In die Mauer eingelassen
eine schlichte Tafel am Ufer der Saale. Spaziergänger bleiben stehen, eine
Frau, ein Junge und Herren im gesetzten Alter. Aus der Gruppe tritt einer
näher heran, liest laut den Namen auf der Gedenkplatte: "Fritz Weineck." Und
fängt spontan zu singen an: "Von all unsern Kameraden / war keiner so lieb und
so gut / wie unser kleiner Trompeter, / ein lustiges Rotgardistenblut."
Denkmal für
den „Kleinen Trompeter“ Fritz Weineck, das bis zur Wende 1989 an der Saale in
Halle stand
Der kleine Trompeter: ein
Lied, das in der DDR wohl jedes Kind gekannt hat. Die Verse erinnern an Fritz
Weineck, Hornist im Roten Frontkämpferbund. Der wurde wenige Tage vor seinem
28. Geburtstag erschossen, als die Polizei eine Versammlung mit Ernst Thälmann
am 13. März 1925 in Halle gewaltsam auflöste. Zehn Menschen starben im
Kugelhagel, eines der Opfer war Fritz Weineck.
Ernst Thälmann während einer Wahlkampfveranstaltung Anfang der
30-er Jahre
"Wir saßen so
fröhlich beisammen / in einer gar stürmischen Nacht. / Mit seinen
Freiheitsliedern / hat er uns glücklich gemacht."
Wehmütig klingt die Melodie,
gleichzeitig aber auch nach Aufbruch und Weitermachen, trotz alledem. Und
deswegen hätte Siegmar Buchwald vom Bildungsverein "Elbe-Saale" kaum einen
besseren Ort wählen können als hier das Rive-Ufer,
um seinen Begleitern etwas von dem rebellischen Geist zu vermitteln, der Halle
einst zu jenem "roten" Halle gemacht hat, in das sich ein Adolf Hitler nie
getraut hat. Aus Serpuchow sind die Gäste
angereist, das ist eine Industriestadt vor den Toren Moskaus, und in Halle
wollen sie Schach spielen, gegen eine deutsche Auswahl. Und doch geht es
gleichzeitig um sehr viel mehr: Das Treffen soll eine fast
vergessene Tradition der sozialistischen Bewegung
wiederbeleben. Das Arbeiterschach.
Mental fit am Brett für den
Klassenkampf
Ob Fritz Weineck jemals die
Holzfiguren über das 64-Felder-Brett geschoben hat, ist nicht überliefert.
Aber die Haltung des Hallensers, der sein Leben gab als überzeugter Kommunist,
ist die Gleiche gewesen, die einen Robert Oehlschläger
vor gut hundert Jahren in Brandenburg an der Havel einen Schachklub gründen
ließ, der sich ausdrücklich an die Werktätigen wandte.
Erklärtes Ziel:
Geistiges Training beim strategischen Spiel sollte mental fit machen für den
antikapitalistischen Kampf. Wie es ein Manifest aus jenen Tagen formuliert:
"Die Arbeiter-Schachspieler gliedern sich ein in die rote Klassenfront, die
den Befreiungskampf des Proletariats führt."
Arbeiterschacholympiade Wien 1931
Aus bescheidenen Anfängen wuchs eine schlagkräftige Organisation, die zu ihren
Glanzzeiten mehr als 10000 Mitglieder zählte. Bis zum Sieg der
Nationalsozialisten 1933: Die verboten alle Arbeiterschachvereine,
kommunistische und jüdische Aktivisten wurden in KZ's
verschleppt und ermordet.
Ein historischer
Hintergrund, den Arndt Willeke zum Auftakt der deutsch-russischen Begegnung an
diesen Frühlingstagen in Halle in einem Vortrag nachzeichnet. Der 47-jährige
aus dem niedersächsischen Seesen handelt im
Vermächtnis seines 2001 verstorbenen Vaters Gerhard, der als erster die
Geschichte des deutschen Arbeiterschachs in einer Monographie zusammengefasst
hat.
Verwaltet den Nachlass seines Vaters: Arndt Willeke (rote
Jacke) hat die Brücke geschlagen zu den Veteranen des russischen
Arbeiterschachs in Serpuchow (rechts: der Präsident der Schachfederation
Serpuchow, Viktor Schekin)
Das Buch ist im Wesentlichen eine fleißige Materialsammlung, und dass es
plötzlich eine derart große Beachtung erfährt, "darüber würde Vater staunen",
da ist sich Arndt Willeke sicher.
Arbeiterschach-Historiker
Gerhard Willeke
Den entscheidenden Anstoß
hatte die russische Seite gegeben. Zufällig fand Viktor
Schekin, Leiter der Delegation aus Serpuchow,
Dokumente in den Archiven, die über einen denkwürdigen Ausflug nach Westen
berichteten: einen Schachwettkampf 1925 in Berlin zwischen sowjetischen und
deutschen Genossen. Danach war, bedingt durch die Zeitläufe, die Verbindung
abgerissen, und genau das weckte den Ehrgeiz des energischen Mittsiebzigers
mit der wilden weißen Tolle eines Filmstars. Er fragte an beim Moskauer Büro
der Rosa-Luxemburg-Stiftung, ob die vielleicht versprengte Veteranen des
deutschen Arbeiterschachs ausfindig machen könnte. Die Stiftungsleute wandten
sich an das Sport- und Serviceressort des "Neuen Deutschland". Das ND stellte
den Kontakt her zu Arndt Willeke, der rief seinen Verleger Godehard
Murkisch an, und der startete einen Rundruf. Der
Stein kam ins Rollen, im Dezember 2005 reiste eine Abordnung aus
Deutschland nach Serpuchow - und gewann mit
4:1-Punkten das verspätete Replay nach der
3,5:1,5-Niederlage vor achtzig Jahren.
Die Jugend übernimmt das Banner: Arbeiterschach-Nachwuchs in
Serpuchow
So hatten sich die Russen
das Rückspiel freilich nicht vorgestellt.
Seine Männer kriegten beim Heimspiel in Serpuchow von den
deutschen Gästen eine Packung: Viktor Schekin (links), Boss der
Arbeiterveteranen in Serpuchow
Zumal sie einiges zur
Unterstützung der Heimatfront aufgeboten hatten, einen Helden der Sowjetunion
inklusive, den hoch dekorierten ehemaligen Kosmonauten Viktor
Wassiljewitsch Gorbatko.
Mannschaftskapitän Schekin forderte deswegen
"unblutige Revanche auf deutschem Boden", und die sollten er und seine
Kameraden jetzt in Halle kriegen. In der einstigen Hochburg der
sozialistischen Bewegung, berühmt nicht nur wegen dem "Kleinen Trompeter"
Fritz Weineck, sondern auch wegen der erbitterten Kämpfe am Galgenberg 1921,
als viele Arbeitermilizionäre fielen im Widerstand gegen die Kapp-Putschisten.
Herzloses Rendevouz mit
Jung-Aljechin
Rosa-Luxemburg-Stiftung und
der Bildungsverein "Elbe-Saale" organisieren den Gegenbesuch. Zwar kann
Serpuchow 2007 nur drei Kader mobilisieren,
außerdem hat Kosmonaut Gorbatko keine Zeit, dafür
schließt sich dem russischen Team ein Botschafter a.D.
an: Rostislaw Sergeew,
der schon während der Besuche von Adenauer und Ulbricht 1955 in Moskau
gedolmetscht hat und später in Mexiko stationiert war. Auch einen Vertreter
der jungen Generation bieten die Russen auf, den erst zehnjährigen Alexander
Shestun. Der Knabe eifert, wie er vor Matchbeginn
fröhlich mitteilt, einem großen Vorbild
nach, nämlich dem unvergessenen Weltmeister
Aljechin.
Die Anwesenheit des
Aljechin-Jüngers bereitet den Deutschen einiges
Kopfzerbrechen. Der Freundschaftskampf wird ausgetragen in Halles Neustadt mit
einer Hin- und Rückrunde an zwei aufeinanderfolgenden
Abenden im Hotel "InterCity", aber am ersten Spieltag findet sich kein
gleichaltriger Herausforderer für Alexander Shestun.
Sprang ziemlich ungalant mit Dolmetscherin Valentina Veremeenko (rechts) um:
Jung-Talent Alexander Shestun (links) aus Serpuchow.
Foto: Roland Neubert
Ersatzweise bittet der
Dreikäsehoch die Dolmetscherin Valentina Veremeenko
zum Schachrendezvous und fertigt seine Partnerin anschließend ziemlich
ungalant und herzlos ab. Erst am nächsten Abend gelingt es dem deutschen
Teamchef Anton Csulits, die Nachwuchshoffnung Leo
Kämpfe herbeizutelefonieren, und der stoppt - vorerst - den Höhenflug von Aljechin
Nr. 2. Die Partie wird trotzdem nicht gewertet, wegen Totalausfalls der
Hinrunde am Jugendbrett.
Den großzügigen Verzicht auf
einen Punkt kann sich die deutsche Seite leisten. Halle ist ein heißes
Pflaster, die Russen kriegen das zu spüren, vor allem energische Vorstöße über
den linken Flügel machen ihnen schwer zu schaffen. 4:2 heißt es am Ende für
die deutschen Arbeiterveteranen, eine schmerzhafte Niederlage, die von den
Männern aus Serpuchow trotzdem sportlich und
locker weggesteckt wird. Zum mehrtägigen Besuchsprogramm gehörte nicht nur
Schach, sie haben die Orte gesehen, an denen sich die Extrem- und Wendepunkte
der deutschen Geschichte spiegeln: Kaiser Wilhelm hoch zu Ross auf dem
Kyffhäuser, das Marx-Engels-Denkmal in Berlin. Und nun holen sie aus dem
Gepäck einen Plan heraus, der ein Zeichen setzen soll im deutsch-russischen
Dialog.
"Wir wünschen uns, dass der
Austausch, der zwischen deutschen und russischen Arbeiterschachsportlern in
Gang gesetzt worden ist, keine Episode bleibt", sagt
Serpuchows Sprecher Viktor Schekin, nachdem
die Schachuhren abgestellt worden sind. Sein Vorschlag: die Gründung eines
grenzüberschreitenden Schachverbundes aus Sachsen-Anhalt und der Region
Serpuchow. Das Ziel: "Die älteren Spieler sollen
die Jungen motivieren und anleiten, um den gemeinsamen Sport zu pflegen und
die deutsch-russische Partnerschaft auszubauen."
Schach
macht Politik
Ein Vorstoß, der mehr ist
als bloß ein Versuchsballon. Schließlich ist die Liebe zum Schach eher ein
nachgeordneter Grund, warum der einstige
Botschafter Rostislaw Sergeew,
der immerhin auch schon das 80. Lebensjahr vollendet hat, die Delegation aus
Serpuchow begleitet. Sergeew
gehört der "Außenpolitischen Vereinigung" an, die 1991 in Moskau gegründet
worden ist und deren erster Staatspräsident der einstige russische
Außenminister und spätere georgische Staatschef Eduard
Schewardnaze war. Gerade in Zeiten, da sich - siehe die aktuellen
Raketenpläne der Amerikaner in Polen - ein neuer Ost-West-Konflikt abzeichnet,
könnte der Brückenschlag von Halle nach Serpuchow
Symbolkraft entfalten, resümiert der erfahrene Diplomat. Ein geopolitischer
Zusammenhang, auf
den auch Siegmar Buchwald vom Bildungsverein "Elbe-Saale"
hinweist; der hofft, dass
die Rosa-Luxemburg-Stiftung entsprechend reagiert und die Idee auf die
bi-laterale Ebene hebt.
Anton
Csulits, Teamchef der deutschen Arbeitersportler und gleichzeitig
Geschäftsführer des Landesschachverbandes Sachsen-Anhalt, kündig an, dass er
das Projekt in den zuständigen Gremien vortragen wird. Schach macht Politik,
eine Dimension, die der Sohn des Arbeiterschach-Chronisten Willeke "äußerst
spannend" findet: "Schach verbindet die Völker, das ist toll!"
Und vielleicht rückt dann
sogar - auf dem eigentlich unwahrscheinlichen Umweg über ein uraltes Spiel -
auch etwas näher die Vision aus der letzten Strophe des Trompeterliedes, das
Siegmar Buchwald über die Saale hat klingen lassen: "Ihr Brüder, seid immer
bereit! / Wir werden nicht ruhen, nicht rasten, / bis die Welt ist vom Elend
befreit."