Reise nach St. Petersburg

von ChessBase
09.09.2013 – Im letzten Dezember erlitt Viktor Kortschnoj einen Schlaganfall. Der zweifache WM-Herausforderer ist seitdem an den Rollstuhl gefesselt und musste seine Karriere beenden. Mit Hilfe deutscher Freunde besuchte der 82-Jährige kürzlich noch einmal seine Geburtsstadt St. Petersburg, stellte sich dort einem Interview und zeigte sich bestens informiert.  Zum Interview...

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"Über Schach spricht man auf Russisch"

Der legendäre Großmeister Kortschnoj glaubt, dass die sowjetische Schachschule nach wie vor in der Welt führend ist.

Ich traf Viktor Lvovich Kortschnoj am letzten Tag seiner kurzen Visite in seiner Heimatstadt im Foyer des Hotels Kempinski an der Moyka. Ich kam 15 Minuten vor der verabredeten Zeit und sah den Großmeister  beim Blitzschach mit dem deutschen Schachspieler Gerhard Köhler. Natürlich wartete ich das Ende der Partie ab (So sind die eisernen Regeln: beobachte schweigend). Plötzlich hob Kortschnoj den Kopf, lächelte und reichte mir die Hand. Die Partie ging indes weiter, Viktor Lvovich ließ den Turm des Gegners in die zweite Horizontale des Hinterlands eindringen. Das war nicht weiter schlimm, aber dann machte er einen groben Fehler und erlaubte es der Dame dorthin vorzudringen. Das Matt wurde unausweichlich und Kortschnoj brachte als Zeichen der Niederlage die Figuren in Unordnung. Der Weg zu ihm wurde frei.

Ich freue mich Sie in Ihrer Heimatstadt zu sehen, Viktor Lvovich. Ich weiß, dass Sie nur für vier Tage nach Petersburg gekommen sind.  Wie sind Ihre Eindrücke?

Meine Reise nach Petersburg hat der deutsche Schachspieler Gerhard Köhler organisiert. Ich bin ihm sehr dankbar für die Möglichkeit wieder in Russland sein zu können. Ich danke auch meiner Frau Petra und der Krankenschwester Dascha, die mich begleiten. Ich war in Schloss Peterhof. Natürlich sind es nicht die Fontänen, die mich in Erstaunen versetzen, ich habe sie ja schon oft gesehen. Aber es ist angenehm zu sehen, dass renoviert wurde. Vieles ist besser geworden. Und das ist richtig, man muss den Touristen aus dem Ausland einen Anreiz bieten.

Ich habe Veteranen des St. Petersburger Schachs getroffen.Wir haben uns an verschiedene Turniere erinnert, an Treffen und alle möglichen lustigen Geschichten. Es ist schön, dass sie wissen, wie sich dieses Spiel in dieser Stadt und in diesem Land entwickelt hat. Vieles haben wir Boris Khromov zu verdanken, der einer der Leiter der Schachföderation Petersburg war. Er ist es, der mich nach Petersburg zurückgebracht hat.

Was halten Sie von der Entwicklung des Schachs in Russland in den letzten Jahren?

Sehr in Erstaunen versetzt hat mich natürlich Garry Kasparov. Sehr schade, dass er das Schachspiel aufgegeben hat. Ich verstehe nicht, warum er das getan hat. Und Russland hat er verlassen. Kasparov hat das Schachspiel aufgegeben bevor er das Alter erreicht, in dem ich noch viele Erfolge erzielen konnte.

Kortschnoi im Februar in Zürich

Ich komme nicht umhin, Sie nach dem World Cup zu fragen, der in Norwegen stattfindet.

Ich kann nicht sagen, dass ich dieses Turnier aufmerksam verfolge, aber ich weiß, dass die Russen ziemlich erfolgreich waren und bis zum Halbfinale gekommen sind. Drei Großmeister unter den vier Besten ist ein schönes Resultat. Erstaunlich war die Leistung des russischen Meisters Dmitry Andreikin (der 23-jährige Schachspieler aus Rjasan zog ins Finale ein – Anm. der Red.). Ich weiß, dass es in Russland nicht wenig begabte Großmeister gibt – Ian Nepomniachtchi, Evgeny Tomashevsky, Sergey Karjakin und andere. Ich möchte Andreikin besonders hervorheben. Ich habe seine Partien gesehen. Er macht nicht selten sogar für mich unerwartete Züge, er improvisiert. Es sind überhaupt in letzter Zeit in Russland viele begabte Jugendliche sowohl beim Frauen- als auch beim Männerschach aufgetaucht.

Das Schachspiel hat sich extrem verjüngt. Aber im letzten Match um die Weltmeisterschaft trafen Vishy Anand und Boris Gelfand aufeinander, die schon über vierzig sind. Bald wird der 23-jährige Norweger Magnus Carlsen, von dem Viele begeistert sind, um den Titel kämpfen. Was meinen Sie, wie wird das Duell mit Anand ausgehen?

Wissen Sie, ich habe nicht eine so hohe Meinung von Carlsen. Bei weitem nicht alle wissen, dass Anand sehr gut gegen den Computer spielt. Kaum einer kann sich mit ihm darin vergleichen. Übrigens, auch Carlsen ist stark in dieser Hinsicht. Erinnern Sie sich an das Match um die Weltmeisterschaft zwischen Anand und Gelfand in Moskau? Im Spiel zeigte Gelfand sich dem Gegner durchaus ebenbürtig, aber Anand konnte dennoch beweisen, dass er stärker ist.

Schade, dass die russischen Schachspieler nicht am Kampf um den Weltmeistertitel teilnehmen.

Ich finde, dass Vladimir Kramnik, der ja schon viel erreicht hat, sich immer noch weiter entwickelt. Er findet Fortsetzungen, die ihm früher nicht eingefallen wären. Interessant war seine Partie gegen Ivanchuk beim World Cup. Der ukrainische Großmeister hat meiner Meinung nach nicht genug Energie. Ja, und überhaupt ist Vassily Ivanchuk ein sehr merkwürdiger Mensch. Er ist sehr begabt, aber Schach steht bei ihm nicht an erster Stelle. Aber in London beim Kandidatenturnier hat Kramnik gegen ihn verloren, sonst hätte er Magnus Carlsen noch überholt. Der Norweger hat das Recht, mit Anand um die Weltmeisterschaft zu spielen nur durch seine große Zahl an Siegen erworben.  Carlsen hätte dann den nächsten Qualifikationszyklus abwarten müssen, und es ist fraglich, ob er sich dort durchgesetzt hätte.

Aber es ist, wie es ist. Ich bin der Meinung, dass Kramnik die Fahne der russischen Schachschule hoch hält. Und überhaupt: So viele Jahre existiert die Sowjetunion schon nicht mehr, aber schauen Sie mal, es gibt die Nationalmannschaften aus Moskau, New York und Tel Aviv. Überall hört man Russisch. Wenn wir über Schach sprechen, darüber diskutieren, dann geschieht das auf Russisch. Die UdSSR hat in der Tat viel für die Entwicklung des Schachspiels getan.

Kortschnoj diskutiert mit Genna Sosonko

Viktor Lvovich, haben Sie persönlich Pläne an Turnieren teilzunehmen?

In der gegebenen Situation kann ich, wie Sie sicherlich verstehen werden (Kortschnoj ist im Rollstuhl nach Petersburg gekommen – A.K.), nur noch zuhause spielen. Die Rolle des Schachs in der Schweiz ist eigenartig. Große Turniere werden selten durchgeführt, weil kein Geld dafür da ist. Aber vielleicht werde ich dennoch Ende des Jahres noch einmal spielen. 

Das Interview führte Alexandr Kruglikov

Fotos: Chess-News.ru

Zum Original-Interview in Newskoie Wremja...

Artikel zum 82. Geburtstag von Viktor Kortschnoj...

Aargauer Zeitung...


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