Karsten Müller: Endspiele 14 - Die goldenen Endspielregeln
Rezension von Frank Zerfas
In „Die Weltmeister des Schachspiels“ (Barcza, Alföldy und Kapu, Hamburg 1975) findet man auf Seite 149 interessante Beschreibungen zwei der bedeutendsten Schachmeister des 19. Jahrhunderts:
„Steinitz bemühte sich eigensinnig, in eine – praktisch nachteilige – Stellung prinzipielle Vorteile hineinzudeuten, die mit Varianten nicht zu belegen waren. Tschigorin tat des Guten zu viel: Ausgehend von einer sich inzwischen als richtig erwiesenen Behauptung, vertrat er die These, es wäre weder nützlich noch notwendig, Prinzipien aufzustellen.“
Beide Standpunkte erscheinen aus heutiger Sicht merkwürdig überspitzt, doch wir sollten dabei nicht vergessen, wie fruchtbar diese für das Schaffen der nachfolgenden Generationen von Schachmeistern gewesen sind.
Die Auswahl und Fassung grundlegender Regeln des Endspiels und deren Verdeutlichung an entsprechenden Beispielen ist zweifelsohne eine höchst anspruchsvolle Aufgabe und dies in mehrfacher Hinsicht. Jeder, der sich dieser Aufgabe stellt, muss sich intensiv auseinandersetzen mit folgenden Fragen. Wie hoch ist die Gültigkeit einer aufgestellten Regel und wie gut lassen sich die Voraussetzungen für deren Anwendbarkeit beschreiben bzw. woran erkennt man einen Ausnahmefall? Wie hoch ist der Nutzen einer Regel für das praktische Spiel? Was ist unter „grundlegend“ zu verstehen bzw. was nicht? Karsten Müller stellt sich all diesen Fragen, auch wenn er sie – trotz seines immens hohen fachlichen Wissens – nicht abschließend und auch nicht eindeutig beantwortet, was aber ohnehin kaum möglich sein dürfte. Die Qualität seiner Arbeit wird dadurch jedoch nicht im Geringsten gemindert.
Seine Zusammenfassung „Schachendspiele 14 – Die goldenen Regeln“ hat mich zunächst durch ihren großen inhaltlichen Umfang beeindruckt: Siebenundsechzig (!!) Einzellektionen mit einer Gesamtspieldauer von beinahe 7 Stunden! Hier die Gliederung des Materials:
TEIL I: ALLGEMEINE FAUSTREGELN
1. EIN ENDSPIEL IST KEIN MITTELSPIEL
2. DER RICHTIGE ABTAUSCH
3. SCHWÄCHEN
4. DENKMETHODEN
TEIL II: PRINZIPIEN SPEZIELLER ENDSPIELE
1. MATTSETZEN MIT LÄUFER UND SPRINGER
2. BAUERNENDSPIELE
3. DAME GEGEN BAUER
4. TURM GEGEN BAUERN
5. TURMENDSPIELE
6. SPRINGERENDSPIELE
6.1 Springer gegen Bauern
6.2 Springerendspiele
7. LÄUFERENDSPIELE UND LÄUFER GEGEN SPRINGER
7.1 Läufer gegen Bauern
7.2 Gleichfarbige Läuferendspiele
7.3 Ungleichfarbige Läuferendspiele
7.4 Läufer gegen Springer
8. DAMENENDSPIELE
8.1 Dame und Bauer gegen Dame
9. TURM GEGEN LEICHTFIGUR
9.1 Turm gegen Springer
9.2 Turm gegen Läufer
10. TURM UND LEICHTFIGUR GEGEN TURM UND LEICHTFIGUR UND CAPABLANCAS THEOREM
Sie vermissen „Dame gegen Turm“? Sie halten „Dame und Bauer gegen Dame“ für unwesentlich? Dann sollten Sie vielleicht noch einmal in aller Ruhe nach über den Gedanken zu Beginn des vorletzten Abschnitts nachdenken…
Insgesamt werden 119 verschiedene Stellungen (Teil I: 37, Teil II: 82) unter die Lupe genommen. Diese stammen überwiegend aus der Praxis zeitgenössischer Spitzengroßmeister und können aus der entsprechenden Datenbank separat aufgerufen werden. Die gezeigten Varianten weisen dabei recht unterschiedliche Längen bzw. unterschiedlichen Schwierigkeitsgrad auf. Karsten Müller referiert durchweg in freier Rede und beherrscht alle Visualisierungsfunktionen sicher. Einwänden, er wäre gelegentlich zu schnell beim Sprechen bzw. bei der Vorführung von Zugfolgen begegne ich mit dem Hinweis auf den Pause-Button, der jederzeit gedrückt werden kann.
Wer mit Läufer und Springer Matt setzen kann, ist deshalb noch kein Meister. Umgekehrt hatten schon einige Meister (Quizfrage: wer zuletzt?) die Gewinnführung nicht in ihrem Repertoire! Ihr Rezensent ist lediglich ein Vereinsspieler, dessen DWZ erst sehr spät die Marke von 1900 Punkten überschritten hat, dem es aber immerhin vergönnt war, die Gewinnführung in einer ernsten Partie demonstrieren zu können:
Beispielpartie: Klapper-Zerfas nachspielen...
Wenn Sie dieses Endspiel aus jeder Anfangsstellung heraus innerhalb von 5 Minuten zum Gewinn führen wollen, dann müssen Sie natürlich üben! Ihre Engine wird Ihnen dabei geduldiger Sparringspartner sein, das geometrische Motiv, das sie dabei im Hinterkopf behalten müssen, erklärt Ihnen Karsten Müller zuvor in leicht verständlicher Weise.
Ob ein Endspiel gewonnen ist oder nicht, sollten Sie korrekt einschätzen, bevor sie es durch eine Abwicklung aufs Brett bekommen. Dazu ein Beispiel:
Weiß am Zug
Ohne das Bauernpaar auf der a-Linie ist dieses Endspiel remis, egal welche Seite am Zug ist. Weiß kann höchstens dann gewinnen, wenn er seinen Freibauern opfert, den schwarzen Bauern eliminiert und gleichzeitig die Annäherung des gegnerischen Königs zum Eckfeld a8 unterbindet.
Ist dies dem Weißen in der abgebildeten Stellung möglich? Bitte überlegen Sie!
Ohne die Kenntnis einer einfachen geometrischen Regel, die Karsten Müller im Kapitel II.2 vorstellt, müssen Sie wohl oder übel eine lange Zugfolge korrekt berechnen und das ist in jedem Fall sehr mühsam, auch wenn es sich im Wesentlichen nur um Königszüge handelt.
Entscheidungshilfe der sogenannten „Bährschen Regel“ besteht hier aus einem Streckenzug, den Sie wie folgt erhalten: Ziehen Sie in Gedanken vom gegnerischen Bauern einen Pfeil diagonal in Richtung der benachbarten Läufer-Linie und einen zweiten dazu senkrecht zurück auf die eigene Grundreihe! Die Regel besagt: Die Stellung ist remis, wenn sich der Freibauer vor dem Streckenzug befindet. Andernfalls gewinnt Weiß. Die abgebildete Stellung ist daher für Weiß nicht zu gewinnen. Versetzt man die drei Figuren am rechten Brettrand jeweils um eine Vertikale nach links, dann ist die Stellung für Weiß gewonnen.
Wie verinnerlichen Sie nun diese Regel am besten? Konstruieren Sie selbst gemäß deren Vorgaben verschiedene Ausgangsstellungen und bewerten Sie sie mit Hilfe der Regel! Spielen Sie das Endspiel danach gegen den Computer zu Ende und überzeugen Sie sich von der Richtigkeit Ihrer Einschätzung!
Einen Ratschlag, den Karsten Müller mehrfach und ausdrücklich wiederholt, wollen Sie dabei bitte stets beachten: Die Kenntnis einer Regel ersetzt konkrete Berechnungen und die Berücksichtigung besonderer Stellungsmerkmale nicht! Dazu das nächste Beispiel:
Carlsen - Kramnik (Tal-Memorial 2013) Stellung nach 41...Ta3-a2
Müller bewertet die Stellung als besser für Weiß und als haltbar für Schwarz. Im weiteren Verlauf der Partie gelang es Carlsen jedoch, den ganzen Punkt zu ergattern. Die Regel, um die es in diesem Beispiel geht, heißt: „Man sollte nichts übereilen.“
Ich gehe zunächst davon aus, dass ein Experte wie Karsten Müller dieses Endspiel nach genauer Untersuchung richtig beurteilt hat. Folglich muss Kramnik also mindestens ein Fehler unterlaufen sein. War es ein Rechenfehler, das Übersehen eines konkreten Umstandes? War es die Falschbewertung einer Stellung aufgrund der Anwendung einer nicht anwendbaren Regel? Oder vielleicht beides? Mir ist nicht bekannt, ob Kramnik an besagte Regel gedacht hat. Glaubte er, Eile sei das Gebot der Stunde?
Mir kommt die Betrachtung dieses Endspiels unter der fachkundigen Anleitung eines Großmeisters - unter welcher Überschrift auch immer – auf jeden Fall sehr lehrreich vor. Könnte Kramnik vielleicht die Auffassung vertreten haben, in dieser Stellung
Carlsen - Kramnik (Tal-Memorial 2013) Stellung nach 50...Ke5-e4
in jedem Fall seinen Läufer gegen den weißen g-Bauern opfern zu können, um in das bekannte Remis-Endspiel mit dem „falschen Läufer“ einzulenken? In der Partie gelang es ihm jedenfalls nicht. Ob es bei richtigem weißem Spiel möglich ist? Treten Sie jetzt gegen Ihre Engine an! Versuchen Sie, sich mit Schwarz zu verteidigen oder mit Weiß den Gewinn herauszuarbeiten!
Was man beim Kampf mit ungleichfarbigen Läufern beachten muss, zeigt folgende Lektion:
Beispielvideo
In zwei Lektionen fühlte ich mich überfordert, das Wesentliche des untersuchten Endspiels zu begreifen. In Tiviakov-Korsunsky (1989, Frunse) hatte Schwarz eine Festung mit Läufer und zwei Bauern gegen Turm und zwei Bauern am gleichen Flügel errichtet. Müller zeigt dabei eine Variante, die nach 51 (!!) Zügen – unterstützt durch eine Endspieldatenbank – in eine Gewinnstellung mit Turm und Bauer gegen Läufer mündet und korrigiert damit eine fehlerhafte Einschätzung, zu der in einer früheren Abhandlung dieses Endspiels gelangt war. In Negi-Postny (2009, Politiken Cup) entstand ein Endspiel „Dame und Bauer gegen Dame“, in dem sich die schwächere Seite mittels Dauerschach erfolgreich verteidigte. Das Urteil in einer Nebenvariante fällt Müller wiederum mit einem Verweis auf eine Endspieldatenbank.
Unabhängig von meiner Einschätzung beweist er damit seine Gewissenhaftigkeit - auch im Umgang mit eigenen Forschungsergebnissen, gesteht einen eigenen Urteilsfehler ein, benennt seine Quellen. Aber Karsten Müller ist ja schließlich kein Bundesminister, sondern ein Schachgroßmeister! Und ein solcher wäre er bestimmt nicht geworden, hätte er sich in seinem Leben nur an dünnen Brettern versucht!
Mein Fazit: Das dargebotene Material mit einem hervorragenden Preis-Leistung-Verhältnis eignet sich dem fortgeschrittenen Vereinsspieler sowohl zum Neuerwerb von Endspielwissen als auch zu dessen Ergänzung, Festigung und Vertiefung. Wer die Vorlesungen eingehend nachbereitet, indem er die Lehrstellungen – nötigenfalls mehrfach – zum angegebenen Resultat weiterspielt, wird dadurch ohne jeden Zweifel profitieren!
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Dr. Karsten Müller: Endspiele 14 - Die goldenen Endspielregeln
- Videospielzeit: 7 Std. (Deutsch)
- Ink. ChessBase Reader
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