"Über Schach spricht man auf Russisch"
Der legendäre Großmeister Kortschnoj glaubt, dass die sowjetische
Schachschule nach wie vor in der Welt führend ist.
Ich traf Viktor Lvovich Kortschnoj am letzten Tag seiner kurzen Visite
in seiner Heimatstadt im Foyer des Hotels Kempinski an der Moyka. Ich kam 15
Minuten vor der verabredeten Zeit und sah den Großmeister beim Blitzschach
mit dem deutschen Schachspieler Gerhard Köhler. Natürlich wartete ich das Ende
der Partie ab (So sind die eisernen Regeln: beobachte schweigend). Plötzlich hob Kortschnoj den Kopf, lächelte und reichte mir die Hand. Die Partie ging indes
weiter, Viktor Lvovich ließ den Turm des Gegners in die zweite Horizontale des
Hinterlands eindringen. Das war nicht weiter schlimm, aber dann machte er einen
groben Fehler und erlaubte es der Dame dorthin vorzudringen. Das Matt wurde
unausweichlich und Kortschnoj brachte als Zeichen der Niederlage die
Figuren in Unordnung. Der Weg zu ihm wurde frei.
Ich freue mich Sie in Ihrer Heimatstadt zu sehen, Viktor Lvovich. Ich
weiß, dass Sie nur für vier Tage nach Petersburg gekommen sind. Wie sind
Ihre Eindrücke?
Meine Reise nach Petersburg hat der deutsche Schachspieler Gerhard
Köhler organisiert. Ich bin ihm sehr dankbar für die Möglichkeit wieder in
Russland sein zu können. Ich danke auch meiner Frau Petra und der
Krankenschwester Dascha, die mich begleiten. Ich war in Schloss Peterhof.
Natürlich sind es nicht die Fontänen, die mich in Erstaunen versetzen, ich habe
sie ja schon oft gesehen. Aber es ist angenehm zu sehen, dass renoviert wurde.
Vieles ist besser geworden. Und das ist richtig, man muss den Touristen aus dem
Ausland einen Anreiz bieten.
Ich habe Veteranen des St. Petersburger Schachs
getroffen.Wir haben uns an verschiedene Turniere erinnert, an Treffen und alle
möglichen lustigen Geschichten. Es ist schön, dass sie wissen, wie sich dieses
Spiel in dieser Stadt und in diesem Land entwickelt hat. Vieles haben wir Boris
Khromov zu verdanken, der einer der Leiter der Schachföderation Petersburg war.
Er ist es, der mich nach Petersburg zurückgebracht hat.
Was halten Sie von der Entwicklung des Schachs in Russland in den
letzten Jahren?
Sehr in Erstaunen versetzt hat mich natürlich Garry Kasparov. Sehr
schade, dass er das Schachspiel aufgegeben hat. Ich verstehe nicht, warum er das
getan hat. Und Russland hat er verlassen. Kasparov hat das Schachspiel
aufgegeben bevor er das Alter erreicht, in dem ich noch viele Erfolge erzielen
konnte.
Kortschnoi im Februar in Zürich
Ich komme nicht umhin, Sie nach dem World Cup zu fragen, der in Norwegen
stattfindet.
Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Turnier aufmerksam verfolge, aber
ich weiß, dass die Russen ziemlich erfolgreich waren und bis zum Halbfinale
gekommen sind. Drei Großmeister unter den vier Besten ist ein schönes Resultat.
Erstaunlich war die Leistung des russischen Meisters Dmitry Andreikin (der
23-jährige Schachspieler aus Rjasan zog ins Finale ein – Anm. der Red.). Ich
weiß, dass es in Russland nicht wenig begabte Großmeister gibt – Ian
Nepomniachtchi, Evgeny Tomashevsky, Sergey Karjakin und andere. Ich möchte
Andreikin besonders hervorheben. Ich habe seine Partien gesehen. Er macht nicht
selten sogar für mich unerwartete Züge, er improvisiert. Es sind überhaupt in
letzter Zeit in Russland viele begabte Jugendliche sowohl beim Frauen- als auch
beim Männerschach aufgetaucht.
Das Schachspiel hat sich extrem verjüngt. Aber im letzten Match um die
Weltmeisterschaft trafen Vishy Anand und Boris Gelfand aufeinander, die schon
über vierzig sind. Bald wird der 23-jährige Norweger Magnus Carlsen, von dem
Viele begeistert sind, um den Titel kämpfen. Was meinen Sie, wie wird das Duell
mit Anand ausgehen?
Wissen Sie, ich habe nicht eine so hohe Meinung von Carlsen. Bei weitem
nicht alle wissen, dass Anand sehr gut gegen den Computer spielt. Kaum einer
kann sich mit ihm darin vergleichen. Übrigens, auch Carlsen ist stark in dieser
Hinsicht. Erinnern Sie sich an das Match um die Weltmeisterschaft zwischen Anand
und Gelfand in Moskau? Im Spiel zeigte Gelfand sich dem Gegner durchaus
ebenbürtig, aber Anand konnte dennoch beweisen, dass er stärker ist.
Schade, dass die russischen Schachspieler nicht am Kampf um den
Weltmeistertitel teilnehmen.
Ich finde, dass Vladimir Kramnik, der ja schon viel erreicht hat, sich
immer noch weiter entwickelt. Er findet Fortsetzungen, die ihm früher nicht
eingefallen wären. Interessant war seine Partie gegen Ivanchuk beim World Cup.
Der ukrainische Großmeister hat meiner Meinung nach nicht genug Energie. Ja, und
überhaupt ist Vassily Ivanchuk ein sehr merkwürdiger Mensch. Er ist sehr begabt,
aber Schach steht bei ihm nicht an erster Stelle. Aber in London beim
Kandidatenturnier hat Kramnik gegen ihn verloren, sonst hätte er Magnus Carlsen
noch überholt. Der Norweger hat das Recht, mit Anand um die Weltmeisterschaft zu
spielen nur durch seine große Zahl an Siegen erworben. Carlsen hätte dann
den nächsten Qualifikationszyklus abwarten müssen, und es ist fraglich, ob er
sich dort durchgesetzt hätte.
Aber es ist, wie es ist. Ich bin der Meinung, dass Kramnik die Fahne
der russischen Schachschule hoch hält. Und überhaupt: So viele Jahre existiert
die Sowjetunion schon nicht mehr, aber schauen Sie mal, es gibt die
Nationalmannschaften aus Moskau, New York und Tel Aviv. Überall hört man
Russisch. Wenn wir über Schach sprechen, darüber diskutieren, dann geschieht das
auf Russisch. Die UdSSR hat in der Tat viel für die Entwicklung des Schachspiels
getan.
Kortschnoj diskutiert mit Genna Sosonko
Viktor Lvovich, haben Sie persönlich Pläne an Turnieren teilzunehmen?
In der gegebenen Situation kann ich, wie Sie sicherlich verstehen
werden (Kortschnoj ist im Rollstuhl nach Petersburg gekommen – A.K.), nur noch
zuhause spielen. Die Rolle des Schachs in der Schweiz ist eigenartig. Große
Turniere werden selten durchgeführt, weil kein Geld dafür da ist. Aber
vielleicht werde ich dennoch Ende des Jahres noch einmal spielen.
Das Interview führte Alexandr Kruglikov
Fotos: Chess-News.ru
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