in Ungarn gedrucktes Bändchen
verfasste EJD, wie sein Kürzel lautete, 1936 über die Schach- lympiade in
München. Erste kleinere Erfolge feierte der Journalist bei den legendären
Turnieren im englischen Seebad Hastings, wo der Kurstädter das Major A gewann –
ins Premiere-Reserveturnier erhielt der Nationalsozialist aber keine Einladung.
Er wäre wohl zu schwach gewesen, denn beim Turnier im belgischen Ostende (1937)
hatte er mit 1,5/6 als Letzter keine Chance gegen O’Kelly, Feigin und Devos.
Nicht nur deswegen befand sich Diemers Stern im Sinken. Ab 1940 musste er – als
untauglicher Schlaks, der sich bei Kriegsausbruch als Freiwilliger gemeldet
hatte – gar wieder einer geregelten Arbeit als Betriebsprüfer beim Finanzamt
Baden- Baden nachgehen! Ein Affront aus seiner Sicht, wie er später häufig
hervorhob. Bei den Nazis fiel EJD auch in Ungnade, weil er Nachwuchsstar Klaus
Junge einen „vergreisten Stil“ und mangelndes „Kampfschach“ vorwarf. Ab 1947
wurde Diemer richtig aktiv.
Er entdeckte das Blackmar-Gambit für sich. Anhand von zwölf eigenen Partien
erläuterte er in der „Caissa/Fernschachpost“ den Sinn des Bauernopfers nach 1.
d4 d5 2. e4 dxe4 3. Sc3 Sf6 4. f3. Sogar Exweltmeister Max Euwe beschäftigte
sich als führender Eröffnungstheoretiker mit dem Gambit und führte den Namen
Blackmar-Diemer-Gambit (BDG) ein – ein Missgeschick, das der Niederländer
wahrscheinlich bald bereute. Diemer bombardierte ihn fortan mit Analysen.
In Lindau, wo er das Schach am Bodensee belebte, trug EJD Zweikämpfe mit seinem
Gambit aus, die dem Publikum kurzweilige Angriffspartien mit hübschen
Mattmotiven bescherten. Allerdings lag dies auch meist an der fehlenden
Gegenwehr der schwachen Kontrahenten Locher und Portz. Trotzdem fand Diemer mit
Friedrich A. Stock einen Gönner. Der Hotelier, Vorsitzender des Freiburger SK
1887 und später auch des Südbadischen Schachverbandes, lockte ihn ins Breisgau.
Der Mäzen finanzierte ihm gar die Teilnahme an der deutschen Meisterschaft 1949,
die Diemers einzige bleiben sollte. Die zweite 1953 torpedierte der Pressewart
des vereinigten Badischen Schachverbandes selbst. Nachdem EJD im Juli 1952 in
Zürich seinen ersten internationalen Erfolg mit sieben Punkten nach neun Runden
feierte, brach er mit Stock. Ein Fehler, denn so blieb ihm unter anderem die
zugesagte Behandlung seines offenbar malträtierten Gebisses versagt. Der neue
badische Verbandschef Karl „Charly“ Weinspach wollte den „Publikumsmagneten“ zu
seiner Caissa Rastatt locken – gleichzeitig wäre Rivale Freiburg 1887 dadurch
geschwächt worden. Beim Zwist zwischen Stock und Weinspach geriet Diemer
zwischen die Fronten. Die Versprechungen aus Rastatt wurden nicht gehalten,
weshalb Weinspach den Pressewart seines Verbandes weiter nach Muggensturm
vermittelte. „Die Caissa konnte Diemer nicht finanzieren“, erinnert sich der
Muggensturmer Rolf Gräfinger.
Von dem nahe am Bodensee gelegenen Scheidegg zog Diemer in da zwischen Karlsruhe
und Baden-Baden gelegene Dorf. Das Rössl galt als ein aufstrebender
Verein. Vermutlich Redakteur Weinspach selbst schrieb in seiner Tageszeitung:
Muggensturm sei „schon immer einer der aktivsten Vereine in Mittelbaden“ und
einer der größten dazu gewesen. „Und nun hat Meister Diemer seine Zelte in
Muggensturm aufgeschlagen und gibt den Rössl-Leuten neuen Auftrieb. Neben
seinem Einsatz am ersten Brett hat der Club in erster Linie den Nutzen, von den
Kenntnissen Diemers zu profitieren. Und das merkt man den meisten jungen
Talenten bereits an. Überhaupt ist das Erfreuliche im Schachclub Rössl, dass man
fast durchweg junge Gesichter sieht, was zu berechtigten Hoffnungen für die
Zukunft Anlass gibt“, heißt es in dem Artikel aus dem Archiv des vieljährigen
Rössl- Vorsitzenden Albert Stoll...."
Schachmagazin 64, Heft 06/2008, S.35-38
Link:
Schünemann Verlag, Schachmagazin 64...